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Mord an Martin Luther King: Was Schwarz und Weiß in den USA bis heute trennt


50 Jahre Mord an Martin Luther King
Was Schwarz und Weiß in den USA bis heute trennt

dpa, Michael Donhauser

04.04.2018Lesedauer: 8 Min.
Demonstranten in Memphis (US-Staat Tennessee): Bürgerrechtler beklagen 50 Jahre nach dem Mord an Martin Luther King eine Diskriminierung von Afroamerikanern.Vergrößern des Bildes
Demonstranten in Memphis (US-Staat Tennessee): Bürgerrechtler beklagen 50 Jahre nach dem Mord an Martin Luther King eine Diskriminierung von Afroamerikanern. (Quelle: Archivbild/Mike Brown/EPA/dpa-bilder)

Heute vor 50 Jahren wurde der amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King ermordet. Seither hat sich für Afroamerikaner in den USA vieles verbessert. Doch das soziale Gefälle zwischen Schwarz und Weiß besteht bis heute. Eine Erkundungstour.

Die Fahrt geht vorbei an Bauten, die aussehen wie Häuser von Besitzern von Baumwollplantagen. Wie kleine Paläste reihen sich die Villen im Nobelviertel Central Gardens entlang der Central Avenue aneinander, eingefasst von hohen Hecken, beschattet von alten Weißeichen. Die Eingangsportale sind von Säulen gesäumt – Memphis, ein Südstaatenidyll.

Charlie Morris wohnt weiter draußen. Flachbau-Bungalows prägen hier das Bild der rechtwinklig angelegten Straßen. Die Autos vor den Garagen sind kleiner, rostiger. Memphis ist seine Heimat, geboren wurde er etwas außerhalb, in Arlington. Für ein paar Jahre hat es ihn nach New Jersey verschlagen. 97 Jahre ist Charlie alt. Das Haar ist weiß, der Schritt schwer. Ein Rollator hilft ihm durch den Alltag.

Zwischen den Anwesen in Central Gardens und Charlie Morris' Viertel liegen nur zehn Autominuten – und eine Farbe. Die Villengegend wird vorwiegend von Weißen bewohnt. Charlie Morris und seine Nachbarn sind Afroamerikaner, wie zwei Drittel der Menschen in der Stadt, wo Soul-Legenden wie B.B. King zu Hause waren. 50 Jahre nach der Ermordung des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King jr. ist die Trennung nach Hautfarben in den USA per Gesetz längst Geschichte.

Doch die Lebensumstände der schwarzen Minderheit haben das Niveau der weißen Mehrheit noch immer nicht erreicht. "Das ist Amerika", sagt Professor André Johnson von der Universität Memphis. Die Gründe sind vielfältig. Versteckter Rassismus ist einer. Der Ku-Klux-Klan darf marschieren, politische Korrektheit ist vielerorts eher Fassade. Die schwarze Minderheit sei zum ständigen Kampf gezwungen. "Solange wir kämpfen, besteht Hoffnung, dass spätere Generationen über Dinge, über die wir heute reden, nicht mehr reden müssen."

In Memphis lebt die Erinnerung an Reverend King

In Memphis im US-Südstaat Tennessee, wo Martin Luther King am 4. April 1968 auf dem Balkon seines Hotelzimmers erschossen wurde, wird vieles noch deutlicher als in anderen Gegenden. Die Stadt und das Land feiern den Bürgerrechtler. Besucher aus aller Welt kommen, um das Civil Rights Museum zu besuchen, eingerichtet in jenem Lorraine Motel, in dem King starb.

Charlie Morris gehört in diesen Tagen in Memphis zu den Stars. Er hat eine Geschichte zu erzählen, wie sie nicht mehr viele Afroamerikaner aus eigener Erfahrung weitertragen können. Geist und Erinnerung des 97-jährigen könnten wacher nicht sein.

"Das Telefon klingelte, meine Tante rief an", berichtet er vom Jahr 1939. Damals war er 18, sein Bruder Jesse Lee Bond war 20. Die Tante erzählte ihm von dem Geschehen, das Charlie Jahrzehnte fesseln sollte. Jesse Lee hatte sich mit einem weißen Händler gestritten, weil der ihm keine Rechnung für Saatgut ausstellen wollte. "Plötzlich fielen Schüsse", sagt Morris. Anschließend sei die Leiche seines Bruders geschändet worden. "Sie haben ihn kastriert", berichtet er mit unaufgeregter Stimme, als er im Morgenmantel in seinem Wohnzimmer sitzt. Stapel von Büchern und alten Zeitschriften türmen sich in dem Häuschen.

