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Gefangen in Lesbos: "Deutschland muss sagen, ob es mich wieder braucht"


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Flüchtlinge auf Lesbos
"Deutschland muss sagen, ob es mich wieder braucht"

Von Madeleine Janssen, Lesbos

Aktualisiert am 11.03.2020Lesedauer: 5 Min.
Flüchtlingscamp Moria: Das Lager ist für knapp 3.000 Menschen ausgelegt. Anfang März 2020 befinden sich rund 22.000 Menschen in dem Camp.Vergrößern des Bildes
Flüchtlingscamp Moria: Das Lager ist für knapp 3.000 Menschen ausgelegt. Anfang März 2020 befinden sich rund 22.000 Menschen in dem Camp. (Quelle: imago-images-bilder)
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Mohammad Raza ist Briefträger in Augsburg. Endlich will er seine Familie aus dem Iran nachholen. Dann passiert ein folgenschweres Unglück – und Mohammad sitzt fest. Die absurde Geschichte von Pech und Bürokratie.

Wenn sich der Briefträger Mohammad Raza in Moria umschaut, kann er sein Pech manchmal nicht fassen. Noch vor sieben Monaten ist er jeden Tag in Augsburg zur Arbeit gegangen. Mit seinem Fahrrad hat er Post ausgefahren, hat sie in die Briefkästen der Deutschen geschoben, im Auftrag der Deutschen Post.

Jetzt sitzt er in Moria, dem Elendscamp der griechischen Insel Lesbos. Es ist der größte Irrtum seines Lebens. In Flipflops, Jogginghose und dünner Jacke geht er den sandigen Pfad im "Dschungel" hinunter, dem Meer aus Plastikzelten und selbst gezimmerten Hütten. Sein Weg führt ihn zum Obstverkauf. Hier gibt es Erdbeeren, Bananen, Äpfel und Ananas. Frauen in weiten bunten Gewändern schlurfen an Mohammad Raza vorbei. Junge Männer kommen aus der anderen Richtung, in den Händen halten sie zwei Stücke Brot und eine Plastikbox mit einem Fertiggericht. Es ist Essenszeit in Moria. Auch Mohammad will gleich zurück in sein Zelt, zu seiner Frau und seinem siebenjährigen Sohn.

Das ausgetrocknete Flussbett ist gefüllt mit Plastikflaschen

Am Obststand teilt sich Moria in das alte und das neue Lager. Über eine kleine Holzbrücke eilen die Menschen hinüber in den alten Teil, das ursprüngliche Internierungslager. Die Holzbrücke überquert ein Flussbett. Hier fließt aber kein Wasser. Das Flussbett ist gefüllt mit Plastikflaschen. Manche beinhalten eine dunkelgelbe Flüssigkeit – Urin. Auf der anderen Seite der Brücke befindet sich die Essensausgabe. Mohammad hält an der Kreuzung inne. Vier Journalisten aus Deutschland – darunter die Autorin dieses Textes – sitzen auf Plastikstühlen und Schemeln, trinken zuckrigen Chai-Tee und essen Bananen. Um sie herum stehen Männer und beobachten sie.

Mohammad ist ein freundlicher Mann. Er strahlt Ruhe und Überlegtheit aus, er wägt seine Worte ab. Jetzt hört er die Sprache seiner zweiten Heimat. Er bleibt stehen. Und er erkennt, dass etwas nicht in Ordnung ist: Einer der Fotojournalisten hat zuvor fotografieren wollen, als sich zerstrittene Gruppen im Lager mit Eisenstangen und Messern gegenseitig angriffen. Es soll davon aber keine Bilder geben, darüber sind sich die beteiligten Männer aus Afghanistan einig – der Fotograf und sein Kollege werden bedroht, ihm wird die Kamera abgenommen. Jetzt wartet er darauf, dass sie aus den Untiefen der Zeltstadt wieder auftaucht. Mohammad fragt auf Deutsch: "Gibt es ein Problem?"

Doch was ist schon eine verschwundene Kamera gegen ein verschwundenes Leben?

Mohammad Raza, 33, aus Afghanistan, ist 2015 aus dem Iran nach Deutschland gekommen. Seinen ältesten Sohn, damals fünf, hat er mitgebracht. Mohammad lernte Deutsch, ging zur Berufsschule für Metalltechnik und arbeitete danach im Hol- und Bringdienst einer Fachklinik für Orthopädie im bayerischen Füssen. Später wechselte er als Helfer in die Krankenpflege, ehe er bei der Post als Briefträger anfing. Sein Status bei den deutschen Behörden: Abschiebeverbot.

Das greift dann, wenn der betroffenen Person im Herkunftsland Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention, also unmenschliche Behandlung, Gefahr für Leib und Leben oder gesundheitliche Einschränkungen drohen.

