t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikAuslandKrisen & Konflikte

Naher Osten | Grünen-Politikerin warnt vor großem Krieg: "Hochgefährlich"


Interview
Unsere Interview-Regel

Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.

Großer Krieg im Nahen Osten?
"Das ist eine schreckliche Entwicklung"

InterviewVon Patrick Diekmann

06.04.2024Lesedauer: 9 Min.
imago images 0440747536Vergrößern des Bildes
Iranische Soldaten bei einem Marineeinsatz im Roten Meer. (Quelle: IMAGO/Iranian Army Office)

Das Sterben im Gazastreifen geht weiter und Israels Führung erregt international Unmut, weil sie ihre Kriegstaktik nicht ändert. Die Grünen-Politikerin Lamya Kaddor warnt vor einem großen Krieg, der die gesamte Region erfasst.

Das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen spitzt sich immer weiter zu. Die Menschen sterben durch israelische Bomben oder sie verhungern, weil noch immer zu wenig Hilfsgüter in das Kriegsgebiet gelassen werden. Zuletzt wurden Helfer bei einem Angriff der israelischen Armee getötet.

Nach der Terrorattacke vom 7. Oktober 2023 hält der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu an seiner Kriegstaktik fest. Und an seinem Ziel: die Auslöschung der Hamas.

Doch das gegenwärtige Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen nimmt keine Rücksicht auf die palästinensische Zivilbevölkerung. Auch bei der Befreiung der israelischen Geiseln, die immer noch von der Hamas festgehalten werden, erzielt die israelische Führung keine Fortschritte. Der Unmut über Netanjahu wächst, in der israelischen Gesellschaft und auch bei seinen internationalen Partnern.

Die Grünen-Politikerin Lamya Kaddor kritisiert im Interview die israelische Kriegsführung als unverhältnismäßig und warnt vor einem großen Krieg im Nahen Osten, den die israelische Regierung durch Angriffe auf iranische Stellungen in Syrien riskiert.

t-online: Frau Kaddor, nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel tobt noch immer ein blutiger Krieg im Gazastreifen. Immer mehr Zivilisten sterben, die humanitäre Katastrophe spitzt sich zu. Sind all die Versuche der USA und Deutschlands, auf die israelische Führung einzuwirken, gescheitert?

Lamya Kaddor: Nein, das würde ich nicht sagen. Es ist wichtig, dass die USA, Deutschland und auch viele andere Staaten den Schutz von Zivilisten und mehr humanitäre Hilfe fordern. Der Dialog mit Israel hat geholfen, aber die humanitäre Hilfe hat nicht das Level erreicht, das es bräuchte. Leider. Die jüngsten Zusagen Netanjahus, einen weiteren Grenzübergang und den Hafen von Aschdod für mehr humanitäre Hilfe zu öffnen, müssen nun rasch umgesetzt werden.

Ist Ihre Kritik am fehlenden Schutz von Zivilisten nicht etwas untertrieben? Immerhin starben laut UN-Angaben im Gazastreifen in den vergangenen Monaten mehr Zivilisten als in der Ukraine nach zwei Jahren Krieg.

Wir sollten nicht die Todesopfer in Konfliktregionen gegeneinander aufrechnen. Das halte ich für schwierig und deplatziert. Menschliches Leid kennt keine Zahlen oder Relativierungen.

imago images 0411865911
(Quelle: IMAGO/Uwe Koch)

Zur Person

Lamya Kaddor ist Politikerin, Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin und Publizistin. Seit 2021 ist sie für die Grünen Mitglied des Deutschen Bundestags.

Dennoch ist das der Vorwurf, den einige Staaten an Deutschland richten. Sie werfen der deutschen Regierung Doppelmoral im Umgang mit dem Gazakrieg vor.

Natürlich stellt sich die Frage, ob das Vorgehen der israelischen Führung in Gaza verhältnismäßig ist – unabhängig davon, ob es in anderen Konflikten mehr oder weniger Opfer gibt. Seit Anfang des Jahres steht eigentlich die Forderung im Raum, dass die israelische Armee (IDF) ihre Strategie im Gazastreifen verändert.

Wie sollte diese Veränderung aussehen?

