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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Militärexperte Reisner "Dieser Eindruck täuscht gewaltig"
Die Ukraine ist in der Defensive, nun erhält sie neue Militärhilfe aus den USA. Oberst Markus Reisner warnt vor überzogenen Erwartungen.
Lange hat es gedauert, nun erhält die Ukraine weitere Militärhilfen aus den Vereinigten Staaten. Die auch dringend benötigt wird, droht doch eine russische Offensive an der Front. Was braucht die Ukraine nun am dringendsten? Was plant die russische Armee? Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer schätzt die Lage ein.
t-online: Herr Reisner, lange hat es gedauert, nun ist der Weg frei für ein milliardenschweres Hilfspaket der USA: Kommt es noch rechtzeitig für die bedrängte Ukraine?
Markus Reisner: Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Deswegen möchte ich vorneweg klarstellen: Russland ist im Moment dabei, diesen Krieg auf dem Schlachtfeld taktisch-operativ zu gewinnen. Das amerikanische Hilfspaket ist deswegen extrem wichtig, aber bis sich messbare Effekte zeigen, wird es dauern. Zudem ist weitere Hilfe für die Ukraine – auch seitens der Europäer – dringend notwendig.
Wie ist die aktuelle Lage für die ukrainische Armee?
Die ukrainischen Verteidigungslinien stehen unter schwerem Druck – vor allem durch die Angriffe der Russen mit Artillerie und Gleitbomben. Die Ukrainer benötigen deswegen zusätzliche Luftverteidigung auf mittlere und größere Entfernung. Deutschland liefert ein weiteres Patriot-System, gut, aber die Ukraine braucht viel, viel mehr. Deswegen hoffe ich, dass die USA nun ihrerseits verstärkt Patriots liefern werden. Neben vielem anderen mehr.
Der Mangel an Artilleriemunition ist aufseiten der Ukraine ebenfalls eklatant. Wird zumindest in diesem Bereich Besserung eintreten?
Die nun avisierte Munition wird den Ukrainern bei der Verteidigung helfen, ja. Mehr aber eben nicht. Und auch nur dann, wenn die kommende russische Offensive im Sommer nicht zu stark und umfangreich ausfällt. Generell gilt: Alles, was das US-Paket betrifft, stärkt die Fähigkeit der Ukrainer zur Verteidigung, aber nicht zum Angriff. Das gilt auch für die oft erwähnten Kurzstreckenraketen vom Typ ATACMS. Diese müssten massiert eingesetzt werden, um einen messbaren ATACMS-Effekt zu erzielen. So wie dies im Sommer 2022 bei den gelieferten HIMARS der Fall war.
Oberst Markus Reisner, Jahrgang 1978, ist Militärhistoriker und Leiter des Instituts für Offiziersausbildung des österreichischen Bundesheeres an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 analysiert Reisner den Kriegsverlauf auf dem YouTube-Kanal "Österreichs Bundesheer".
Wird in den westlichen Staaten trotzdem die Erwartung aufkommen, dass die Ukraine durch die US-Hilfe nun Gegenangriffe durchführen wird?
Das ist zu befürchten, derartige Erwartungen sind in der aktuellen Lage aber völlig überzogen. Die ukrainische Armee bräuchte dafür zehn bis 15 neue Brigaden: allesamt voll mechanisiert, mit Kampf- und Schützenpanzern, Artillerie und vor allem Soldaten. Damit, und mit einer signifikanten Anzahl an F-16, könnte die Ukraine wieder in die Offensive gehen. Alles andere ist unrealistisch.
Zumal sich die russische Seite derzeit im Vorteil befindet?
So ist es. Das Momentum wird bei den Russen bleiben. Wir reden uns die Dinge schön, die Wirklichkeit ist eine andere: Die Ukraine musste dieses Jahr in die Defensive gehen, damit 2025 überhaupt eine Chance zur Offensive besteht. Zurzeit erleben wir die auslaufende Phase 6 des Krieges um die Ukraine, die zweite russische Winteroffensive und die zweite strategische Luftkampagne der Russen gegen die kritische Infrastruktur der Ukraine kommen zum Ende.
Was wird darauf folgen?
Eine neue russische Offensive im späten Frühjahr beziehungsweise frühen Sommer zeichnet sich ab, damit müssen wir rechnen. Die Russen werden Kräfte konzentrieren, sie verfügen über die nötigen Mittel. Und es laufen weitere Ressourcen zu.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow deutete womöglich eine Offensive auf das derzeit schwer bombardierte Charkiw im Nordosten an.
Das wäre nicht undenkbar, auch weil dort Gasfelder liegen, die die Ukraine dringend zur Eigenversorgung braucht. Zurzeit läuft bereits eine Luftoffensive gegen die Stadt. Bodentruppen konzentrieren die Russen dort allerdings noch nicht, das wäre den Ukrainern und ihren Unterstützern etwa durch Satellitenüberwachung aufgefallen.
