Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Migrationsdebatte im Bundestag Hoffentlich hat das kein Wähler gesehen
Sechs Stunden verhandelten und debattierten Deutschlands Spitzenpolitiker gestern im Bundestag über die Migrationspolitik der Zukunft, erst hinter verschlossenen Türen, dann öffentlich. Jede einzelne Minute tat weh. Eine wütende Polemik.
Das Hochamt des Parlamentarismus wird gern beschworen, wenn es im Bundestag um das große Ganze geht, um die Zukunft des Landes und die drängendsten Fragen seiner Menschen. In die Tiefe soll es dann gehen, um überzeugende Argumente und Gegenargumente. Soweit die Theorie. Die Praxis sieht 2025 so aus: Die Redeschlacht über ein Gesetz zur Begrenzung der illegalen Migration am Freitag griff nicht tief. Sie ging nur bergab. Die Debatte war ein Debakel. Hoffentlich haben möglichst wenige Wähler sie gesehen. Bestenfalls keiner.
Denn was an diesem Freitag im Bundestag geschehen ist, diesem Hort der demokratischen Mitte, war Werbung für seine Ränder. Union, SPD, Grüne und Linke zerlegten sich selbst, einander und gegenseitig in einem ganz und gar unwürdigen Schauspiel. In den Hauptrollen: Erpresser, Egoisten, Eiferer.
CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz ging all-in – und verlor. Merz wollte keine Mehrheit, er wollte die totale Kapitulation aller Ex-Ampler vor seinem Gesetzentwurf: Keine Kompromisse! Fresst oder sterbt! Meins oder keins! Ihr stimmt zu, oder die AfD! Kein Wunder, dass sich Sozis und Grüne so nicht über den Tisch mobben lassen wollten. Merz drohte mit den Spechten der Brandmauer, und er verlor. Hoch.
Das Gesetz, an dessen sofortige, unbedingte Notwendigkeit sich der Sauerländer angeblich nach der Bluttat von Aschaffenburg (warum eigentlich erst da?) erinnerte? Abgelehnt, mit Ansage, weil er SPD, Grüne und weite Teile der FDP rüpelig verprellt hatte. Das Vertrauen vieler Wähler? Verspielt. Zu ungeniert hatte Merz unter dem Tisch mit der AfD "gefüßelt", während er sie übers Redepult durchschaubar schmähte. Die Geschlossenheit der eigenen Fraktion? Verzockt.
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Gleich 12 CDU-Abgeordnete stimmten nicht mit ihrem eigenen Kanzlerkandidaten: Ein Dutzend schallende Ohrfeigen für einen, der außen mit allen Mitteln und überall nach Mehrheiten sucht, während ihm der eigene Laden nun um die Ohren zu fliegen droht. Wer so lausig pokert, der kann eben kein Kanzler. Den fressen Trump und Putin zum Frühstück.
Nicht mit Mützenich!
SPD und Grüne hätten Merz aus der Sackgasse helfen können, in die er sich mit seiner asylpolitischen Erpressung geirrlichtert hatte. Hätten sie mit Merz gestimmt, wäre die Brandmauer zwischen CDU und AfD weniger geschliffen und die bürgerliche Mitte im Parlament gestärkt worden. Aber Schaden von der Demokratie abwenden und womöglich dem Willen der Mehrheit der Deutschen entsprechen (nämlich den unkontrollierten Zustrom von Migranten nach Deutschland begrenzen). Nicht mit SPD-Fraktionschef Mützenich.
Dem war kein Empörungs-Pathos zu klebrig: "Sündenfall", "Tor zur Hölle" – darunter machte es Mützenich nicht, während ihm gleichzeitig diebische Freude aus allen Poren drang. Merz' Vabanquespiel mit den Rechten dürfte wie Benzin für den stotternden Wahlkampfmotor von SPD und Grünen wirken: Endlich war es erschienen, das Schreckgespenst einer schwarz-blauen Koalitionsregierung. Nichts eint so sehr wie ein gemeinsamer Feind. Ab auf die Marktplätze damit. Die Sorgen der Bürger vor Migrationsdruck und Gefahr für die innere Sicherheit? Wen juckt's, wenn man noch immer vom Kanzleramt träumt, Scholz hin oder her.