Es ist etwa fraglich, ob die israelische Armee den Gazastreifen in der Breite bombardieren muss, um ihre strategischen Ziele zu erreichen. Müssen Häuser von Hamas-Kommandeuren zerstört werden, wenn noch andere Familienmitglieder in dem Gebäude sind, wie es aktuelle Berichte nahelegen? Solche Entscheidungen liegen bei Menschen, die bewerten müssen, ob diese Angriffe angemessen sind. Ich denke nicht, dass die jüngste Strategie für Israel zielführend sein kann.

Im Grunde fordern Israels internationale Partner schon seit zwei Monaten ein Umdenken bei der Militärstrategie. Doch das gibt es offenbar nicht.

Bedauerlicherweise rückt die IDF nicht von ihrer Strategie ab und definiert weiterhin die Absicht, die Hamas auszulöschen. Bei diesen zivilen Opferzahlen kann niemand ernsthaft die Frage nach Verhältnismäßigkeit stellen. Das ist nicht nur lebensbedrohlich für die Zivilisten im Gazastreifen, sondern auch für die israelische Bevölkerung.

Warum?

Weil dieser Krieg den gegenseitigen Hass zwischen Palästinensern und Israelis weiter befeuert und weil Israels Ruf in der Welt darunter zunehmend leidet. Das ist der Nährboden für weiteren Terrorismus. Und neuer Terror stärkt auch extremistische Bewegungen in der israelischen Gesellschaft. Das ist eine schreckliche Entwicklung.

Dementsprechend schützt die israelische Armee mit dieser Strategie nicht einmal nachhaltig die eigene Bevölkerung?

Man kann Terrororganisationen wie die Hamas oder den IS zwar militärisch besiegen, aber es ist schwieriger, die extremistische Ideologie in den Köpfen der Menschen zu bekämpfen. Die aktuelle Tragödie könnte die nächsten Generationen prägen. Auf beiden Seiten der Grenzen wird es zu mehr Hass und Gewalt kommen – das zeichnete sich ja bereits vor dem 7. Oktober zum Beispiel in der Westbank ab.

Damit es eine nachhaltige Lösung des Konfliktes geben kann, müssten Israelis und Palästinenser Kompromisse eingehen. Sehen Sie dahingehend eine Chance?

Natürlich müssen wir darüber nachdenken, was nach diesem Krieg kommen kann. Aber das ist angesichts der aktuellen Lage schwierig. Die Hamas muss kapitulieren, sie muss die Geiseln freilassen und die Bombardements des Gazastreifens müssen aufhören. Auch die Siedlergewalt im Westjordanland muss durch israelische Behörden stärker verfolgt und bestraft werden. Doch selbst dann steht fest: Radikalisierungen wird es auf beiden Seiten geben.

Immerhin gibt es in Israel ein demokratisches Korrektiv, die Palästinenser im Gazastreifen leben in einer Hamas-Diktatur.

Das stimmt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass im Kabinett Netanjahus zwei rechtsextreme Minister sind und das Vorgehen vieler Siedler im Westjordanland absolut inakzeptabel ist. Wenn auf beiden Seiten eines Konflikts radikal feindlich gesinnte Kräfte an der Macht beteiligt sind, die mit Vernichtungsfantasien und fanatischen Positionen mobilisieren, fallen Lösungen schwer.

Sehen Sie denn nach dem Terrorangriff der Hamas eine Offenheit in der israelischen Gesellschaft gegenüber einer Zweistaatenlösung?

Es gibt doch keine Alternative, die international anerkannt werden würde und für Ruhe sorgen könnte. Die Stimmen in der israelischen Bevölkerung werden lauter, die mit dem Kurs von Netanjahu nicht einverstanden sind. Der Frust und der Unmut sind riesig, auch in Israel groß, auch weil ein Hauptziel des Krieges – die Befreiung der Geiseln – bisher nicht erreicht wurde. Deswegen fordert selbst ein Mitglied im israelischen Kriegskabinett, Benny Gantz, inzwischen Neuwahlen. Das halte ich für richtig, weil es für Israel nun auch um eine Kursbestimmung nach dem Trauma des Hamas-Terrors geht. Fest steht nur: Eine Lösung kann es mit der Hamas nicht geben.

Loading...
Loading...

Andererseits werden sich die Palästinenser momentan nicht mit politischen Lösungen beschäftigen. Für die Menschen geht es dort zunächst um Überleben.