Lynchmorde wurden verschwiegen

In der Hand hält Charlie Morris die Sterbeurkunde seines Bruders: "Tod durch unfallbedingtes Ertrinken" steht dort. "Meiner Tante haben sie erzählt, sie werde ihren Job als Lehrerin verlieren, wenn sie die Wahrheit sagt, vielleicht auch ihr Leben", erzählt er. Die Tante war eine der wenigen Zeugen des auf offener Straße verübten Mordes.

Der Tod Bonds gehört zu den mehr als zwei Dutzend Fällen von Lynchjustiz gegen Schwarze, die heute allein im Umkreis von Memphis historisch belegt sind, juristisch aber nie gesühnt wurden. Eine Gruppe von Bürgerrechtlern versucht nun, in dem Projekt "Lynching Sites Memphis" Gedenkstätten zu schaffen.

Diese Lynchmorde zählen weiter zu den heftigsten Beispielen für das auch 50 Jahre nach Martin Luther King wohl größte gesellschaftliche Problem der USA: die Ungleichheit zwischen Schwarzen und Weißen. Die staatliche Vertuschung von rassistisch motivierten Gewaltverbrechen gehört zwar weitgehend der Vergangenheit an. Dafür, dass sie ganz ausgelöscht ist, legt aber kaum jemand die Hand ins Feuer.

Schwarze sind häufiger arbeitslos, verdienen weniger

Noch spürbarer: die soziale Ungleichheit. "Man kann sich jede Statistik hernehmen, die man möchte: Die Schwarzen landen immer am Ende", sagt Professor André Johnson.

Die Arbeitslosenrate schwarzer US-Bürger hat sich in jüngster Zeit derjenigen der Weißen angenähert, liegt aber immer noch fast drei Prozentpunkte höher. Schwarze haben ein deutlich niedrigeres Haushaltseinkommen. Einen Highschool-Abschluss schaffen fast 90 Prozent der weißen Jugendlichen, aber nur 75 Prozent der Afroamerikaner.

Am deutlichsten wird das Problem beim Vermögen, das über Generationen weitervererbt wird: Weiße Familien haben im Schnitt einen Grundstock von 919.000 Dollar (rund 740.000 Euro), schwarze nur einen von 140.000 Dollar. Das ist eine weitaus größere Diskrepanz als noch im Jahr 1963. "Die Schwarzen starteten in diesem Land als Sklaven, sie hatten nichts. Das wirkt sich bis heute aus", sagt Professor Johnson.

Martin Luther King jr. hatte das erkannt. Mit seiner Poor People's Campaign machte er sich für höhere Einkommen Schwarzer stark und für mehr Jobs. Andere Bürgerrechtler, darunter Malcolm X (1925–1965), gaben seiner gewaltlosen, auf Dialog mit der Mehrheit setzenden Strategie keine Chance. Diese Fraktion warb für harte Konfrontation.

Ronald Moten ist ein Cousin von Malcolm X. Der 48-jährige lebt in Anacostia, im rauen, oft vernachlässigten Südosten Washingtons. Die US-Hauptstadt ist zu mehr als der Hälfte von Schwarzen bewohnt, in Anacostia sind es 99 Prozent. Auf der Martin-Luther-King-Jr.-Avenue betreibt er einen kleinen Laden, dort, wo die Straße die Good Hope Road kreuzt. Guter Hoffnung ist der drahtige Endvierziger jedoch nicht: "Es wird immer schlimmer", sagt Moten, der sich seit Jahrzehnten für Chancengleichheit in dem Stadtteil einsetzt, der ein Brennpunkt für Drogenkriminalität und Gewaltverbrechen ist.

Frustration, Rassismus, Selbstaufgabe

Moten kennt das Leben auf der Straße, an den Rändern der großen US-Städte. Der Händler weiß um die kurzfristige und um die langfristige Wirkung von Drogen, er kennt Bandenkriege und das Leben im Gefängnis. Er beschreibt eine desaströse Mischung aus Frustration, verstecktem und offenem Rassismus – teils gepaart mit Trägheit und Selbstaufgabe.

