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Historiker über Russland und China: "Verhältnis könnte schnell abkühlen"


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Russland und China
"Das Verhältnis könnte sehr schnell abkühlen"

InterviewVon Marc von Lüpke

30.03.2024Lesedauer: 9 Min.
Xi Jinping and Wladimir Putin: Historisch gesehen war das Verhältnis zwischen Russland und China meist spannungsreich, sagt Historiker Sören Urbansky.Vergrößern des Bildes
Xi Jinping und Wladimir Putin: Historisch gesehen war das Verhältnis zwischen Russland und China oft spannungsreich, sagt Historiker Sören Urbansky. (Quelle: Maxim Shipenkov/reuters)
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Wladimir Putin zählt auf China in seinem Konflikt gegen den Westen. Doch das Verhältnis zwischen Russland und Peking ist historisch eher schlecht. Die Gründe dafür erklärt Historiker Sören Urbansky.

Auf keinen Staat verlässt sich Wladimir Putin so sehr wie auf China. Gemeinsam streben Moskau und Peking unter Xi Jinping danach, ihre Macht auszuweiten und die bestehende Weltordnung zu demontieren. Doch die Beziehung zwischen Russland und China war in der Vergangenheit oft alles andere als freundschaftlich. 1969 belastete gar ein Grenzkrieg im Fernen Osten das Verhältnis zwischen Moskau und Peking.

Wann waren die Beziehungen zwischen Russland und China gut, wann waren sie schlecht? Wie stabil ist heute die Partnerschaft zwischen Russland und China? Wo bestehen Konflikte fort, wo droht in der Zukunft Streit? Diese Fragen beantwortet mit Sören Urbansky einer der besten Kenner der russisch-chinesischen Beziehungen, der 2023 das Buch "Steppengras und Stacheldraht. Eine Geschichte der chinesisch-russischen Grenze" veröffentlicht hat.

t-online: Professor Urbansky, "grenzenlos" soll die russisch-chinesische "Freundschaft" nach dem Bekunden Wladimir Putins und Xi Jinpings sein. Doch wie eng ist das Verhältnis zwischen Moskau und Peking wirklich?

Sören Urbansky: Russland und China vereint der gemeinsame Gegner – und zwar in Form des Westens und der von ihm geprägten liberalen Weltordnung. Krieg führt allerdings nur Russland, China befindet sich in einer komfortablen Position. Einerseits unterstützt es mehr oder minder offen Russland, andererseits bezeichnet es sich im euphemistisch zum "Konflikt" degradierten Ukraine-Krieg als "neutral".

Russland will sich die Ukraine einverleiben, die Volksrepublik das als "abtrünnig" betrachtete Taiwan. Da hilft es Xi Jinping, wenn Russlands Krieg die USA und ihre Verbündeten erschöpft und auslaugt: Lässt sich die chinesische Strategie so zusammenfassen?

Historiker sind darauf geschult, die Vergangenheit vorherzusagen. Mit Prognosen tue ich mich deshalb schwer. Nur so viel: China beobachtet und lernt, ja. Die Staats- und Parteiführung um Xi Jinping entwirft und modifiziert ihre eigenen Strategien, ebenso wie die Volksbefreiungsarmee. Es geht dabei um Kosten-Nutzen-Analysen und Zeitpläne, wie eine mögliche Invasion Taiwans ablaufen könnte. Xi Jinping will eine "Wiedervereinigung" erreichen – im Idealfall auf friedlichem Wege, zur Not wohl auch mit Gewalt.

Wenn die Wiederherstellung der alten Grenzen Chinas Xi Jinpings Ziel ist, sollte Moskau nicht ebenfalls besorgt sein? Immerhin hat sich Russland im Laufe der Jahrhunderte Territorien einverleibt, die einst zu China gehörten.

Tatsächlich gibt es Bereiche, die Konfliktstoff bieten. Das Verhältnis zwischen Russland und China könnte sehr schnell abkühlen, wenn es von einer oder beiden Seiten so gewollt wird. Bisweilen tritt der starke chinesische Nationalismus deutlich zutage. Ein Beispiel datiert auf das Jahr 2020, als die russische Diplomatie im Internet das 160. Jubiläum der Gründung der Stadt Wladiwostok am Japanischen Meer betonte.

Zur Person

Sören Urbansky, Jahrgang 1980, lehrt Osteuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Zuvor leitete der Historiker das Pazifikbüro des Deutschen Historischen Instituts Washington im kalifornischen Berkeley. Urbansky ist Experte für die Geschichte der chinesisch-russischen Beziehungen, 2023 erschien sein Buch "Steppengras und Stacheldraht. Eine Geschichte der chinesisch-russischen Grenze".