Die palästinensischen Stimmen finden im deutschen Diskurs kaum Gehör. Das Leid ist groß, es gibt Tote in fast allen Familien. Aber das Gefühl der Unsicherheit teilen die israelische und die palästinensische Bevölkerung, und das führt vielfach auch zu gegenseitiger Empathie. Zumindest hatte ich bei meinen Gesprächen vor Ort das Gefühl, dass das Mitgefühl für die jeweils andere Seite bei den Menschen ausgeprägt ist, die nah an dem Konflikt dran und davon unmittelbar sind. Je weiter Menschen vom Konflikt entfernt leben, also je distanzierter, desto häufiger waren auf beiden Seiten die Verschwörungserzählungen.

Der Willen für eine nachhaltige Lösung müsste aber auch international vorhanden sein.

Richtig. Vor allem die Staaten, die uns im Umgang mit dem Gazakrieg doppelte Standards vorwerfen und gleichzeitig die Hamas teilweise bejubeln, sollten sich fragen, ob sie in der Vergangenheit selbst genug für die Souveränität eines palästinensischen Staates getan haben. Es ist nicht gerade so, als hätte sich etwa die arabische Welt den Sorgen der Palästinenser über die vergangenen Jahrzehnte offen, transparent und uneigennützig angenommen.

Teilweise nutzen Akteure in der Region auch die Hamas, um Israel zu schwächen.

Die Hamas wird international gefördert. Wenn Katar die Terrororganisation mit 30 Millionen Dollar in bar monatlich unterstützt, ist das Land auch mit dafür verantwortlich, was mit dem Geld passiert. Und das Geld scheint nun nicht allein für den Aufbau von oberirdischer Infrastruktur genutzt worden zu sein. Deswegen ist die gegenwärtige Empörung auch wenig glaubhaft. Viele Akteure haben den Nahostkonflikt einfach nicht mehr sehen wollen, weder Netanjahu noch viele arabische Staaten noch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

Sehen Sie darin auch eine Gefahr, dass sich der Konflikt in der Region ausweiten könnte?

Die Gefahr eines Flächenbrandes war noch nie so groß wie jetzt. In Anbetracht dieser Bedrohung kann die Frage aufkommen, ob die israelische Führung vielleicht die Sicherheit der eigenen Bevölkerung nicht unbedingt im Blick hat. Wenn etwa die israelische Armee offenbar Angriffe auf die iranische Botschaft in Damaskus startet und dabei offenbar auch Diplomaten ums Leben kommen, befeuert das auch die Eskalationsgefahr.

Und eine Eskalation wäre fatal. Nicht nur für die Region, auch etwa für Europa.

Der Nahe Osten ist nicht weit von Europa entfernt, Fluchtbewegungen würden uns primär erreichen. Millionen von Menschen mit biografischen Bezügen zum Nahen Osten leben hier und zeigen sich mit den Menschen in Israel und den palästinensischen Gebieten solidarisch. Deswegen muss auch Deutschland einen großen Krieg im Nahen Osten um jeden Preis verhindern.

Wie?

Mit Diplomatie. Die US-Regierung hat nach dem israelischen Angriff auf Damaskus am 1. April schnell reagiert und klargemacht, dass sie weder daran beteiligt war, noch davon wusste. Das zeigt: Auch die Amerikaner sehen die Gefahr einer Eskalation und versuchen zu deeskalieren. Es ist klar und richtig, dass Deutschland nicht neutral ist und an der Seite Israels steht. Aber es muss auch in unserem Interesse sein, gute Beziehungen in die gesamte Region zu haben.

Setzt Deutschland diese guten Beziehungen nicht aufs Spiel, weil die Bundesregierung den Druck auf die israelische Führung nicht erhöht?

Ja und Nein. Die Staaten in der Region wissen, dass Israel ein enger Verbündeter für Deutschland ist, und sie kennen die deutsche Staatsräson. Sie sehen auch, dass wir versuchen, auf Israel einzuwirken, um die humanitäre Lage im Gazastreifen zu verbessern. Deutlichere Worte kann die Bundesregierung kaum mehr finden. Aber natürlich steigt die Gefahr, dass Russland, der Iran und China ihren Einfluss in der Region ausbauen. Besonders die Chinesen strecken ihren Arm aus.

Dennoch scheint der deutsche Einfluss begrenzt zu sein, viele der Warnungen und Mahnungen an die israelische Führung sind verpufft. Sollte die Bundesregierung Konsequenzen ins Auge fassen?

Welche zum Beispiel?

