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Putins Russland kennt keine Zukunft: Kindheitserinnerungen aus Moskau


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Kolumne "Russendisko"
Putins Reich kennt keine Zukunft

MeinungEine Kolumne von Wladimir Kaminer

25.08.2024Lesedauer: 5 Min.
Wladimir Putin: Russland steckt in der Vergangenheit fest, sagt Wladimir Kaminer.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russland steckt in der Vergangenheit fest, sagt Wladimir Kaminer. (Quelle: Mikhail Metzel/reuters)
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Der Zukunft kann niemand entkommen. Problematisch wird es allerdings, wenn ein Land in der Vergangenheit stecken bleibt. So wie es in Russland der Fall ist, warnt Wladimir Kaminer.

Meine Mutter beschwert sich schon den ganzen Sommer über "Nebel im Kopf". Die Ärzte, mit der Frage konfrontiert, ob sich dieser Nebel zerstreuen ließe, konterten sofort mit einer Gegenfrage: Sie wollten wissen, wie alt die Mutter ist. "93 Jahre alt?", sagten die Ärzte. "In diesem Alter gehört der Nebel im Kopf zur Grundausstattung der Persönlichkeit". Er sei unabdinglich. Es wäre eher ein Grund zur Sorge, wenn die Mutter keinen Nebel im Kopf hätte, so die Mediziner.

Also lernten wir, mit dem Nebel zusammenzuleben. Dazu muss man sagen, dass der Nebel im Kopf nur die Gegenwart betrifft. Über die Vergangenheit weiß Mama gut Bescheid, sie nimmt auch das aktuelle politische Geschehen wahr. Neulich hat sie im Schlaf gar von der endgültigen Lösung des Nahostkonflikts geträumt.

(Quelle: Frank May)

Zur Person

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein aktuelles Buch "Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen" erscheint am 28. August 2024.

In ihrem Traum hatte der Weltsicherheitsrat eine Empfehlung ausgesprochen: Um dauerhaften Frieden im Nahen Osten zu erreichen, sollten ab sofort alle Konfliktparteien – Israelis und Palästinenser – nur noch in Unterhosen in der Öffentlichkeit erscheinen. Warum? Um einander zu zeigen, dass sie friedfertige Menschen seien und keine Waffen bei sich trügen. Ich war mir unsicher, ob Mamas Traum in der Realität funktioniert, aber probieren könnte man es, oder? Es gibt viele Wege, die zum Frieden führen.

Mitte August war ich im österreichischen Bad Ischl, dort wird traditionell des Kaisers Franz Joseph I. Geburtstag gefeiert. Die Zeremonie wird vom dortigen Nostalgie-Verein organisiert, sehr angenehme Menschen, die nicht müde werden, den Journalisten und neugierigem Publikum zu erklären, dass sie keine Anhänger der Monarchie seien, sondern nur die tollen Kleider und die guten Manieren von damals vermissten.

Der Schurke lebt noch?

Sie haben einen großen Kostümfundus und organisieren aus eigener Kraft die ganze Feierlichkeit: Der echte Kaiserzug, von einer Dampflok gezogen, fuhr in Bad Ischl ein, der Bahnhof war überflutet mit Menschen, die sich extra für den Kaiser herausgeputzt hatten: Damen in Krinolinen (eine Art Reifrock) und Männer in Uniformen. Der "Kaiser", ein fröhlicher Alter mit riesigem Backenbart, zeigte sich nicht volksscheu und machte gerne Selfies mit den Untertanen.

Ich habe für Mama ein Selfie mit dem "Kaiser" gemacht und nach Berlin geschickt. Franz Joseph? "Er lebt noch, der Schurke?", wunderte sich meine Mutter. Das ist doch der, der 1914 die Kriegserklärung unterschrieben hat. Wie kann man einen Mann ehren, der einen Krieg in die Welt setzte, mit dem wir noch immer nicht fertig werden? So regte sich Mama auf. Die Vergangenheit und die Gegenwart haben sich bei meiner Mutter zusammengeklebt, sie sind kaum auseinanderzuhalten. In ihrer Vorstellung lebt die Welt noch immer in der Vergangenheit und kann die Probleme von damals nicht lösen. Vermutlich hat sie sogar recht.