Die Stadt Tschassiw Jar ist ebenfalls Ziel schwerer russischer Angriffe. Was passiert dort?
Im Falle von Tschassiw Jar haben wir es mit einer Verzögerungsstellung zu tun. Sie befindet sich vor der zweiten ukrainischen Verteidigungslinie, die noch recht gut ausgebaut ist, dahinter folgt die dritte der Ukrainer, für die dieser Zustand kaum anzunehmen ist. Wenn die Russen dort durchbrechen, dann sieht es schlimm aus. Sie könnten bis zum Dnipro durch das weite offene Land voranrücken. So kann es kommen, muss es aber nicht. Die Russen suchen derzeit nach Schwachstellen, sie prüfen die ukrainische Verteidigung. Diese sollte durch die US-Hilfe immerhin etwas Stärkung erhalten.
Was steht der russischen Armee derzeit überhaupt zur Verfügung?
Zurzeit hat die russische Armee circa 500.000 Mann in der Ukraine im Einsatz, dazu kommen rund 3.000 Kampfpanzer, 7.000 Schützenpanzer, 5.000 Artilleriesysteme, 1.200 Mehrfachraketenwerfer, 300 Kampfflugzeuge und 300 Kampfhubschrauber. Das ist das Zweieinhalbfache von dem, mit dem die Russen damals in die Ukraine einmarschiert sind – und sie werden stärker.
Angesichts dieser Dimensionen erscheint das neue US-Hilfspaket fast wie der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein?
Ein Abnutzungskrieg folgt seiner eigenen Grammatik, diese Tatsache verstehen viele Beobachter nicht. Wenn wir die Front aus der Ferne betrachten, sieht es so aus, als wenn dort nicht viel geschehen würde. Dieser Eindruck täuscht gewaltig, tatsächlich reiben sich die gegenseitigen Kräfte und die Zähler der Ressourcen rattern herunter. Bislang herrscht an der Front ein Artillerieverhältnis von etwa sechs (manchmal zehn) zu eins zugunsten der Russen. Die ukrainischen Soldaten stehen in ihren Schützengräben unter Dauerfeuer, es sind Szenen wie im Ersten Weltkrieg. Das kann niemand faktisch aushalten.
Die US-Lieferungen sollten dieses Verhältnis zumindest etwas zugunsten der Ukraine korrigieren?
Das ist zu hoffen. Es gibt Untersuchungen, wonach ein Soldat maximal 100 Tage an der Front durchhält. Danach bricht er körperlich und geistig zusammen. Die Unterlegenheit der Ukraine bei der Artillerie führte auch dazu, dass die Russen ihre eigene Artillerie konzentrieren und so den Beschuss bestimmter Punkte noch steigern konnten. Dazu kommt der Einsatz von Gleitbomben: Dabei handelt es sich um eine alte und "dumme" Waffe, die aber immensen Schaden anrichtet. Mit ihrer gewaltigen Sprengkraft wird das Ziel quasi pulverisiert.
Weswegen wiederum dringend eine Stärkung der ukrainischen Luftabwehr erfolgen muss?
Genau. Schützen wir Städte und kritische Infrastruktur oder die Front? Diese Frage müssen sich die Ukrainer derzeit angesichts ihres Mangels an Luftverteidigung stellen. Wenn die USA nun verstärkt Patriots liefern würden, wäre dies eine enorme Verbesserung und die Verluste würden sinken.
Vor allem die russische Seite – mit ihrer Geringschätzung des Lebens der eigenen Soldaten – erleidet große Verluste.
Ja. Aber nahezu alle Experten sind der Ansicht, dass die Russen dieses Verlustniveau noch zwei bis drei Jahre so durchhalten können. Die entscheidenden Fragen sind doch ganz andere: Kann die Ukraine so lange durchhalten? Wird die westliche Unterstützung Bestand haben? Da sind Zweifel angebracht, auch angesichts der nahenden Wahlen in den Vereinigten Staaten. Europa ist gefordert.
Ob Joe Biden US-Präsident bleiben wird oder Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehrt: So oder so werden die Amerikaner ihr Engagement in Europa zurückfahren wollen. Warum tun sich die Europäer so schwer damit, die Ukraine verstärkt zu unterstützen und sich auf die Bedrohung durch Russland vorzubereiten?
Die Situation ist paradox. Ich umschreibe sie gerne mit dem Begriff "Schrödingers Russland", frei nach dem Gedankenexperiment des österreichischen Physikers Erwin Schrödinger: Einerseits hören wir immer wieder, dass die Russen völlig dilettantisch seien, dann heißt es wiederum, dass sie in drei Jahren bereit für den direkten Konflikt mit der Nato wären.
Was ist Ihre Ansicht?
Wir sollten die Russen nicht unterschätzen, das wäre ein schwerer Fehler.
Herr Reisner, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Markus Reisner