Die Biden-Administration möchte etwa Waffenlieferungen an Israel an die Einhaltung des Völkerrechts im Gazastreifen koppeln. Wäre das nicht auch eine Möglichkeit für Deutschland?

Es ist erwägenswert, Waffenlieferungen in dieser Situation an Bedingungen zu knüpfen. Wenn Zivilisten mit deutschen Waffen getötet werden, müssen wir uns mit der Frage befassen. Deutschland und die USA müssen aber natürlich im Blick haben, dass sich Israel auch in Zukunft verteidigen kann. Deutschland steht an der Seite Israels im Kampf gegen den Terror. Wir sind solidarisch mit dem israelischen Volk. Das bedeutet aber nicht, dass wir jede Entscheidung der israelischen Regierung unterstützen.

Gleichzeitig erleben wir also neben der humanitären Katastrophe auch Angriffe auf internationale Hilfsorganisationen im Gazastreifen oder die schon angesprochenen Attacken auf iranische Milizen in Syrien. Sollten wir nicht zumindest versuchen, die israelische Führung vor sich selbst zu schützen?

Vor allem Deutschland ist gewiss nicht der Oberlehrer. Israel ist ein souveräner Staat, in dem die Bürger entscheiden. Außerdem denke ich nicht, dass Deutschland überhaupt so viel Einfluss hätte. Das wäre Hybris. Aber die israelische Regierung steht aktuell massiv unter Druck und auch die israelische Bevölkerung leidet darunter, dass das Land mehr und mehr international isoliert ist.

Sie waren auch kürzlich zu Gesprächen in den USA. Auch dort scheint die Stimmung in der Gesellschaft umzuschlagen, US-Präsident Joe Biden gerät immer weiter unter Druck. Welche Folgen hat das für die Solidarität mit Israel?

Sie ist nicht mehr ungebrochen. Ein Anzeichen dafür war auf jeden Fall, dass auch die USA im UN-Sicherheitsrat die Forderung nach einer Waffenruhe nicht blockierten. Biden ist in einem Dilemma. Einerseits steht er an der Seite Israels, andererseits braucht er die Stimmen arabisch-stämmiger Amerikaner bei der kommenden US-Wahl. Ich denke, dass die Stimmung in den USA ähnlich ist wie in Deutschland. Man ist für mehr humanitäre Hilfe und für die Freilassung der Geiseln mit der politischen Perspektive einer Zwei-Staaten-Lösung.

Gibt es denn Angst, dass die USA direkt in einen Krieg hineingezogen werden könne, etwa mit dem Iran?

Die Amerikaner tun vieles, damit das nicht passiert und auch in Teheran scheint es kein Interesse an einer direkten Konfrontation zu geben. Zwar werden die Huthi-Rebellen im Jemen oder die Hisbollah im Libanon vom Iran unterstützt und die greifen bereits in den Konflikt ein. Aber es wäre eine andere Dimension, wenn sich der Iran selbst einschalten würde.

Warum?

Dann hätten wir den angesprochenen Flächenbrand mit verheerenden Folgen. Experten gehen davon aus, dass Teheran in kurzer Zeit über Atomwaffen verfügen könnte, Trägerraketen mit großer Reichweite haben sie bereits. Völlig unklar in diesem Szenario wäre außerdem, wer sich noch beteiligen würde. Wie reagieren Syrien, die Hisbollah oder Erdoğan? Die Türkei ist immerhin Nato-Partner. Es wäre ein hochgefährliches Chaos.

Und das würde auch Deutschland treffen. Wir haben bereits gesehen, welche wirtschaftlichen Folgen der Beschuss der Huthi im Roten Meer hatte.

Nicht nur das. Es würden sich auch viele Menschen wieder auf die Flucht in Richtung Europa machen. Das könnte wiederum auch extremistische Parteien in europäischen Ländern stärken. Es wäre ein chaotischer Dominoeffekt, über den sich die Hamas freuen würde. Dieses Spiel mit einer größeren Eskalation dürfen wir nicht mitspielen und die israelische Führung sollte es auch nicht tun. Die Gefahr eines Flächenbrandes sollten alle Staaten ernst nehmen und die israelische Führung könnte ihr entgegenwirken, wenn sie ihre Kriegsführung anpasst und für den Tag danach einen Plan hätte.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Kaddor.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Lamya Kaddor
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Neueste Artikel



TelekomCo2 Neutrale Website