"Verzieh Dich, bevor es zu spät ist!" Nobelpreisträgerin fordert Lukaschenkos Rücktritt
In Belarus geht die Gewalt gegen Demonstranten nach der Präsidentschaftswahl weiter. Eine Literaturnobelpreisträgerin hat nun Klartext über ihre Heimat gesprochen: Diktator Lukaschenkos Zeit sei abgelaufen.
Die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch hat in ihrer Heimat Belarus in Weißrussland den autoritären Präsidenten Alexander Lukaschenko zum Rücktritt aufgefordert. "Verzieh Dich, bevor es zu spät ist!", sagte die 72-Jährige in einem am Mittwochabend vom belarussischen Dienst des Radiosenders Swoboda veröffentlichten Interview. "Aus meiner Sicht hat der Machtapparat dem Volk den Krieg erklärt." Niemand habe sich eine solche Gewalt in Belarus vorstellen können.
"Wir haben gesehen, wie das in anderen Ländern vor sich geht, aber bei uns wird auf ein Auto geschossen, in dem sich ein kleines Kind befindet, alles ist voller Blut, es wird eine schwangere Frau geschlagen, Festgenommene werden mit dem Knie gewürgt", sagte sie. Dabei seien die Menschen absolut friedlich. Am Mittwoch hätten sich Frauen in Menschenketten zusammengeschlossen, um die Wahrheit über die Präsidentenwahl vom Sonntag einzufordern.
In der Nacht zu Donnerstag hatten in vielen Städten in Belarus erneut zahlreiche Menschen für einen Rücktritt von Lukaschenko demonstriert. Es gab wieder Dutzende Festnahmen und mehrere Verletzte. Ein weitere Demonstrant ist nach seiner Festnahme gestorben. Bei der Präsidentenwahl am Sonntag hatte Lukaschenko, der seit mehr als 26 Jahren im Amt ist und als "letzter Diktator Europas" gilt, sich zum sechsten Mal als Sieger ausrufen lassen – mit 80,08 Prozent der Stimmen. Seine Gegner sehen dagegen die 37 Jahre alte Kandidatin Swetlana Tichanowskaja als Siegerin. Sie ist unter dem Druck der Behörden nach Litauen geflohen.
Alexijewitsch: Russische Sicherheitskräfte in Minsk
Auch diese Frauen mit Blumen in den Händen seien angegriffen worden von den Uniformierten. Die Menschen seien überzeugt, dass Lukaschenko die Präsidentenwahl verloren habe. "Niemand um sich herum sieht irgendjemanden, der Lukaschenko lieben, der ihn so in Schutz nehmen würde wie in der Vergangenheit."
Die Schriftstellerin äußerte Zweifel mit Blick auf das "unmenschliche Vorgehen" der Sonderpolizei OMON in der Hauptstadt Minsk, dass dies Kräfte aus Belarus seien. Möglich wäre demnach ein Einsatz russischer OMON-Kräfte. "Mir scheint, dass die belarussischen Jungs nicht so auf ihre Mütter und Schwestern einschlagen können", sagte sie dem US-finanzierten Sender. In kleineren Städten hielten sich die OMON-Beamten ja dagegen zurück.
Es brauche nach dem Rücktritt von Lukaschenko ein Komitee der nationalen Rettung, um das Land zu führen. Die Elite müsse sich zusammenfinden dafür. Alexijewitsch äußerte zugleich Verständnis für die Ausreise der Präsidentenkandidatin Swetlana Tichanowskaja. Die 37-jährige Mutter habe mit der Teilnahme an der Wahl ihrer Sache erfüllt und bleibe ein Symbol für den Wandel.
Nachbarländer wollen vermitteln
Angesichts der brutalen Polizeigewalt gegen Demonstranten haben die Nachbarländer Litauen, Polen und Lettland sich als Vermittler angeboten. Der litauische Präsident Gitanas Nauseda präsentierte einen entsprechenden Plan, um die Gewalt beenden zu können, wie die Präsidialkanzlei des baltischen EU-Landes am Mittwochabend mitteilte. Polen und Lettland würden diesen Plan sowie die Einleitung eines internationalen Vermittlungsprozesses unterstützen, hieß es weiter. Präsident Alexander Lukaschenko lehnt einen Dialog bislang strikt ab.
Nauseda sagte der Mitteilung zufolge, erstens müssten die Behörden in Belarus die Lage unverzüglich deeskalieren und "die Anwendung brutaler Gewalt gegen das Volk beenden". Zweitens müssten alle inhaftierten Demonstranten freigelassen und ihre Verfolgung eingestellt werden. "Drittens erwarten wir, dass die belarussischen Behörden schließlich einen Dialog mit ihren Bürgern aufnehmen." Die Einrichtung eines "Nationalrats" mit Vertretern aus Regierung und Zivilgesellschaft könnte ein geeigneter Schritt sein.
Nauseda sagte: "Die engsten Nachbarn von Belarus, einschließlich Litauen, brauchen ein stabiles, demokratisches, unabhängiges und erfolgreiches Land in ihrer Nachbarschaft. Das ist unvereinbar mit den jüngsten Entwicklungen, die wir mit großer Sorge verfolgen."
- Nachrichtenagentur dpa