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Die Nerven liegen blank: Plant Putin einen Angriff auf die Ukraine?


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Plant Putin einen Krieg?
Die Nerven liegen blank


Aktualisiert am 24.11.2021Lesedauer: 6 Min.
Soldat bei einer Militärübungen in Russland: Der Kreml verlegt zwar Truppen in die Grenzregion zur Ukraine, aber eine Invasion wäre teuer für Moskau.Vergrößern des Bildes
Soldat bei einer Militärübungen in Russland: Der Kreml verlegt zwar Truppen in die Grenzregion zur Ukraine, aber eine Invasion wäre teuer für Moskau. (Quelle: imago-images-bilder)

Russland zieht Soldaten und Panzer an der ukrainischen Grenze zusammen. Die Vorwürfe der US-Geheimdienste wiegen schwer: Präsident Putin bereite einen Krieg vor. Was steckt wirklich dahinter?

Der Westen ist in Alarmbereitschaft: An der russisch-ukrainischen Grenze versammelt der Kreml knapp hunderttausend Soldaten und Panzer, im Weltraum schießt Moskau mit einer Rakete einen eigenen Satelliten ab. Russische Bomber, die mit atomaren Sprengköpfen bewaffnet werden können, fliegen nach Belarus oder werden von Nato-Kampfflugzeugen über der Nordsee abgefangen. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko erpresst die Europäische Union mit Flüchtlingen, mit Rückendeckung von Russlands Präsident Putin – das ist zumindest der westliche Blickwinkel.

Kurz: In den vergangenen Wochen verschärfte sich der Konflikt mit Russland gleich an mehreren Fronten, die Nerven liegen langsam blank.

Die Vorwürfe des Westens wiegen schwer. Die USA beschuldigen Putin, einen Krieg gegen die Ukraine zu planen. Während Washington erschreckende Details über einen möglichen Angriff nennt, bestreitet Moskau diese Pläne und wirft dem Westen "Hysterie" vor.

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Tatsächlich kann sich Russland einen Krieg in der Ukraine nicht leisten, der Nutzen wäre für Putin gering, der Preis dagegen sehr hoch. Der russische Präsident hat andere Gründe für das Säbelrasseln in Osteuropa. Doch dazu gleich mehr.

Soldaten, Panzer, Kampfflugzeuge an der Grenze

Klar ist: Auch wenn ein russischer Angriff unsinnig erscheint, ist die Lage brandgefährlich. An den Grenzen in Osteuropa stehen jetzt Zehntausende Soldaten. Ein Fehler könnte eine Eskalationsspirale in Gang setzen. Es waren vor allem Satellitenbilder und die Berichte des ukrainischen Verteidigungsministeriums, die die Nato-Staaten in große Sorge versetzen.

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Laut Angaben der Ukraine sieht die Lage an der russisch-ukrainischen Grenze wie folgt aus:

  • Nördlich, südlich und östlich der Ukraine habe Moskau über 94.000 Soldaten zusammengezogen.
  • Russland verfüge in der Region unter anderem über 1.200 Panzer, 330 Kampfflugzeuge und 1.600 Artilleriewaffen.
  • Die russische Armee absolvierte zuletzt ein Manöver mit Fallschirmtruppen in Belarus, zuvor trainierte sie eine Landeoperation auf der Halbinsel Krim.
  • Die USA behaupten, dass der Kreml noch zusätzlich Zehntausende Reservisten aktiviert, dafür sollen in Südrussland 38.000 Mann herangezogen werden. Seit dem Ende der Sowjetunion wäre das einmalig.
  • Laut dem Pentagon deute die Zusammensetzung der Truppen und die Stationierung von hochentwickelten Waffensystemen auf eine Offensive hin.
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Die Vorwürfe aus Washington an die Adresse des Kremls sind überraschend deutlich. Laut US-Außenminister Antony Blinken verfolge sein Land die "ungewöhnlichen militärischen Aktivitäten Russlands an der Grenze zur Ukraine" mit "echter Sorge". Man kenne die Absichten Putins nicht, so Blinken weiter. "Aber wir wissen, was in der Vergangenheit geschehen ist." Schon früher habe sich Russland auf "eine Scheinprovokation der Ukraine oder eines anderen Landes" berufen und dies etwa als Vorwand für die Annexion der Halbinsel Krim benutzt.

