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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Eklat im Schloss Bellevue "Steinmeier ist wutentbrannt auf mich zugestürmt"
Schriftsteller Marko Martin übte deutliche Kritik an Frank-Walter Steinmeier, der Bundespräsident reagierte ungehalten. Im Interview berichtet Martin, was passiert ist.
Deutschland setzte auf Frieden und beste Geschäfte mit Russland, die russische Vollinvasion der Ukraine 2022 machte Schluss mit dieser Praxis. Eine kritische Aufarbeitung der deutschen Russlandpolitik ist bis heute aber faktisch unterblieben, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war als früherer Außenminister einer ihrer führenden Vertreter. Nun äußerte der Autor Marko Martin in einer Rede zu "35 Jahre Friedliche Revolution" im Schloss Bellevue unter anderem Kritik an Steinmeier, der Bundespräsident reagierte zornig und ungehalten.
Im Interview erklärt Martin, was Steinmeier getan hat und warum er Kritik am Bundespräsidenten und der verschleppten Aufarbeitung der deutschen Russlandpolitik für dringend geboten hält.
t-online: Herr Martin, Sie haben am Donnerstag im Schloss Bellevue eine überaus kritische Rede zur deutschen Russlandpolitik der vergangenen Jahrzehnte gehalten und dabei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier direkt kritisiert. Auch für seine Rolle als Außenminister. Wie hat er reagiert?
Marko Martin: Frank-Walter Steinmeier ist wutentbrannt auf mich zugestürmt, er hat ziemlich die Fassung verloren. Das war bei dem anschließenden Empfang nach der Veranstaltung. Steinmeier warf mir vor, ihn zu diffamieren. Offensichtlich fühlte er sich persönlich von meinen Worten getroffen. Ich sah ihn immer als "Beamten-Automat", aber Steinmeier kann offensichtlich auch anders.
Dabei gilt die deutsche Russlandpolitik, die er mitverantwortete, ja tatsächlich als gescheitert.
So ist es.
Was hat Sie zu dieser Rede motiviert? Das Thema der Veranstaltung war eigentlich "35 Jahre Friedliche Revolution" in der DDR.
Nach 35 Jahren ist es an der Zeit, die übliche Gedenkroutine etwas zu unterlaufen. Es sind ja immer die gleichen Satzbausteine. Das hörte man gestern auch wieder in der Rede des Bundespräsidenten. Man spürt sehr viel Pflichtschuldiges, wenig Empathie und vor allem sehr, sehr wenig Beschäftigung mit den Hintergründen von 1989. Von Fakten und Tatsachen, deren Kenntnis auch heute noch absolut wichtig ist, um zu begreifen, was geschehen ist, was gegenwärtig auf uns zukommt und was in der Zukunft vielleicht noch zu erwarten ist.
Zur Person
Marko Martin, Jahrgang 1970, ist weitgereister Schriftsteller und Publizist. Martin schreibt für verschiedene deutsche Medien und ist Autor zahlreicher Bücher wie "'Brauchen wir Ketzer?' – Stimmen gegen die Macht: Portraits". Kürzlich erschien Martins neuestes Werk "Und es geschieht jetzt. Jüdisches Leben nach dem 7. Oktober".
War es eine kalkulierte Provokation? Immerhin versucht der frisch gebackene SPD-Generalsekretär Matthias Miersch den Putin-Freund Gerhard Schröder zu rehabilitieren, auch Frank-Walter Steinmeier hat nie ohne größere Not Fehler in seiner Russlandpolitik eingestanden.
Die Ironie des Ganzen besteht ja darin, dass ich gar nichts besonders Neues gesagt habe. Experten für Osteuropa, wie die Historikerin Franziska Davies, Beobachter aus dem Ausland wie André Glucksmann oder Timothy Garton Ash haben über all die Jahre und Jahrzehnte immer wieder vor Putin und einem aggressiven Russland gewarnt. Sie und viele andere. Aber Steinmeier war einfach blind.
- Im Schloss Bellevue: Diese Rede führte zum Steinmeier-Eklat
Wofür?
Das russische Imperium befindet sich seit Langem in einer Frontstellung gegen den liberalen Westen, die SPD aber verweigert sich dieser von seriösen Historikern immer und immer wieder analysierten Wahrheit noch immer. Die versuchte Rehabilitierung von Gerhard Schröder spricht dabei Bände. Und der Bundespräsident ist unwillig, eigene Fehler und Fehleinschätzungen jenseits rhetorischer Bußübungen wirklich zu benennen.
Das tun stattdessen mittlerweile Journalisten und Wissenschaftler.