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"Ich habe einer Frau neulich einen 72 000-Dollar-Job angeboten", erzählt er in seinem Geschäft, leger auf dem Ladentisch sitzend, eine Baseballmütze schräg auf dem Kopf. "Sie will lieber weiter auf Kosten des Staates leben." Schwarze sind nicht generell von vornherein sozial schwächer gestellt als Weiße. Ihre Chance, in soziale Niederungen abzugleiten, ist aber deutlich höher.

Trotz all dieser Probleme: Das schwarze Amerika gehört unverrückbar zu den Vereinigten Staaten. Martin Luther Kings Geburtstag wird als gesetzlicher Feiertag begangen. In der Fernsehwerbung achten Produzenten genau darauf, dass die schwarze Minderheit im Bild nicht zu kurz kommt.

40 Millionen Menschen dunkler Hautfarbe leben in den USA. Viele sind erfolgreich, manche werden berühmt. Der dunkelhäutige Barack Obama wurde für zwei Amtszeiten zum Präsidenten der über 325 Millionen Einwohner gewählt – nur wenige Jahrzehnte, nachdem mit der Abschaffung der Jim-Crow-Gesetze die Segregation der Schwarzen gesetzeswidrig wurde. Davor hieß es noch "gleichberechtigt, aber anders": Schwarze mussten im Bus aufstehen, wenn sich ein Weißer setzen wollte. Und sie durften nicht aus demselben Wasserhahn trinken.

Heute hat sich vieles gewandelt, vieles zum Positiven. Doch nicht alles ist gut. Es kommt weiter vor, dass Leistungen Schwarzer nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Die Jack-Daniel's-Brennerei in Lynchburg in Tennessee ist ein Beispiel. Firmengründer Daniel hatte einen ehemaligen Sklaven als ersten Master Distiller angestellt. Auf einem alten Foto, aufgetaucht in den 1980er Jahren, sitzt ein junger Afroamerikaner neben dem Chef – vermutlich der Sohn dieses schwarzen Whiskey-Machers.

Jack Daniel's wirbt in aller Welt mit Südstaaten-Gemütlichkeit. Doch der schwarze Meisterbrenner Nathan "Nearest" Green, Vater des Jack-Daniel's-Rezepts, wurde lange nicht groß erwähnt. "Wir haben das nicht verschwiegen", beschreibt Firmenhistoriker Nelson Eddy den Umgang mit diesem Teil der Geschichte. Erst seit vergangenem Jahr wird davon offen erzählt.

Schulbildung ist Schlüssel für den Aufstieg Schwarzer

"Es ist besser geworden", urteilt Allison Jones. Sie arbeitet an einer Montessori-Schule im Herzen Washingtons, wo Kinder aller Hautfarben lernen und toben. Sie lebt im Stadtteil Columbia Heights, einst vor allem von Afroamerikanern bewohnt und für Besucher gefährlich. Heute ist das Gebiet teuer und angesagt, weiße Hipster feiern in Bars mit afroamerikanischen Gleichgesinnten.

Allison hat weiße Freunde und Nachbarn, spricht mehrere Sprachen. "Ich bin privilegiert", sagt sie. "Meine Eltern waren gebildet." Schulbildung bleibt der Schlüssel für den Aufstieg Schwarzer.

Weiße hören schwarze Musik, lassen sich von schwarzen Ärzten operieren, von schwarzen Köchen verwöhnen und vertrauen ihr Geld schwarzen Bankern an. Sie jubeln im Sport schwarzen Stars zu, die Tennisspielerin Serena Williams ist ein Beispiel – und natürlich der Größte: Boxer Muhammad Ali.

Am Ursprungsort seiner Karriere, im Columbia Gym von Louisville in Kentucky, trainiert heute der sportliche Nachwuchs der Spalding-Universität. In dem historischen Gründerzeitbau, wo Muhammad Ali, damals noch unter seinem Geburtsnamen Cassius Clay, in den Ring stieg, schwitzen heute junge Schwarze. Der staubige Ring ist einem modernen Kraftraum gewichen.

