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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Krieg in Bergkarabach Deutschland muss raus aus der "außenpolitischen Komfortzone"
Beim Krieg um Bergkarabach geben Russland und die Türkei den Ton an. Deutschland und die EU-Staaten bleiben höchstens Zaungäste – das muss sich ändern, sagt der Hamburger CDU-Chef Christoph Ploß.
Bergkarabach im Herbst 2020: Ein seit Jahrzehnten schwelender Konflikt bricht auf, armenische und aserbaidschanische Soldaten bekriegen sich, beide Seiten beklagen Tausende Todesopfer. Direkt vor Europas Haustür findet ein Krieg statt, in dem Russland als der wichtigste Partner Armeniens mitmischt und in dem sich die Türkei offen auf die Seite Aserbaidschans schlägt. Insbesondere die Türkei heizt den Krieg mit Waffenlieferungen und nationalistischen Tönen an.
Deutschland und auch andere Staaten der Europäischen Union (EU) verfolgen all das als Zaungäste. Der Waffenstillstand, den beide Kriegsparteien im November geschlossen haben, hat am Ende Russland näher an Armenien und die Türkei näher an Aserbaidschan gebracht. Eine engere Anbindung der Südkaukasus-Region an die EU? Fehlanzeige!
Dr. Christoph Ploß (35) ist seit 2017 Abgeordneter im Deutschen Bundestag und dort Mitglied im Europaausschuss. Zudem ist er Landesvorsitzender der Hamburger CDU.
Deutschland als Zaungast der Weltpolitik
Leider ist das keine Ausnahme: In Hongkong und im Südchinesischen Meer schaut die EU ebenfalls machtlos dem immer aggressiveren Treiben Chinas zu; den Bürgerkrieg in Syrien prägte mit Russland ebenfalls eine Großmacht außerhalb Europas. Kurzum: Während der deutsche Außenminister Heiko Maas den Multilateralismus und den internationalen Dialog beschwört, handeln auf der Weltbühne andere Spieler wie China, Russland oder die USA.
So richtig es ist, den Multilateralismus hochzuhalten und Bereitschaft zum internationalen Dialog an den Tag zu legen, so sehr braucht es in Deutschland und der gesamten EU außenpolitische Reformen, damit die EU – mit den Worten des früheren Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker – endlich "weltpolitikfähig" wird. Was ist zu tun, damit das endlich der Fall ist?
Nationale und europäische Strategien gefordert
Deutschland sollte zunächst klar seine außenpolitischen Interessen herausarbeiten. Wo kommen die Rohstoffe für die Energiewende oder den Ausbau der erneuerbaren Energien her? Welche Konflikte sind für die Sicherheit und die Migrationspolitik Europas von Bedeutung? Was kann man tun, um weltweit demokratische Ansätze zu stärken? Diese und andere Fragen müssten wir in Deutschland zunächst mit einer nationalen Strategie beantworten.
Zusammen mit anderen europäischen Staaten könnten wir anschließend gemäß unseren Vorstellungen kooperieren. In Italien und Frankreich gibt es beispielsweise einen ähnlichen Bedarf an Rohstoffen für die heimische Automobilindustrie wie in Deutschland und ein Interesse an einer Zusammenarbeit, um aus der Sonne Afrikas Wasserstoff herzustellen. Insbesondere in Afrika oder im Nahen Osten ist es für Deutschland, Österreich, süd- und osteuropäische Staaten gleichermaßen von großem Wert, Konflikte zu entschärfen und Perspektiven zu schaffen, um Migrationsströme nach Europa zu vermeiden.
Wer diese Politik für richtig hält, muss in der Konsequenz allerdings bereit sein, außenpolitische Souveränität zu teilen, um gemeinsam stärker zu sein. Deutschland könnte mit anderen europäischen Partnern so nicht nur deutlich selbstbewusster gegenüber anderen Großmächten auftreten, sondern zusammen mit anderen europäischen Partnern selbst zu einer relevanten Größe in der Weltpolitik werden. Dazu braucht es aber politische Führung und nicht nur Sonntagsreden.
Europäische Bündnisse – außerhalb der EU
Außenpolitische Beobachter mögen bei solchen Gedanken kritisch einwenden: "Solange in der EU-Außenpolitik das Einstimmigkeitsprinzip gilt, wird es nur Beschlüsse auf Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners geben." Ein Abrücken vom Einstimmigkeitsprinzip aller 27 EU-Staaten ist in der Tat so gut wie aussichtslos. Ebenso unrealistisch ist es, dass die EU-Staaten in absehbarer Zeit einen eigenen europäischen Außenminister schaffen.
Daher sollte Deutschland zunächst mit gleichgesinnten europäischen Partnern starten. Zusammen mit Frankreich, Italien und trotz des Brexits gegebenenfalls auch Großbritannien wären potenziell vier der acht größten Volkswirtschaften der Erde dabei, die zusammen über 250 Millionen Menschen auf die weltpolitische Waage bringen. Bündnisse mit solchen Staaten wären insbesondere innerhalb der EU möglich und könnten den europäischen Integrationsbemühungen neue Kraft verleihen, wenn später auch diejenigen mitmachen dürften, die am Anfang noch skeptisch sind.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die europäische Einigung genau so begonnen: mit Pionieren, die vorangingen, europäische Institutionen schufen und den Weg für ein bis heute einzigartiges Erfolgsprojekt ebneten. Damals galt es, den Frieden zu sichern und eine Wirtschaftsgemeinschaft zu begründen. Die Aufgabe insbesondere der jüngeren politischen Generation in allen europäischen Staaten ist es heute, in den 2020er Jahren aus Europa einen außenpolitischen Akteur zu formen, der insbesondere gegenüber China, Russland oder auch der Türkei mit Stärke auftreten kann.
Alleinstellungsmerkmal Wertetreue
Uns Europäer könnte dabei ein Alleinstellungsmerkmal auszeichnen: dass wir unsere Interessen nicht rücksichtslos zulasten anderer Länder durchsetzen wollen, sondern dass wir unsere europäischen Werte wie Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in unsere Außenpolitik einfließen lassen. Unser Leitgedanke sollte sein: Wir Deutschen wollen zusammen mit unseren gleichgesinnten europäischen Partnern andere Staaten nicht wegen ihrer Rohstoffe ausplündern, sondern sie an Wertschöpfungsprozessen teilhaben lassen. Das würde uns in vielen Regionen der Welt zu einem sehr begehrten Partner machen.
Im Bergkarabach-Konflikt hätte es genau an diesem Punkt aus europäischer Sicht viele Chancen gegeben: Europa hätte als Vermittler auftreten können, um zwischen Armenien und Aserbaidschan zu schlichten. Europa hätte vor allem mit Armenien umfangreichere wirtschaftliche Kooperationen anstreben und es so von seiner engen Bindung an Russland lösen können. Europa hätte mit demokratischen Kräften im Südkaukasus stärkere Kooperationen initiieren und dem türkischen Nationalismus mit Entschlossenheit entgegentreten müssen.
All das kann Deutschland, all das können außenpolitische Pioniere in Europa bei den nächsten Herausforderungen und Konflikten besser machen – wenn ein Wille zu wirklichen außenpolitischen Reformen vorhanden ist, wenn politische Führung an den Tag gelegt wird und wenn die Bereitschaft da ist, sich aus der außenpolitischen Komfortzone herauszubewegen.
Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten spiegeln die Meinung des Autoren wider und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online.de-Redaktion.