Die US-Regierung nennt auch Details: Das Pentagon befürchtet einen Überfall im Dezember, wenn in Osteuropa die Böden gefrieren und Panzer nicht mehr im Schlamm versinken.

Der Kreml bestreitet die Vorwürfe vehement und wirft den USA eine Desinformationskampagne vor, die die Spannungen in der Region verschärfe. Selbst der russische Auslandsgeheimdienst SWR, der nur ganz selten Pressemitteilungen herausgibt, erklärte: "Die Amerikaner zeichnen ein erschreckendes Bild von russischen Panzerhorden, die sich darauf vorbereiten, ukrainische Städte zu überrollen, und sie behaupten, dass sie 'zuverlässige Informationen' über entsprechende russische Absichten hätten." Dies seien "absolut falsche Informationen".

Ein russischer Angriff ist unwahrscheinlich

► Doch was spricht für eine russische Offensive?

Putin sieht die ehemaligen Sowjetrepubliken traditionell als russische Einflusszone und beobachtet die Zuwendung der Ukraine zur Nato argwöhnisch. Die ukrainische Armee wird von den USA und beispielsweise auch von der Türkei mit Waffen beliefert.

Putins rote Linie ist der Nato-Beitritt des Nachbarlandes. Der Kreml könnte mit einem Angriff einem weiteren Erstarken zuvorkommen, auch um die Krim zu sichern, die als Basis der russischen Schwarzmeerflotte eine große strategische Bedeutung hat.

Mit einem Krieg könnte Putin außerdem von den wirtschaftlichen Problemen und vom eigenen Scheitern im Kampf gegen die Corona-Pandemie ablenken. Außerdem könnte Russland eine Landbrücke vom Donbass zur Krim einnehmen.

► Was spricht gegen eine russische Offensive?

Ein russischer Angriff erscheint grundsätzlich unklug. Putin hätte viel zu verlieren und wenig zu gewinnen. Seit Fertigstellung der Brücke vom russischen Festland zur Krim wäre eine Landbrücke nicht mehr von großer strategischer Bedeutung. Ein Krieg wäre teuer für Putin, denn ein Kinderspiel wäre ein russischer Feldzug gegen das kleine Nachbarland nicht mehr. Die ukrainische Armee ist viel besser ausgerüstet als noch im Jahr 2014, ihre Positionen an der Grenze zum Donbass sind besser befestigt.

Zwar ist sich Putin sicher, dass die Nato der Ukraine nicht beispringen würde, aber ein Angriff würde die internationale Isolation Russlands weiter verschärfen. Weitere Sanktionen wären wahrscheinlich. Das kann sich Moskau aufgrund der angespannten wirtschaftlichen Lage nicht leisten. Generell hat die russische Armee stets versucht, die jetzigen Grenzen zu festigen und zu stabilisieren. Es gibt kaum einen Grund dafür, dass sich das nun geändert haben soll.

Schilderungen der USA teilweise falsche

Auch Blinkens Bezug auf die Vergangenheit erscheint wenig plausibel. Zwar hat Russland Nachbarländer angegriffen, aber die Situationen waren völlig andere:

Im Jahr 2008 war die russische Invasion in Georgien eine Reaktion auf Micheil Saakaschwili, der den Konflikt mit den abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien eskalieren ließ, weil er fälschlicherweise mit Hilfe des Westens rechnete. Russland sicherte die Regionen und darüber hinaus ein paar strategisch wichtige Städte. Die russische Armee verübte Kriegsverbrechen, aber sie rückte nicht auf Tiflis vor oder versuchte ganz Georgien zu erobern. Im Gegenteil: Nach dem Waffenstillstand zog Russland sich wieder zurück.

Auch die Annexion der Krim verlief anders. Der Kreml schickte Soldaten ohne Abzeichen auf die ukrainische Halbinsel – der Angriff kam überraschend. Ähnlich wie bei den Kämpfen im Donbass konnte sich Moskau sicher sein, dass die russische Machtübernahme mehrheitlich von der Bevölkerung akzeptiert wird. Im Rest des Landes müsste Putin dagegen mit heftiger Gegenwehr der Menschen rechnen. Und: Russland versuchte im Vorfeld des Angriffes seine Truppenbewegungen zu verschleiern. Die aktuelle Verlegung von Streitkräften war hingegen durch kommerzielle Satelliten zu erkennen.

