Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kolumne "Russendisko" Fortschreitende Verblödung erklärt es nicht
Es herrscht Krieg, an die Sonne und den Strand wollen Ukrainer und Russen trotzdem. Russische Touristen zieht es auf die umkämpfte Krim. Nur warum, fragt sich Wladimir Kaminer.
Urlaubszeit ist Reisezeit, die Menschen zieht es in die Sonne. Meine aus Odessa stammende Friseurin fährt jeden Monat von Berlin nach Hause ans Schwarze Meer, um ihre Eltern und ihre Tiere zu besuchen und Freunde zu treffen. Nicht zuletzt auch, um alten Kunden die Haare zu schneiden. Natali hat in Odessa noch immer ihren Friseursalon für ältere Damen, mit dem Alter fällt ein Wechsel der Friseurin besonders schwer.
Sie erzählte neulich, die Strände Odessas seien voll, obwohl der Hafen fast täglich mit russischen Raketen beschossen werde. Die Einheimischen könnten sich ein Leben ohne Meer nicht vorstellen. Bereits im ersten Sommer des Krieges machte ein Strandvideo aus Odessa im Internet die Runde: Der Grenzschutz umzäunte die Zugänge zum Wasser, nachdem die ersten Seeminen nahe an den Stränden gesichtet worden waren. Die Einheimischen schnitten Löcher in das Metallgitter, kletterten durch und gingen baden.
Zur Person
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein aktuelles Buch "Gebrauchsanweisung für Nachbarn" (mit Martin Hyun) ist im März 2024 erschienen.
Auf dem Video versuchten die Soldaten, die Frauen in Badeanzügen zur Vernunft zu bringen. "Krieg hin oder her, wer soll meinem Sohn schwimmen beibringen, Sie etwa?", wütete eine mollige Blondine und schickte die Patrouille zum Teufel. "Sehen Sie die Möwen?", klärte eine weise Oma die Soldaten auf – während sie versuchten, die Oma aus dem Loch im Zaun zu befreien. "Die Möwen sitzen auf den Wellen! Sie würden doch niemals dort sitzen, wenn da Minen wären, diese Vögel sind klug! Ich springe kurz ins Wasser und schwimme zu den Möwen und zurück, versprochen!" Die Soldaten schüttelten nur den Kopf.
Dieses Jahr wurden die Strände Odessas nicht einmal umzäunt, meine Friseurin ging zum Strand mit einer Freundin und deren fünfjährigem Sohn. Der Strand war voll, sie hatten Mühe einen Platz zu finden. Kaum hatten sie sich im Sand eingerichtet, kam eine Warn-SMS: Ballistik von der Krim, drei Minuten Anflugzeit. Na ja, dachten die Frauen, na ja. In drei Minuten würden sie es bis zum Schutzbunker sowieso nicht schaffen. "Was steht da noch in der SMS?", fragte die Friseurin ihre Freundin. "Suchen Sie ein Dach über den Kopf oder legen Sie sich auf den Boden mit dem Gesicht nach unten."
"Es lebe die Ukraine!"
Ein Dach war am Strand nicht vorhanden, also beschlossen die Frauen, der letzten Anweisung zu folgen und sich über das Kind zu legen. Bevor sie sich mit der Nase in den Sand bohrte, schaute sich meine Friseurin um, der gesamte Strand hatte die gleiche Warnung bekommen, aber niemand reagierte. Dann mache ich das auch nicht, dachte Natali. Der ganze Strand schaute nach oben. Dort, am klaren blauen Himmel, weit in der Ferne sah man einen Flugkörper, der auf einen anderen Flugkörper schlug, die Raketenabwehr in Odessa hatte in den vergangenen Jahren viel gelernt. Eine kleine Rauchwolke bildete sich im Himmel. "Es lebe die Ukraine!", rief der Strand beinahe einstimmig. Und ging baden.
In der gleichen Woche trafen die Überreste einer ukrainischen Rakete die Urlauber auf der Krim, auch dort sind die Strände überfüllt. Die Russen fahren massenweise in den Urlaub auf die besetzte Krim, wohl wissend, dass die Halbinsel zurzeit ein stark umkämpftes und täglich von den ukrainischen Geschossen bombardiertes Gebiet ist. Aber Urlaubszeit ist Reisezeit.
Alle Ferienhäuser sind bis Ende Oktober ausverkauft, vermietet, verpachtet. Die Hotels sind durch den Krieg nicht einmal preiswerter geworden, ganz im Gegenteil, diese Saison sei die teuerste in der Krimgeschichte, schreiben die örtlichen Zeitungen. Die Menschen schicken ihre Kinder in die Ferienlager auf die Krim und jede Woche findet dort irgendein Musikfestival oder Sportevent unter freiem Himmel statt, obwohl die ukrainischen Streitkräfte permanent Raketen auf die Krim abfeuern.
Es gibt für die Russen dieses Jahr wenig Platz unter der Sonne, durch die Sanktionen sind die Strände des Westens aus den Reisekatalogen weggefallen, Thailand ist schwer erreichbar und in der Türkei spielen die Preise verrückt. Durch den Ansturm der russischen Touristen hat die türkische Riviera die Preise verzehnfacht, Georgien ist zu klein und auch zu teuer, außerdem fühlen sich die Russen dort nicht willkommen. Einige russische Reisebüros versuchen, die Urlauber zur Vernunft zu bringen, sie werben für einen Alternativurlaub in Sibirien, mal zur Abwechslung frische Luft in der Taiga zu atmen, statt in der Sonne zu schmoren.
Großes Unverständnis
Die Werbung funktioniert nicht, die Massen wollen auf die Krim und die Regierung ermutigt die Menschen sogar, auf die Krim zu fahren, sich selbst und ihre Kinder in Gefahr zu bringen. Erst vorige Woche war die neunjährige Tochter des stellvertretenden Bürgermeisters von Magadan von den Splittern einer abgeschossenen Rakete am Strand ums Leben gekommen. Böse Zungen behaupten, Putins Regime habe an zivilen Opfern auf der besetzten Krim ein politisches Interesse, damit würden die eigenen Kriegsverbrechen und die Bombardierung der Zivilbevölkerung in Charkiw und Odessa relativiert.
Warum aber nun die Menschen ihr Leben bewusst in eine solche Gefahr bringen, dafür habe ich keine plausible Erklärung. Es wäre zu einfach, dies mit der fortschreitende Verblödung der Bevölkerung zu erklären. Nach drei Jahren Krieg sind es die Menschen auf beiden Seiten müde geworden, ständig Angst zu haben. Der Fatalismus beherrscht die Massen. Es kommt, wie es kommt, denken sie und kaufen sich erst mal ein Eis, fallen in den Sand, die Raketen fliegen.