Zum Glück, ja. Steinmeier betrachtet Politik allein aus einer Perspektive der Macht, der Konferenz- und Hinterzimmer. Das mag in Krisenzeiten wichtig sein, aber für eine Zivilgesellschaft, die von Transparenz und Diskussion lebt, ist das ein schleichendes Gift. Wenn man sich zu lange mit Typen wie Sergej Lawrow und Wladimir Putin in einer "Verantwortungsgemeinschaft" wähnt, dann spiegelt sich das irgendwann auch zurück ins eigene Verhalten.
Sie meinen, Putin habe auf Steinmeier und andere abgefärbt?
Das tat ihm sicher nicht gut. In solchen Kreisen glaubt man, dass die "großen Männer" schon alles regeln werden. Diese Leute wollen die großen Linien ziehen; "die Aufgeregten da unten", die Journalisten wie das sogenannte einfache Volk, haben aus dieser Sicht gar nicht den Durchblick dafür.
Nun hat sich allerdings die deutsche Russlandpolitik bis zur russischen Vollinvasion der Ukraine als naiv erwiesen.
Da ist der Witz an der Sache. Die ganze Hinterzimmerpolitik, diese ganze angebliche Realpolitik hat uns in ein gewaltiges Dilemma geführt: nämlich in die Abhängigkeit von einer Deutschland gegenüber feindlich eingestellten Macht. Das ist das größte Systemversagen seit 1949. Der Gerechtigkeit wegen muss ich hinzufügen, dass nicht nur Steinmeier für dieses Desaster Verantwortung trägt, sondern natürlich auch die frühere Bundeskanzlerin und weite Teile von Politik und Öffentlichkeit. Für diese Leute war folgender Deal lange Zeit bestens: Wir kriegen billiges Gas von den Russen, unsere Exporte gehen nach China und unsere Sicherheit wird von den Amerikanern garantiert.
- Millionen-Geschäfte: Steinmeiers Freund und Putins Minister
Sie haben also auf Steinmeier gezielt, aber zahlreiche andere mitgemeint?
Ja. Diese gerade von mir beschriebene Wohlfühlsituation hat Steinmeier damals nicht allein geschaffen, klar, aber er war ein maßgeblicher Politiker, der ihr erst als Außenminister und dann als Bundespräsident die Weihen einer höheren Würde verlieh. Steinmeier hat diesen Sprech perfekt drauf, bei ihm klingt jedes und alles pastoral nachdenklich. Aber wenn man ein bisschen daran kratzt, merkt man, dass es reinste Satzbauroutine ist. Ich bin der Meinung, dass seine Verantwortung deshalb ungleich schwerer wiegt als diejenige von sogenannten Normalbürgern, die das billige Gas aus Russland einfach hingenommen hatten, ohne sich weiter Gedanken zu machen. Das habe ich ihm dann auch nach meiner Rede auch gesagt.
Bitte erzählen Sie.
Als er derart zornig auf mich zukam, gab er mir zwar die Hand, aber es war eher ein Ringergriff. Auf seinen Vorwurf der Diffamierung antwortete ich ihm, dass seine Floskeln vom "Kenntnisstand von heute" und "Ich habe mich geirrt" einfach nicht überzeugen. Steinmeier war damals Außenminister eines der entscheidenden Länder Europas – natürlich war er da über Dinge informiert, von deren Existenz wir nicht einmal wissen. Und dann mit solch selbst-exkulpierenden Floskeln rauszugehen aus der Diskussion? Das ist einfach eine Schäbigkeit. Und schädigt nicht nur das Vertrauen in die Politik, sondern schädigt auch die Demokratie.
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Glauben Sie, dass Ihre Argumente bei Steinmeier zumindest teils verfangen haben?
Ich glaube kaum. Ich habe ihm darzulegen versucht, dass es sich hier selbstverständlich nicht um "Diffamierung" handelt, sondern um Zitate in einem Kontext, den ich in meiner Rede nachgezeichnet habe. Ich habe Traditionslinien aufscheinen lassen und die Zitate eben nicht im luftleeren Raum belassen. Darauf aber ist Steinmeier überhaupt nicht eingegangen. Sogleich war er auf jener Ebene, dass Politiker versuchen, Probleme zu lösen, und die Intellektuellen alles erschweren. Das klang genau nach dieser Art Herrschaftswissen, nach deren Logik all die Normalsterblichen ja überhaupt keine Ahnung haben, die dort unten herumwuseln und schimpfen und moralisieren.
Das klingt angefasst.