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Während ein Angriff auf die Ukraine für Russland einem Himmelfahrtskommando gleicht, haben die USA zumindest ein strategisches Interesse an einer rhetorischen Zuspitzung. Die US-Regierung sieht vor allem die Gasabhängigkeit Europas von Russland und insbesondere die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2 sehr kritisch. Deshalb ist Argwohn der europäischen Partner gegenüber Putin in Washington nicht ungewollt. Außerdem fordern die USA mehr sicherheitspolitische Verantwortung von ihren Nato-Verbündeten. Wenn die Staaten in Osteuropa aus Angst vor Russland aufrüsten – teilweise mit amerikanischen Waffen – hat die US-Regierung doppelt gewonnen.

Putin hat Gründe für eine Eskalation, nicht für einen Krieg

Deshalb reagieren Deutschland und selbst die Ukraine zurückhaltend auf die angeblichen Angriffspläne. In Berlin ist man zwar "zutiefst besorgt" aufgrund der Truppenkonzentrationen an der ukrainisch-russischen Grenze, aber eine Invasion erwartet die geschäftsführende Bundesregierung nicht.

Das militärische Säbelrassen durch den russischen Präsidenten wird in Europa mehr als gefährliche Provokation gesehen.

Bleibt die Frage: Warum provoziert Putin mit den Truppenverlegungen überhaupt? Das könnte mehrere Gründe haben:

  • Aufmerksamkeit für Russland: Putin sieht sein Land noch immer als Großmacht in Konkurrenz zu den USA. Sein Problem: Washington sieht das nicht mehr so und fokussiert sich im Ringen um die globale Vorherrschaft auf den Konflikt mit China. Auch die Nato ändert ihre strategische Ausrichtung mit Blick auf die aufstrebende Volksrepublik. Der Kreml scheint beweisen zu wollen, dass Russland als geopolitischer Akteur maßgeblich für die Bewältigung von Krisen gebraucht wird. Den Bedeutungsverlust nach dem Zerfall der Sowjetunion hat das Land noch nicht überwunden.
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  • Ablenkungsmanöver: Moskau hat einerseits ein innenpolitisches Interesse, dass Wortgefechte mit dem Westen die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf sich ziehen. Schließlich steht das Land in der Corona-Pandemie schlecht da, Infektions- und Sterberate sind hoch, viel zu wenig Menschen sind geimpft. Die wirtschaftlichen Probleme im Land sind auch durch die Pandemie und die westlichen Sanktionen immens. Außenpolitisch möchte Russland andererseits davon ablenken, dass es in der Arktis immer weiter vorstößt. Demnach gibt es viele Gründe für Ablenkungsmanöver, die traditionell zum politischen Werkzeugkasten von Putin gehören.
  • Westliche Manöver: Nato-Großmanöver im Baltikum, US-Kriegsschiffe im Schwarzen Meer, Drohnenübungen im Donbass oder Waffenlieferungen an Kiew. Auch Russland fühlt sich durch die Militärübungen des Westens in Osteuropa bedroht. Die gegenseitigen militärischen Muskelspiele lösen oft eine Reaktion der Gegenseite aus, um die eigene Kampfbereitschaft zu demonstrieren.
  • Putin hält Europa für schwach: Der russische Präsident sieht einen guten Zeitpunkt für eine Eskalation. Deutschland befindet in einem Machtwechsel, in Frankreich hat der Wahlkampf begonnen. Außerdem hat Russland durch gestiegene Energiepreise und einen erhöhten Gasbedarf vor dem Winter in Europa einen großen politischen Hebel. Nach der Lesart des Kremls machen diese Umstände die EU eher bereit zu Zugeständnissen. Die Sanktionen nach der Krim-Annexion schwächen Russland bis heute. Das will Putin ändern.

Vieles deutet demnach auf eine gewollte politische Provokation durch Russland hin. Trotzdem ist die Lage extrem gefährlich: Zehntausende Soldaten und Tausende moderne Waffensysteme stehen sich gegenüber. Klar ist: Ein großer Fehler in dieser Lage kann zu einer unkontrollierbaren Auseinandersetzung führen. Deshalb ist Putins Strategie riskant.

Dass die US-Regierung aber die Sorge befeuert und US-Medien wie "Bloomberg" nun dazu aufrufen, dass der Westen jetzt handeln müsse, bevor es zu spät sei, ist aber ebenfalls gefährlich. Krieg ist nie unvermeidlich, aber so zu tun als wäre er es, macht ihn wahrscheinlicher.

Verwendete Quellen
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