Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Migrationskonflikt mit der EU Belarus' nächster Tabubruch gefährdet Menschenleben
Tausende Migranten harren in Belarus aus, das Regime will einige von ihnen nun wieder zurückschicken. Auch einer syrischen Familie droht die Abschiebung in ihre Heimat – sie fürchtet dramatische Konsequenzen.
Bahira H. weint. Sie sitzt in einem belarussischen Hotelzimmer, nur wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Einen Monat hat sie im Wald verbracht, versuchte immer wieder in die EU zu gelangen. Dann fiel Schnee, die 61-Jährige konnte nicht mehr dortbleiben.
Die Soldaten ließen sie in die nächste Stadt, dort checkte sie mit ihrem erwachsenen Sohn Anas in ein Hotel ein. Auf die Erleichterung aber folgte eine Hiobsbotschaft: Sie und ihr Sohn wurden zur Polizeiwache zitiert. Viel verstanden sie nicht, vor allem nicht das knapp 30-seitige Dokument, das sie unterschreiben mussten. In einer Sache wurden die Beamten aber deutlich: Bahira H. und ihr Sohn sollen nach Syrien abgeschoben werden.
So erzählen es Bahira und Anas H. in einem Videotelefonat mit dem in Deutschland lebenden Bruder Faris H. und t-online. Ihre echten Namen sind der Redaktion bekannt, wurden auf ihren Wunsch hin in diesem Text aber geändert. Von den Papieren, die sie bei der Polizei unterschreiben mussten, bekamen sie keine Kopie. Ihr Visum, das t-online vorliegt, ist schon seit mehr als drei Wochen abgelaufen. Solange sie aber im Wald waren und regelmäßig zur Grenze liefen, interessierte das die belarussischen Behörden nicht.
Schwere Menschenrechtsverletzungen in Syrien
Faris H. befürchtet nun, dass die Rückkehr nach Syrien für seine Mutter und seinen Bruder tödlich enden könnte. Er selbst ist vor knapp zehn Jahren von der Armee desertiert und nach Deutschland geflohen. Seine Mutter habe daraufhin immer wieder Besuch vom Geheimdienst bekommen, verkaufte immer mehr Land, um Schutzgeld zu zahlen.
Der syrische Geheimdienst ist für seine Grausamkeit bekannt. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass Rückkehrern massive Gewalt und auch der Tod droht. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International etwa dokumentierte Fälle, in denen der Geheimdienst Rückkehrer folterte, sexuell misshandelte und tötete. Andere verschwanden spurlos.
"Syrien ist nicht sicher. Nirgends", heißt es in dem Bericht von September. Und: Jede Rückführung nach Syrien verstößt gegen das Non-Refoulment-Verbot, ein Prinzip aus der Genfer Flüchtlingskonvention. Es verbietet, Menschen in Länder zu schicken, in denen ihnen Gewalt droht. Auch Belarus hat die Konvention unterschrieben. Die Regierung ließ eine Anfrage von t-online dazu unbeantwortet.
"Es schafft vielleicht einer von hundert"
Eigentlich war der Plan von Familie H., nach Belarus zu reisen und schnell nach Polen zu kommen. Von Bekannten haben sie von Fällen gehört, in denen das geklappt hat. Normalerweise bleiben die Migranten drei oder vier Tage in Belarus, dann sind sie oft schon in Polen und wiederum einige Tage später an ihren eigentlichen Zielen, in Deutschland, den Niederlanden oder Österreich.
- Geflüchtete prangern im Video an: "Der schrecklichste Ort zum Leben"
Diese Rechnung geht seit einigen Wochen nicht mehr auf, das hat auch Familie H. nun einsehen müssen. "Es schafft vielleicht einer von hundert", sagt Faris H. Und die, die es schaffen, seien junge Männer – aber nicht 61-jährige Mütter.
Lukaschenko fordert Geld von der EU
In den vergangenen Wochen hat die polnische Regierung ihre Grenze massiv hochgerüstet, nachdem immer mehr Menschen über Belarus in die EU kamen. Polen und die EU werfen Belarus vor, gezielt Migranten vor allem aus dem kurdischen Teil des Iraks nach Belarus reisen zu lassen, die das Land dann weiterschickt in die EU – aus Rache für Sanktionen. Zahlreiche Berichte beweisen das: Soldaten bringen die Menschen – auch unter Zwang – an die Grenze, wo es zu Zusammenstößen mit den polnischen Grenzsoldaten kommt.