"Beherrsche den Osten" lautet die Übersetzung von Wladiwostok aus dem Russischen.

Entsprechend provokativ wirkt dieser Name auf chinesische Nationalisten, erst recht in Verbindung mit dem hervorgehobenen Jahr 1860 als Gründungszeitpunkt Wladiwostoks. In den sozialen Medien Chinas erhob sich sogleich ein Shitstorm, denn nach chinesischer Auffassung blickt die Stadt auf eine viel längere Geschichte zurück.

Weil das spätere Wladiwostok den Großteil dieser Zeit unter dem Namen Haishenwai zum Kaiserreich China gehörte?

So ist es. Haishenwai bedeutet übersetzt "Seegurkenbucht". Die Annexion der Amur- und Pazifikprovinz durch Russland war eine Demütigung für China, eine Schmach, die bis heute nachwirkt.

Auf chinesischen Landkarten wird Wladiwostok mittlerweile wieder auch als Haishenwai bezeichnet, seit das Ministerium für natürliche Ressourcen in Peking das 2023 so verfügt hat.

Ebenso muss die Insel Sachalin nun als Kuyedao, das Stanowoigebirge als Äußeres Xing’an-Gebirge bezeichnet werden. Das sind bürokratische Nadelstiche gegen Russland, die erst mal folgenlos bleiben, solange Xi Jinping und Wladimir Putin das so wollen. Zugleich haben wir darin aber einen Beleg dafür, dass es historisch selten gut um die bilateralen Beziehungen zwischen Russland und China bestellt gewesen ist. Chinesische Historiker verweisen gerne darauf, dass der Amur bereits in vorchristlichen chinesischen Chroniken Erwähnung findet und Tributbeziehungen zwischen chinesischen Kaisern und den Stammesführern der indigenen Völker der Region seit der Tang-Dynastie, die von 618 bis 907 herrschte, bestanden.

Wann kam es zu den ersten Kontakten zwischen den beiden Imperien?

Russland und China stehen schon seit rund 400 Jahren in Beziehung zueinander, alles begann im 17. Jahrhundert mit vorsichtigen Tastbewegungen seitens Russlands. Moskau entsandte Karawanen gen Peking, die neben Handelswaren auch einen diplomatischen Auftrag mit sich führten. Der erste direkte Kontakt fand im Rahmen einer Reise des Kosaken Iwan Petlin statt, der 1618 Peking erreichte.

Bis zum Kaiser wurde Petlin allerdings nicht vorgelassen. Woran lag es?

Der russische Gesandte hatte keine Geschenke dabei, heißt es. Von offiziellen Beziehungen lässt sich dann wirklich erst ab 1689 sprechen, als Russland und China den Vertrag von Nertschinsk schlossen. Damit definierten die beiden Reiche auch ihre interimperiale Grenze.

Mit Amur, Argun und Ussuri spielen dabei immer drei Flüsse eine besondere Rolle.

So ist es. Die Verständigung war notwendig geworden, weil es im Amurbecken zum Konflikt gekommen war. Überhaupt waren sich immer wieder Kosaken und chinesische Truppen über Jahrzehnte feindlich begegnet, dann demonstrierte China Russland seine Macht. Moskau verzichtete im Vertrag von Nertschinsk schließlich auf bestimmte Gebiete, dafür erhielt es Handelsprivilegien und Zugang zu Peking. Es war übrigens der erste Vertrag, den China mit einer europäischen Macht abschloss. 1727 präzisierte der Vertrag von Kjachta dann noch einmal das zuvor Beschlossene. Entgegenkommen statt Konflikt prägt diese Phase der russisch-chinesischen Beziehungen.

Oder gar eine Form des "Wandels durch Handel", wie es Deutschland über Jahrzehnte gegenüber Russland und zuvor der Sowjetunion praktiziert hat?

Nein, dafür war die ökonomische Verflechtung wohl zu unbedeutend. Wie wichtig der Handel dennoch war, illustriert etwa das russische Wort "Chai" für Tee. Es ist dem chinesischen Begriff "Cha" entlehnt – ein Indiz für den kontinentalen Teehandel. Wir kennen das Getränk als "Tee" – was etymologisch in Südchina zu verorten ist und von den Holländern per Schiff nach Europa gebracht wurde. Russland wiederum verkaufte Pelze an China, etwa aus seiner Kolonie Alaska. Nach den beiden erwähnten Verträgen kam es in Peking zur Einrichtung einer Schule für Russen, die Chinesisch lernen sollten, Russland entwickelte eine sinologische Kompetenz, die allen anderen europäischen Mächten voraus war. Die Beziehungen waren lange Zeit entsprechend gut, wenn auch nicht immer harmonisch.