In Afghanistan werden regelmäßig Anschläge verübt. Autobomben explodieren. Allein bei einem Attentat Mitte August 2019 auf eine Hochzeitsgesellschaft in Kabul starben 63 Menschen, mehr als 180 wurden verletzt. Geschähe so etwas in Dänemark, Frankreich oder den Niederlanden in dieser Frequenz, wie es in Afghanistan der Fall ist, würde wohl niemand in Deutschland von einem "sicheren Herkunftsland" sprechen.

Die Eheurkunde lag auch schon vor

Auch Mohammads Frau und der kleine Sohn befinden sich inzwischen im Iran. Dort warten sie auf Mohammad. Er hat versprochen, sie nachzuholen, nach Deutschland. Familiennachzug, das ist der Fachbegriff, mit dem er fortan Anträge auf den Ämtern stellt.

Mit einem Visum reist Mohammad in den Iran. Sein älterer Sohn bleibt bei einem Nachbarn in Augsburg. Es soll nicht lange dauern. Doch was jahrelang Mohammads größter Traum war – eine gemeinsame Zukunft mit seiner Familie im sicheren Deutschland – wird zu seinem größten Albtraum. "Ich hatte schon einen Termin mit der deutschen Botschaft im Iran vereinbart, unsere Eheurkunde aus Afghanistan lag auch schon vor", erinnert sich Mohammad in fließendem Deutsch am Obststand in Moria.

Dann verliert er seinen Pass.

Irgendwo in Teheran. Das Dokument steckte in seiner linken Gesäßtasche. Wenn Mohammad sich daran erinnert, weiß er es noch ganz genau. Er greift instinktiv dorthin, beschreibt, wie die Banknoten in seiner rechten Hosentasche später immer noch da sind.

Der Ausweis aber ist weg.

Das war im Oktober 2019. Er bestellt einen neuen Ausweis, doch das dauert mehr als sechs Monate. Am 25. Januar 2020 läuft sein deutscher Aufenthaltstitel ab. Er geht zur deutschen Botschaft im Iran. Aber auch die will den Pass sehen. Einen Notfallpass stellt die afghanische Botschaft nicht rechtzeitig aus. "Das dauert genauso lange. Da ist immer viel los", sagt Mohammad.

Der Sohn muss allein in Deutschland bleiben

Er begreift: Er muss jetzt ein Jahr im Iran bleiben, ehe er offiziell erneut nach Deutschland einreisen darf. Ohne Pass kann er nirgends hin reisen. Nicht einmal seinen minderjährigen Sohn, der bei seinem Nachbarn untergekommen ist, kann er noch nachholen.

Mohammad Raza steht für viele Menschen, deren Fluchtgeschichten Hilfsorganisationen immer wieder hören. Menschen, die fälschlicherweise abgeschoben wurden oder durch gemeine Zufälle – so wie Mohammad – aus ihrem neuen Leben herausgezerrt werden. Die sich bereits vorbildlich integriert haben, die Landessprache beherrschen und eine Berufsausbildung nachweisen können. Mohammad hat Pech gehabt.

Er will kein ganzes Jahr im Iran aushalten. Er macht sich Sorgen um den Sohn in Deutschland. Er kämpft noch immer gegen den Behördenapparat. Zusammen mit seiner Frau und dem Kleinen läuft er los. Iran – Türkei. Dort noch einmal in die deutsche Botschaft, ohne Erfolg. Da gilt sein Aufenthaltstitel noch 20 Tage. Die Zeit läuft. Doch die deutsche Botschaft weigert sich – ohne einen Ausweis ist nichts zu machen.

Seine Augen sind gerötet vom Schlafmangel

Es ist eine Absurdität. Die Laune eines bürokratischen Systems, in dem Tücken wie ein verlorener Pass offenbar unüberwindbar sind. Was ist es für eine Welt, was für ein Europa, in dem Menschen erst ein neues Zuhause finden und dann so herb enttäuscht werden? Kann denn niemand etwas daran ändern?

Mit einem Schlauchboot setzt Mohammad gemeinsam mit seiner Familie nach Lesbos über. Automatisch landen sie in Moria, dem hoffnungslos überfüllten Camp. Für seine Frau und den Sohn eine furchtbare Belastung. "Wir haben Angst", sagt Mohammad. "Wenn hier einer ein Problem hat, ist das ein Problem für alle", sagt er über das hohe Aggressionspotenzial im Camp. Nur alle ein, zwei Wochen könne man mit kaltem Wasser duschen. "Nachts kann man nicht schlafen: Die Leute schlagen mit Stöcken und Steinen auf die Zelte." Seine Augen sind gerötet vom Schlafmangel der vergangenen Nächte.

Hoffnung gibt es für ihn kaum. Worauf soll einer wie er, dem seine Zukunftsperspektive schon einmal genommen worden ist, noch hoffen? "Ich warte einfach, was kommt. Deutschland muss jetzt sagen, ob es mich wieder braucht."

Verwendete Quellen
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