Belarus' Machthaber Alexander Lukaschenko kritisiert seinerseits die EU und fordert, dass ihm das Geld für die Unterbringung der Migranten erstattet werden müsse. Deutschland habe die Menschen eingeladen, lautet seine Argumentation. Deshalb solle Deutschland sie nun auch aufnehmen.
Soldaten nehmen Essen und Trinken ab
Diesen Konflikt erfuhren Bahira und Anas H. am eigenen Leib. Schon vier Tage nach ihrer Ankunft in Minsk waren sie im Wald nahe der polnischen Grenze, campierten da mit mehr als hundert weiteren Migranten.
Beide berichten von Gewalt, Verletzungen und Elend. "Sie haben uns das Geld abgenommen, die Matratzen und Kleidung und sogar das Essen und Wasser", sagt Bahira H. Aus Verzweiflung hätten sie teilweise aus kleinen Bächen getrunken, nur ein paar Nüsse am Tag gegessen. Auch ihre Handys haben sie nicht behalten dürfen.
Ihre Schilderungen decken sich mit denen vieler anderer Migranten. Einmal kam eine belarussische Familie, wollte den Migranten im Camp Essen bringen. Die Soldaten schickten sie weg. "Belarus ist genauso eine Diktatur wie Syrien", sagt Bahira H.
Immer wieder kamen die belarussischen Soldaten in das Camp und schickten sie in Gruppen zur Grenze. An diesen Tagen bekamen die beiden ihr Mobiltelefon zurück, sie brauchten ja das GPS. An der Grenze aber erwarteten sie bereits polnische Soldaten. Beide berichten davon, dass die Soldaten sie geschlagen hätten – wie viele andere Migranten auch. Polen streitet solche Vorwürfe ab. Er habe die Soldaten angefleht, zumindest seine Mutter durchzulassen, sagt Anas H. Ohne Erfolg.
Tausende sind noch in Belarus
Vier Mal waren beide zusammen an der Grenze, vier Mal kehrten sie wieder zurück in den Wald. Dann fiel der Schnee – und die Soldaten ließen sie schließlich aus dem Wald. Gleich danach aber sei eine neue Gruppe gekommen, wieder mehr als hundert, die in diesen Tagen wahrscheinlich den polnischen Soldaten gegenüberstehen werden.
Rund 7.000 Migranten sollen derzeit Schätzungen zufolge noch in Belarus sein. Und obwohl die Situation an der Grenze für die Menschen immer dramatischer wird, treiben belarussische Soldaten sie immer wieder dahin. Polnische Grenzsoldaten berichten, dass die Versuche, die Grenze einzureißen, immer aggressiver würden. Gleichzeitig gibt es Berichte, dass Polen Menschen, die in das Land gelangen, gewaltsam wieder zurückschiebt.
Sie wissen, dass sie mitten in einem Konflikt gelandet sind
Das Lukaschenko-Regime hat bereits begonnen, Iraker wieder in ihre Heimat zu fliegen. Syrer sind bisher – nach allem, was bekannt ist – noch nicht abgeschoben worden. Ein Vertreter des belarussischen Innenministeriums sagte am Dienstag jedoch, dass die Botschaften mehrerer Länder – darunter auch Syrien – Rückführungsflüge für Bürger organisierten, die "sich in einer schwierigen Situation" befänden.
Gilt das nun auch für Bahira und Anas H.? Sie sind sich bewusst, dass sie mitten in einem politischen Konflikt gelandet sind. Dennoch hoffen sie auf Hilfe, vor allem aus Deutschland – und dass sie nicht gegen ihren Willen und trotz der Gefahr zurück nach Syrien geschickt werden.
Wenige Stunden nach dem Videotelefonat melden sich Bahira und Anas H. wieder bei Faris H. Sie mussten das Hotel wieder verlassen, sind nun auf der Straße. Die Besitzerin will keine Migranten mehr mit abgelaufenem Visum beherbergen.
- Eigene Recherche
- Videotelefonat
- Nachrichtenagenturen dpa und AFP
- Anfrage an belarussische Regierung
- Amnesty International: Syrien: Geheimdienste foltern zurückgekehrte Flüchtlinge