Mindestens 45 Tote Angriff auf Flüchtlingslager: "Völlig vorhersehbar"
Israel wird vorgeworfen, ein Zeltlager für Geflüchtete in einer humanitären Schutzzone angegriffen zu haben. Israel widerspricht. Was ist bekannt?
Was ist passiert?
Israel hat am Sonntagabend einen Luftangriff im Norden Rafahs durchgeführt. Dabei ist ein Zeltlager mit geflüchteten Zivilisten in Brand geraten, die genauen Umstände sind noch unklar. Mindestens 45 Menschen wurden nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde getötet, Dutzende weitere verletzt. Die meisten der Toten seien Frauen und Minderjährige. Der Vorfall löste international Entsetzen und Empörung aus.
In der Stadt lebten lange über eine Million Menschen, die aus anderen Teilen des Gazastreifens vertrieben worden waren. Seit dem Angriff Israels auf Teile von Rafah sind viele der Menschen erneut geflohen.
Was wird Israel vorgeworfen?
Nach Angaben der Hamas wurde das Zeltlager bei dem Luftangriff direkt getroffen. Der Palästinensische Rote Halbmond erklärte zudem, das Gebiet sei eine der ausgewiesenen humanitären Zonen für jene Menschen, die wegen der israelischen Kampfhandlungen evakuiert werden mussten.
In den sozialen Netzwerken kursieren verstörende Videos, die zeigen, wie verkohlte Leichen aus brennenden Zelten geborgen werden. Der palästinensische Rettungsdienst berichtet von "Horror-Szenen", Krankenwagen hätten viele Tote und Verletzte transportiert. Bilder von dem Ort zeigen vollkommen ausgebrannte Unterkünfte.
Ebenfalls in den sozialen Medien teilen viele Nutzerinnen und Nutzer derzeit ein Flugblatt, das angeblich von der israelischen Armee stammen soll und den Vorwurf untermauern soll, das israelische Militär habe den Angriff absichtlich in einem Areal durchgeführt, das zuvor explizit als Schutzzone ausgewiesen wurde.
Recherchen von "ZDFheute" anhand von analysierten Satellitenbildern und geolokalisierten Bildaufnahmen widersprechen dieser Darstellung allerdings. Demnach wurde das 2024 neu errichtete Lager "Kuwait Peace Camp" getroffen, das etwa einen Kilometer außerhalb der Schutzzone liegt – in unmittelbarer Nähe zu einem Gebäudekomplex der UN.
Auch wenn der Angriff außerhalb der humanitären Schutzzone erfolgt sein sollte, wurden Zivilisten getötet. Ein Punkt, den unter anderem Volker Türk, UN-Hochkommissar für Menschenrechte, betont. Israel habe offenbar seine Kriegsführung nicht geändert, die bereits zu vielen zivilen Todesopfern geführt habe, kritisierte Türk. Es sei "erschütternd klar, dass dies ein völlig vorhersehbares Ergebnis war, wenn ein so dicht mit Zivilisten bevölkertes Gebiet angegriffen wird", sagte Türk.
Am Sonntagabend brannte ein Zeltlager für Geflüchtete im Norden Rafahs im Gazastreifen. Israel soll es bei einem Luftangriff getroffen haben. In den sozialen Netzwerken kursiert der Vorwurf, das Lager habe in einer humanitären Schutzzone gelegen. International ist das Entsetzen groß. Was ist über die Situation bekannt? t-online gibt einen Überblick.
Wie reagiert Israel?
Das israelische Militär bestätigte, es habe einen gezielten Luftangriff auf ein Gelände der islamistischen Hamas im Stadtteil Tal al-Sultan, der im Norden Rafahs liegt, gegeben. Der Angriff habe zwei ranghohen Hamas-Mitgliedern gegolten. Demnach wurde ein Gelände der Islamisten in dem Stadtteil angegriffen. Neben Jassin Rabia, dem maßgeblichen Kopf hinter den Terroraktivitäten der Islamistenorganisation im Westjordanland, sei auch das ranghohe Hamas-Mitglied Chaled Nagar getötet worden.
Berichte, dass es sich bei dem getroffenen Gebiet um eine ausgewiesene humanitäre Zone gehandelt habe, wies Israel zurück. Die Armee teilte weiterhin mit, Vorkehrungen getroffen zu haben, um das Risiko für Zivilisten zu verringern. So seien etwa präzise Munition eingesetzt und das Gebiet aus der Luft überwacht worden.
Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu bezeichnete den Luftangriff Berichten zufolge als "tragischen Fehler". Die Tragödie sei trotz israelischer Bemühungen, Schaden von Zivilisten abzuwenden, geschehen. "Wir untersuchen den Fall und werden die Schlussfolgerungen daraus ziehen", versicherte Netanjahu. Er will die Offensive in Rafah demnach aber fortsetzen.