Alexa möchte Trainerin werden, für welche Sportart, weiß sie noch nicht. "Etwas mit ein bisschen Schwung", sagt sie. Die 21-jährige hat Ali nie kennengelernt, dennoch ist sie von dem Boxer inspiriert. "Wir wissen, dass wir vieles erreichen können, wir wissen aber auch, dass wir unter Umständen doppelt so hart dafür arbeiten müssen", sagt sie.

Subtiler Rassismus, den man "fast nicht sehen kann"

Pastor Dennis Washington von der Anacostia River Church in Washington kennt das nur zu gut. "Wahlbezirke und Schulsprengel werden so zugeschnitten, dass die Schwarzen außen vor bleiben", sagt er. Mindestlöhne werden umgangen. Washington spricht von "rassistischem Terror", dem Afroamerikaner ausgesetzt seien. "Es wird auf eine Art und Weise gemacht, dass man es fast nicht sehen kann", sagt er.

Junge Schwarze würden geradezu in die Kriminalität getrieben – und dann vom System verschluckt. "Erst bekommen sie wegen eines kleinen Deliktes eine Fußfessel. Das ist oft der erste Schritt", sagt Washington. Dann finden sie keine Freunde mehr, keine Berufsausbildung – und rutschen ab.

Junge Schwarze werden auch viel häufiger grundlos von der Polizei gestoppt, müssen ihre Papiere zeigen, manchmal werden sie aufs Revier mitgenommen. Und manchmal werden sie erschossen, wie jüngst in Sacramento, wo Polizisten 20 Schüsse auf einen jungen Schwarzen in dessen Garten abgaben. Sie dachten, er hätte eine Waffe. Es war aber nur ein Handy.

Afroamerikaner werden häufiger wegen Mordes verurteilt

Sacramento ist kein Einzelfall, und die Polizei ist nicht die einzige Strafverfolgungsbehörde, die sich irrt, besonders, wenn es um Afroamerikaner geht. "Es gibt Studien, die besagen, dass Afroamerikaner mit einer siebenmal höheren Wahrscheinlichkeit wegen Mordes verurteilt werden als Weiße", sagt die Strafverteidigerin Cheryl Pilate aus Kansas im US-Bundesstaat Missouri. Ihr Mandant Lamonte McIntyre kam gerade nach 23 Jahren Tortur aus dem Gefängnis frei. Er hatte nichts getan. Die Gesetze Missouris sehen keine Haftentschädigung vor.

Im Vergleich zu Cornelius Duprée hatte er trotzdem noch Glück. 1979 kaufte der heute 58-jährige ein paar Bier in einem Laden in Houston (Texas). Als er herauskam, stand die Polizei vor ihm. Wegen Vergewaltigung und schwerer räuberischer Erpressung brummte ein Gericht dem 19 Jahre alten Jungen 75 Jahre Haft auf. 30 lange Jahre dauerte die Qual des Unschuldigen. Dann ergab eine DNA-Probe, dass er es nicht gewesen sein konnte. Das macht Duprée zu dem Menschen, der am längsten nachweislich unschuldig in einem US-Gefängnis saß.

Die Haftanstalten zwischen Florida und Alaska sind voll. Kein anderes freies Land der Welt steckt einen so hohen Anteil seiner Bevölkerung ins Gefängnis wie die USA. Schwarze machen 35 Prozent der Gefängnisinsassen aus, jedoch haben nur rund 13 Prozent der Bevölkerung eine dunkle Hautfarbe. "Du kommst aus einer freien Gesellschaft, und im Gefängnis hast du kaum noch Rechte", sagt Duprée. "Du wirst behandelt wie ein Tier."

Cornelius Duprée aus Houston und Charlie Morris aus Memphis eint eines, das sie nie hat aufgeben lassen: "Auf mich muss kein Mensch achten, Gott achtet auf mich", sagt Morris. Gottesfürchtigkeit und frommes Leben lässt unzählige Schwarze besser ertragen, was sie als große Chancenungleichheit ansehen. Als Morris als Teenager vom Tod seines Bruders erfuhr, schnappte er sich eine Pistole und wollte sich rächen. "Meine Mutter hat es mir ausgeredet." Neun Jahre lang sei er voller Hass gewesen. "Dann habe ich zu Gott gefunden." Heute sagt er über sein Leben: "Ich kann mich nicht beschweren."

Verwendete Quellen
  • dpa
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