Die Umstehenden haben versucht, ihn zu beruhigen, zum Beispiel Marianne Birthler. Steinmeier hatte da aber bereits völlig die Contenance verloren. Mein Rekurs auf den Zusammenhang von Wahrheit und Verzeihen, wie wichtig es ist, sich ehrlich zu machen, gerade für einen Politiker – all das wurde quasi weggewischt.
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Steinmeier versucht sich stets volksnah zu geben – Sie beschreiben ihn jetzt anders: Als jemanden, der andere Meinungen unberücksichtigt lässt und meint, exklusiv im Recht zu sein.
Ich halte dieses Jovial-Volksnahe ohnehin für eine Fassade. Viele meiner Bücher beschäftigen sich mit Dissidenten, die der Macht gegenüber kritisch waren. Mein Erlebnis mit Steinmeier erinnert mich jedenfalls daran, was mir vor vielen Jahren mein Schriftsteller-Freund Jürgen Fuchs berichtet hatte – über seine Begegnung mit dem SPD-Politiker Herbert Wehner in den Achtzigerjahren.
Was hat er berichtet?
Fuchs wurde von Wehner sogleich angeblafft. "Ihr wisst doch gar nicht, wie komplex diese Dinge sind. Menschenrechte schön und gut, aber wir müssen uns um das große Ganze kümmern." Diese Einstellung ist problematisch. Ich finde: Das können wir diesen Politikern nicht durchgehen lassen.
Worauf zielen Sie ab?
Männer wie Steinmeier und Wehner konstruieren einen Scheingegensatz: hier das moralische Getöse, dort die notwendige Realpolitik. Dabei ist Realpolitik dann am nachhaltigsten, wenn sie sich um Menschenrechte kümmert. Ganz einfach, weil zwischen Demokratien keine Kriege geführt werden. Und Demokratien müssen gegen Diktatoren verteidigt werden. Auch wenn man Geschäfte mit ihnen macht, muss man deshalb wissen, wo die Grenzen sind.
Und Sie meinen, Steinmeier kennt diese Grenzen nicht?
Wir haben einen Bundespräsidenten, der diese Grenzen nicht anerkennt. Das Nord-Stream-Projekt sollte nach Moskaus Wunsch die Ukraine isolieren zugunsten des Putin-Regimes. Statt nun eigene Fehler einzugestehen, beschimpft Steinmeier andere Menschen, die das sachlich und in ruhiger Diktion ansprechen. Da bin ich kein Einzelfall. Denken Sie nur an die Fachleute, die er "Kaliberexperten" nannte. Dabei geht es diesen Leuten um eine ganz pragmatische und dabei ethische politische Position. Realpolitik also im besten Sinne.
Warum, glauben Sie, wurden Sie überhaupt ins Schloss Bellevue eingeladen?
Für Kritik wurde ich offenbar nicht eingeladen. Herr Steinmeier hat mir gestern überdies noch einen Vorwurf gemacht: Ich sei Gast im Schloss Bellevue gewesen – als hätte ich mich mit meiner Rede sozusagen danebenbenommen. Ich finde das wirklich bemerkenswert. Dabei ist doch auch für Herrn Steinmeier das Schloss Bellevue nur eine temporäre Bleibe. Die Amtszeit eines demokratisch gewählten Bundespräsidenten endet irgendwann. Das habe ich ihm gesagt, worauf sich seine Laune natürlich nicht besserte.
Was wurde von Ihnen anstelle von Kritik erwartet?
Wenn man Schriftsteller für eine Rede einlädt, sollte man von Ihnen ausschließlich eines erwarten – eine Rede zu halten mit einer gedanklich klaren Linie ohne Textbausteine. Andere Erwartungen gehen schon ins Autoritäre. Ich hoffe doch, dass ich nicht eingeladen worden bin, weil man erwartet hat, ich würde den üblichen Sermon noch weiterführen.
Was war Ihr Ziel?
Meine Bücher zur DDR und zu europäischen Dissidenten interessieren sich für Menschen, die sich nicht stromlinienförmig verhalten und dabei auch nicht selbstgerecht werden. Aus diesem Grund hoffe ich, dass meine Rede eine Einladung zur Reflexion war. Das war jedenfalls nicht die Rede eines Nachgeborenen, der alles besser wissen will. Ich habe am Ende gesagt: Es ist wichtig, über Fehler zu sprechen. Ich habe Fakten dargelegt. Das war für den Bundespräsidenten jedoch offenbar schon zu viel. Aber nun gut – wenn er sich der Debatte verweigert, dann müssen eben andere sie führen.
Herr Martin, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Marko Martin via Videokonferenz