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Die FDP zeigte zumindest, dass sie die Möglichkeiten unseres Regierungssystems durchblickt. Ihre Idee war pfiffig, den Gesetzentwurf der Union im Innenausschuss für SPD und Grüne zustimmungsfähig aufzuhübschen. Aber auch das geschah aus der Not heraus: Zu viele Abgeordnete aus den eigenen Reihen drohten, der Parteiführung nicht zu folgen und gegen das Gesetz zu stimmen. Von Einigkeit auch bei den Liberalen keine Spur. Und dass sich Fraktionschef Dürr versehentlich neben dem erstarrten Christian Lindner schon als Partei-Chef ausrief, war einer der wenigen wirklich heiteren Momente dieses ansonsten tristen Tages. Alle zarten Hoffnungen auf einen Kompromiss zerdepperte allerdings stante pede die SPD, indem sie von Merz eine Entschuldigung für seinen AfD-Flirt forderte. Am Anfang eines Ausgleichs steht nur selten eine Demütigung. Mützenich weiß das natürlich, deshalb forderte er sie ja.
Knatsch, Klein-Klein und Kindereien
Der Rest des Debattenmarathons glich einem Eltern-Streit in einer Kita-Whatsapp-Gruppe: Knatsch, Klein-Klein und Kindereien. Die von Zwischenrufen überraschend angefasste Außenministerin Annalena Baerbock musste energisch des Rednerpodiums verwiesen werden (ausgerechnet von ihrer Parteikollegin, Bundestagsvizepräsidentin Göring-Eckhardt), weil sie ihre Redezeit überzog. Thorsten Frei, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, warf ihr "Lügengeschichten" vor, weil sie behauptet hatte, die Union habe im September Verhandlungen über die künftige Flüchtlingspolitik abgebrochen.
Baerbock, immerhin Deutschlands oberste Diplomatin, verlor völlig die Contenance: "Dass Männer, wenn sie nicht mehr weiterwissen, mit dem Wort 'Lüge' um sich werfen, das bin ich schon gewohnt", giftete sie zurück. Na prima! Ein bisschen Geschlechterkrieg hatte diesem Zugunglück von einer Debatte gerade noch gefehlt. "Parlamentarier am Rande des Nervenzusammenbruchs", so beschreibt es Christoph Schwennicke, Politikchef bei t-online, treffend.
Die Dämme brachen bei allen in diesem Debattendebakel. AfD-Mann Baumann nannte seine Partei die "Erlöser Deutschlands". Merz bewarb sich mit seiner Behauptung, in Deutschland gäbe es täglich Gruppenvergewaltigungen für einen intensiven Faktencheck. Und auf der Regierungsbank thronte zwischen den leeren Plätzen von Kanzler und Vizekanzler die Biografie von Angela Merkel als stille Provokation für Friedrich Merz. Wer solche Spielchen nötig hat, der hat am 23. Februar wirklich Wählerkeile verdient.
Weniger Sache war selten, weniger Lösung nie
Nach diesem Trauerspiel dürften sich viele Deutsche fragen, wo sie um Himmels willen am 23. Februar ihr Kreuzchen machen sollen. Weniger Inhalt war selten, weniger Lösung in Sicht nie. Deutschland ist nach dieser Woche kein bisschen besser, klüger, sicherer geworden. Verlierer auf allen Bänken – einzig die AfD verschluckte sich mutmaßlich vor Lachen am Popcorn angesichts der Selbstzerfleischung der demokratischen Kräfte im Bundestag. "Wir schaffen das", hatte die Alt-Bundeskanzlerin 2015 über den Migrationsdruck gesagt. Aber nicht mit diesen Politikern.
- Eigene Beobachtungen der Bundestagsdebatte zur Migration am 31.1.2025.