Die Ereignisse aus dem vorherigen Jahrhundert sind in Mamas Kopf präsent geblieben, das aktuelle Jahr, der Monat und der Wochentag sind weg. Vor allem fragt Mama ständig, wie spät es ist. Sie hat überall Uhren in ihrer Wohnung, in der Küche, im Schlafzimmer und auf ihrem Telefon. Sogar im Bad tickt eine Wanduhr. Sie zeigen allerdings alle unterschiedliche Zeiten. Auf die Uhren ist kein Verlass. Also bleibt Mama zur Sicherheit in der Vergangenheit hängen.

Die erste Hälfte ihres Lebens hat sie, wie alle Einwohner der Sowjetunion, in der Zukunft verbracht. Das erklärte Ziel unseres Landes war der Aufbau einer kommunistischen Zukunft. Für die Gegenwart gab es nicht einmal einen Namen, offiziell galt die Gegenwart als Übergangszeit in die helle Zukunft, an deren Existenz niemand zweifeln durfte.

Zurück in die Zukunft?

Aus Sicht der marxistischen Dialektik war die kommunistische Zukunft nämlich historisch unausweichlich, ganz egal, wie die Übergangsmenschen agieren würden. Sie konnten natürlich versuchen, die Zeit auszubremsen oder zu beschleunigen: Doch am Ende sollte der Kommunismus stehen. Deswegen wurden unsere Dissidenten, die an der Zukunft zweifelten und den Staat kritisierten, nur selten in den Knast, sondern meistens in die Klapse gesteckt, in die Psychiatrie.

Aus der Sicht des Staates konnte nur ein Verrückter an der Zukunft zweifeln. Und deswegen machten sich unsere Regierenden auch keine Sorgen, was die leeren Regale in den Lebensmittelläden betraf – das waren doch alles "vorübergehende Schwierigkeiten". Das ganze Land befand sich auf einer Zeitreise ohne Halbpension unter dem Motto "Volle Kraft voraus in die Zukunft, unterwegs wird nicht gegessen".

Meine Landsleute haben diese Zukunft nie persönlich kennengelernt, wir kannten sie bloß aus sowjetischen Science-Fiction-Romanen und Propagandafilmen. Die Menschen auf der Leinwand sahen stets sehr zufrieden aus, sie mussten sich keine Sorgen um ihre Existenz machen, es waren glückliche Arbeitslose, die ihre ganze Zeit der kreativen Entfaltung der eigenen Persönlichkeit widmeten. Sie sangen, tanzten und lachten. Und genau wie in der Wohnung meiner Mutter hingen überall in unserem Land, an jedem öffentlichen Gebäude, auf jeder Metro-Station große Uhren, die uns zeigen sollten, dass es schnell vorangeht.

Auch diese Uhren zeigten unterschiedliche Zeiten. Die größte Uhr befand sich am Kremlturm und wurde jeden Abend als Hintergrund in den Abendnachrichten gezeigt, in einer Nachrichtensendung, die "Die Zeit" hieß. Im Radio (wir hatten nur ein Radioprogramm) folgte jede Viertelstunde eine Zeitansage, die nicht weniger als fünf Minuten dauerte. Die Sowjetunion, genau wie das heutige Russland, hatte elf Zeitzonen und – wie gesagt – einen Radiosender, die Zeit musste daher für verschiedene Gebiete extra angesagt werden.

Einfach kein Verlass

Ich lebte in Moskau. Kurz vor 15 Uhr war ich mit der Schule fertig, konnte endlich meine Schuluniform ausziehen und den Ranzen in die Ecke schmeißen, der Höhepunkt des Tages! Jedes Mal, wenn ich kurz nach 15 Uhr nach Hause kam, hörte ich im Radio den Rest der Zeitansage. Eine Frauenstimme sagte mir, dass es auf Kamtschatka gerade Mitternacht sei. Als Kind dachte ich, dass dort auf Kamtschatka immer Mitternacht sei.

Ich war nie auf Kamtschatka. Kamtschatka war so weit entfernt wie der Kommunismus. Aber diese Kindheitserinnerung ist für immer in meinem Kopf geblieben, dass es ein solches Land gibt, Kamtschatka, ein Land der ewigen Mitternacht. Die Zukunft, von der man uns erzählte, trat nie ein, der Morgen kam und kam nicht, heute scheint Russland für immer in einem nie enden wollenden Gestern stecken geblieben zu sein. Auf die Uhren ist also wirklich kein Verlass.

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