Israels oberste Militäranwältin stufte den Angriff in Rafah als "sehr schwerwiegenden" Vorfall ein. "Es liegt in der Natur der Sache, dass in einem Krieg von diesem Umfang und dieser Intensität auch schwerwiegende Vorfälle passieren", sagte Generalmajor Jifat Tomer-Jeruschalmi am Montag bei einer Juristenkonferenz in Eilat. "Ein Teil der Vorfälle – wie jener gestern in Rafah – ist sehr schwerwiegend."
Der US-Sender ABC-News zitierte am Montag einen US-Beamten, wonach israelische Beamte der verbündeten US-Regierung erklärt hätten, sie glaubten, dass nach dem Luftangriff ein 100 Meter entfernter Treibstofftank möglicherweise durch Granatsplitter Feuer gefangen habe. Dadurch habe ein Zelt Feuer gefangen, was wiederum zu dem verheerenden Brand in dem Lager geführt habe. Den USA lägen jedoch keine eindeutigen Informationen hierzu vor, so der US-Beamte.
Welche internationalen Reaktionen gibt es?
UN-Generalsekretär António Guterres verurteilte den israelischen Luftangriff. Es seien "zahlreiche unschuldige Zivilisten getötet" worden, die Schutz vor dem tödlichen Konflikt gesucht hätten, erklärte Guterres am Montag in Onlinenetzwerken. Es gebe keinen sicheren Ort im Gazastreifen, fuhr er fort. "Dieser Horror muss aufhören." Nach Angaben aus Diplomatenkreisen berief der UN-Sicherheitsrat für Dienstag eine Dringlichkeitssitzung zur Lage in Rafah ein.
Die US-Regierung zeigte sich ebenfalls erschüttert. Die Bilder von dem Lager, in dem "Dutzende unschuldige Palästinenser" getötet worden seien, seien "niederschmetternd" und "herzzerreißend", erklärte am Montag in Washington ein Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats im Weißen Haus. Israel müsse "jede mögliche Vorsichtsmaßnahme ergreifen, um Zivilisten zu schützen", mahnte er.
Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron reagierte empört auf den Angriff in Rafah. "Diese Operationen müssen aufhören", schrieb Macron auf X. Es gebe keine sicheren Zonen für palästinensische Zivilisten in Rafah. Macron rief zu einer sofortigen Feuerpause und zu einer vollständigen Einhaltung des internationalen Rechts auf.
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Wie reagiert Deutschland?
Außenministerin Annalena Baerbock sagte in Brüssel: "Es gab weitere Raketen auf Tel Aviv von der Hamas und zugleich sehen wir, dass es kein Gewinn für Israels Sicherheit ist, dass keine Geisel freikommt, wenn jetzt Menschen in Zelten verbrennen." Die Grünen-Politikerin sagte weiter: "Das internationale Völkerrecht, das humanitäre Völkerrecht, das gilt für alle." Auch Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) seien bindend und müssten natürlich befolgt werden, sagte Baerbock. "Wir erleben gerade das Gegenteil."
Die Bundesregierung geht davon aus, dass es im Zusammenhang mit dem Angriff einen Fehler der israelischen Seite gegeben habe. Derzeit liefen in Israel Untersuchungen, ob es sich um einen gezielten Angriff gehandelt habe, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit in Berlin. "Auf alle Fälle ist ein Fehler passiert, das kann man jetzt schon sagen", fügte er hinzu. Es müsse noch die Frage der Motivation für den Angriff geprüft werden.
Auf Nachfragen sagte Hebestreit: "Der Schluss, ob das ein Kriegsverbrechen ist im Sinne des Völkerrechtes, das ist etwas, was man Juristen überlassen muss, die die genauen Sachverhalte kennen." Der Regierungssprecher mahnte: "Erst mal untersuchen, was genau passiert ist und dann urteilen. Und nicht anhand von Bildern sofort ein Urteil fällen." Angesichts der jüngsten Raketenangriffe aus Rafah auf Tel Aviv betonte Hebestreit zugleich: "Israel hat das Recht, sich zu verteidigen im Rahmen des Völkerrechts."
Was bedeutet das für die Verhandlungen zur Waffenruhe?
Die Hamas setzt wegen des Angriffs in Rafah ihre Teilnahme an den Verhandlungen über eine Waffenruhe vorerst aus. Dies teilten Hamas-Repräsentanten der Deutschen Presse-Agentur am Montag mit. Die indirekten Verhandlungen zwischen Israel und der Islamistenorganisation, bei denen Ägypten, Katar und die USA als Vermittler agieren, waren zuletzt nach mehrtägigen Gesprächen in Kairo und Doha in eine Sackgasse geraten.
Medienberichten zufolge sollten sie in dieser Woche "auf der Basis neuer Vorschläge" wieder aufgenommen werden. Israel warte auf weitere Informationen von den Vermittlern über die neuesten Positionen der Hamas, bevor es eine Entscheidung über die Entsendung eines eigenen Verhandlungsteams treffe, sagte ein israelischer Beamter der "Times of Israel" laut deren Bericht vom Montagabend.
- Nachrichtenagenturen dpa und AFP
- zdf.de: "Hat Israel eine Schutzzone bombardiert?"