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Von Harmonie kann aber Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr die Rede sein, wenn wir an die Wegnahme des Amurgebiets durch Russland denken?

Das chinesische Kaiserreich befand sich damals in einer Phase der Schwäche. Die Dynastie der Mandschu kämpfte im Inneren gegen die pseudochristliche Taiping-Sekte und wehrte sich zudem gegen französische und britische Einflussnahme, die gegen letztere in zwei Kriegen mündeten …

… die sogenannten Opiumkriege, die China beide verlor.

Russland nutzte Chinas Schwäche aus, besser gesagt ein junger und ambitionierter Gouverneur Ostsibiriens namens Nikolai Nikolajewitsch Murawjow, der die russische Expansion im Amurbecken quasi im Handstreich forcierte.

Warum?

Es geschah in einem größeren geopolitischen Rahmen: Einerseits ging aus russischer Sichtweise von den Briten im Pazifik Gefahr aus, andererseits bot sich durch die Verfassung Chinas eine Gelegenheit. Zwei Abkommen, der Vertrag von Aigun 1858 und die Pekinger Konvention 1860 besiegelten das veränderte Machtgefüge. Der Name Wladiwostok, "Beherrsche den Osten" kam keineswegs von ungefähr und war geradezu Programm.

Zumal Russland im Westen 1856 im Krimkrieg eine Niederlage erlitten hatte?

Ja. Russlands imperiale Expansion im Osten war auch nicht vorbei und eskalierte weiter. 1898 sicherte es sich das chinesische Lüshun, umbenannt in Port Arthur sollte es als Hafen für die Pazifikflotte dienen, der im Winter nicht zufror. Damit nicht genug, auch die Transsibirische Eisenbahn, das Prestigeprojekt Russlands schlechthin, wurde 1903 mittels einer komplexen diplomatischen Konstruktion durch die Mandschurei gebaut. Also ein Gebiet, das nominell ein Teil Chinas war. Die Demütigungen rissen einfach nicht ab. Es war dann ausgerechnet das ebenfalls landhungrige Japan, das der russischen Expansion durch den Sieg im Russisch-Japanischen Krieg 1905 ein Ende setzte.

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Bald darauf endete sowohl die Herrschaft der Kaiser in Peking wie auch der Zaren in St. Petersburg. China wurde 1912 zur Republik, in St. Petersburg revoltierten 1917 die Bolschewiki unter Lenin. Wie gestalteten sich die Beziehungen der Sowjetunion zu China?

Auch nach dem Untergang der beiden Monarchien blieben die Positionen nahezu gleich: Die Republik China betrachtete allein den Vertrag von Nertschinsk von 1689 als legitimes Grenzabkommen, alle Verträge danach waren für sie "ungleich" – und damit unrechtmäßig.

Die Sowjetunion dürfte das anders gesehen haben?

So ist es. Für Enttäuschung in China sorgte es auch, dass die ihr so lange hörige Mongolei quasi der erste sowjetische Satellitenstaat wurde. Selbst als dann 1949 die chinesischen Kommunisten unter Mao Zedong nach ihrem Sieg im Bürgerkrieg die Volksrepublik ausriefen, waren die Beziehungen zwischen China und der Sowjetunion alles andere als automatisch freundschaftlich – obwohl nun beiden Staaten sozialistisch waren.

Was war der Grund dafür?

Es gibt gleich mehrere. Die Sowjetunion unter Josef Stalin hatte die chinesischen Kommunisten unter Mao Zedong lange Zeit unterschätzt, sie auch entsprechend behandelt. 1949 reiste Mao anlässlich Stalins 70. Geburtstag und zwecks Abschlusses eines Friedensvertrags nach Moskau, es war seine erste Auslandsreise überhaupt. Was aber tat Stalin? Er ließ Mao warten und zappeln.

Bald darauf brach allerdings der Koreakrieg aus, in dem beide Länder kooperierten.

China war in dem Konflikt auf der koreanischen Halbinsel direkte Kriegspartei, die Sowjetunion agierte eher im Hintergrund und mit Waffenhilfe. Daraufhin intensivierten sich die Beziehungen zwischen Moskau und Peking, sowjetische Experten gingen nach China zum Aufbau von Schwerindustrie und Bildungswesen. So weit, so gut. Allerdings gab es bereits damals Risse, nicht zuletzt ideologischer Natur. Die Sowjetunion betonte die Rolle des Proletariats, in China waren es hingegen die Bauern. Die einsetzende Entstalinisierung in der Sowjetunion nach dem Tod des Diktators missbilligte Mao zutiefst.

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Was waren die Folgen?

Das Verhältnis kühlte merklich ab. Die Sowjetunion zog ihre Experten 1960 ab, stellte auch die Hilfe beim Bau einer chinesischen Atombombe ein. Allerdings ist China seit 1964 trotzdem im Besitz dieser Waffe.

Eine bedrohliche Entwicklung, erst recht, weil beide Staaten 1969 einen Grenzkonflikt mit Waffen austrugen.

"Unsere Rechnung für diese Gebiete kommt noch!", hatte Mao Zedong in den Sechzigern mit Verweis auf russisches Territorium östlich des Baikalsees gewettert. Zum Blutvergießen kam es dann allerdings um eine Insel im Grenzfluss Ussuri, Damanskij lautet ihr Name auf Russisch, in China heißt sie Zhenbao. Es ist ein unbedeutendes Eiland, klein und häufig überschwemmt.

Waren diese Eigenschaften der Grund, warum Mao dort den Streit mit der Sowjetunion eskalieren ließ?

Mit hoher Wahrscheinlichkeit. Die Chinesen hätten ebenso gut eine Stadt angreifen können, aber das wollte Mao nicht. Er machte eine Kampfansage an die Sowjetunion, aber ohne tatsächlich die totale Eskalation zu suchen. So wollte er auch von der durch die Kulturrevolution angespannte Lage im Inneren des Landes ablenken und die Hinwendung zu den USA flankieren. Letzten Endes gab es einige Hundert Tote auf beiden Seiten, anstelle von Unzähligen. Es hätte aber brenzlig werden können.

Wann kam es zur Wiederannäherung?

Mao starb 1976, sechs Jahre später Leonid Breschnew, sein Gegenspieler auf sowjetischer Seite. Das sorgte bereits für Entspannung. Unter Michail Gorbatschow normalisierten sich die Beziehungen weiter, die Kontakte wurden intensiver. Das gilt insbesondere für Russland, als die Sowjetunion 1991 kollabierte.

Was wurde aber aus den Grenzstreitigkeiten zwischen der Russischen Föderation und der Volksrepublik?

Beide Seiten legten sie bei. Es kam zu einer konstruktiven Zusammenarbeit, wie sie genannt wurde, dann zu einer strategischen. Besonders intensiv wurde das Verhältnis aber erst unter Wladimir Putin und Xi Jinping.

Aber es ereignete sich doch ein Rollentausch? In den Fünfzigerjahren war die Sowjetunion gewissermaßen der "große Bruder", heute ist Russland auf China angewiesen.

Russland ist der absolute Juniorpartner in dieser Beziehung. Allerdings darf Russland das nicht spüren, jedenfalls nicht zu sehr. Innenpolitisch darf Putin vor seinen Leuten nicht schwach erscheinen, das kann er sich auf keinen Fall leisten. Entsprechend lässt ihn Xi Jinping auf diplomatischer Bühne mitspielen. Das ist hohe Kunst.

Russlands Position gegenüber China verschlechtert sich mit jedem Tag des Krieges in der Ukraine mehr. Hat Putin keine Angst, endgültig den Anschluss zu verlieren?

Russland kann China nicht das Wasser reichen. Allein der Vergleich der Wirtschaftsdaten beider Länder zeigt das, die Einwohnerzahlen ohnehin. China hat die historischen Demütigungen nicht vergessen, wie das Beispiel Wladiwostok zeigt. Putin könnte sich entsprechend noch wundern. Peking wird Pläne haben, was etwa die sich durch die Erderwärmung immer besser nutzbare Nordostpassage oder die Arktis betrifft, wo Russland bislang eine starke Position eingenommen hat.

Würden Sie eine Prognose für die russisch-chinesischen Beziehungen in der Zukunft wagen?

Russland und China verfolgen gemeinsame Interessen, derzeit zumindest. Auch aufgrund ihrer Geschichte ist die Qualität ihrer Beziehung allerdings begrenzt. Aus Partnern können durchaus wieder Rivalen werden.

Professor Urbansky, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Sören Urbansky via Videokonferenz
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