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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Experte Oliver Schulz "Lawrow wurde vom Publikum ausgelacht"
Indiens Bedeutung in der Welt wächst und wächst, Deutschland und der Westen umwerben das Land. Doch Experte Oliver Schulz rät zu Vorsicht und Realismus.
Russland unter Wladimir Putin hat mit dem Westen gebrochen, China wird immer unberechenbarer. Kein Wunder, dass Deutschland seine Beziehungen zu Indien intensivieren will.
Doch welche Ziele verfolgt das bevölkerungsreichste Land der Erde unter seinem Premierminister Narendra Modi, einem Hindu-Nationalisten? Warum herrschen derart große Spannungen innerhalb der Gesellschaft? Und in welcher Hinsicht sollte die Bundesregierung mehr Realismus an den Tag legen? Diese Fragen beantwortet der Journalist und Landeskenner Oliver Schulz.
t-online: Herr Schulz, seit der russischen Invasion der Ukraine 2022 ist Indien umworben wie nie, West wie Ost bemühen sich um das Land. Welche Rolle will Indien aber selbst in der Welt einnehmen?
Oliver Schulz: Indien strebt nach Sicherheit und Wohlstand – und baut seine Stellung in der Welt aus. Im vergangenen Frühjahr haben die internationalen Medien viel darüber berichtet, dass Indien China als bevölkerungsreichstes Land der Erde überflügelt hatte. In Indien selbst sorgte Ende 2022 eine Nachricht für mehr Aufsehen: Das Land konnte Großbritannien von Platz fünf der wirtschaftsstärksten Nationen der Welt verdrängen.
Immerhin war Großbritannien frühere Kolonialmacht des indischen Subkontinents.
Das indische Selbstbewusstsein war dadurch sehr gestärkt, zweifellos. 2027 könnte laut dem Internationalen Wirtschaftsfonds der Schritt auf Platz vier erfolgen: Damit wird Indien Deutschland vom Thron stoßen. Indiens Finanzministerin gab Ende 2022 auch gleich das zukünftige Ziel aus, gar die drittstärkste Wirtschaftsmacht zu werden.
Für wie realistisch halten Sie diese Ambitionen?
Vieles hat sich in Indien zum Positiven gewendet, diese Tatsache ist der Öffentlichkeit auch bewusst. Seit der wirtschaftlichen Öffnung in den Neunzigerjahren gelang es tatsächlich vielen Menschen, wohlhabender zu werden, auch die Infrastruktur hat deutlich profitiert. Allerdings ist die Armut in Indien sowohl auf dem Land wie auch in den Städten nach wie vor geradezu unvorstellbar. Daran hat sich leider wenig geändert, das Bruttoinlandsprodukt Indiens befindet sich nach wie vor weit unter dem Chinas und von anderen Brics-Staaten. Der wirtschaftliche Abstand ist nach wie vor groß.
Oliver Schulz, Jahrgang 1968, ist Indologe, Tibetologe und Soziologe. Der Journalist bereist Indien seit vielen Jahren und veröffentlichte zahlreiche Artikel zu Politik und Gesellschaft des Subkontinents etwa in "Zeit", "Welt" und "taz". Kürzlich ist sein neues Buch "Neue Weltmacht Indien. Geostrategie, Wirtschaftsriese, Wissenslabor" erschienen.
Nun profitiert nicht nur Wladimir Putins enger Verbündeter China von Russlands Bruch mit dem Westen, sondern auch Indien etwa in Form von preiswertem Öl. Welche Haltung nimmt Indien zu diesem Konflikt ein?
Zunächst einmal betrachtet Indien den russischen Krieg gegen die Ukraine als europäischen Konflikt. Was sich gerade beim G20-Gipfel in Neu-Delhi auch deutlich gezeigt hat. Ein Konflikt mit weltweiten Auswirkungen allerdings, die Premierminister Narendra Modi mit seiner Bharatiya Janata Party (BJP) als Vehikel zur Verbesserung des indischen Status betrachtetet. Billiges Öl und zugleich auch Waffenlieferungen aus Russland sind dabei die eine Sache, von Russland und dem Westen zugleich umworben zu werden eine andere. Indien tut, was Indien nutzt. Das ist die politische Logik Modis, dessen Rolle im Westen viel zu naiv gesehen wird.
Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Außenministerin Annalena Baerbock suchen allerdings nicht erst seit dem G20-Gipfel in Indien die Nähe zu Modi.
Modi ist ein Hindu-Nationalist, in seiner BJP gibt es zahlreiche Extremisten, die die Diskriminierung der Muslime im Land weiter verschärfen wollen. Im Land kam es immer wieder zu brutalen Vorfällen, Muslime werden gejagt, weil sie Fleisch von Rindern gegessen haben sollen, die Hindus heilig sind, ein Einwanderungsgesetz wurde erlassen, das sie diskriminiert, in muslimischen Gegenden wurden angeblich illegal gebaute Häuser niedergerissen. Das sollte der Bundesregierung bewusst sein, wenn sie Indien umgarnt. Russland ist so etwas egal, für den Westen sollte es das nicht sein.
Das russische Regime versucht, den Krieg gegen die Ukraine mit fadenscheinigen Vorwürfen zu legitimieren. Die Nato hätte Russland etwa eingekreist und bedroht. Verfangen solche Behauptungen in Indien in irgendeiner Form?
In Indien gibt es dazu schon sehr unterschiedliche Haltungen, obwohl das Land lange strategischer Partner der Sowjetunion war. Als der russische Außenminister Sergej Lawrow im März 2023 im Rahmen des G20-Außenministertreffens in Neu-Delhi die alleinige Schuld an dem Krieg dem Westen gab, wurde er vom Publikum ausgelacht.
Die Szene sorgte in den sozialen Medien für Heiterkeit.
Zu Recht. Tatsächlich hat sich in den weit zurückreichenden Beziehungen zwischen Indien und Russland mittlerweile eine Veränderung ereignet. Früher betrachtete Moskau Indien als Kunden, heute sieht Indien Russland als Rohstofflieferanten. Putin hat nicht mehr die Oberhand. Auch deswegen konnte Modi ihm in der Vergangenheit sagen, dass er mit den Geschehnissen in der Ukraine nicht einverstanden ist. Das war eine jedenfalls relativ klare Ansage an Putin.
Indien war zu Zeiten des Kalten Krieges einer der wichtigsten Ländern innerhalb der sogenannten Bewegung der Blockfreien Staaten, die sich neutral verhalten wollen. In der Gegenwart unterhält Neu-Delhi gute Beziehungen zu Russland, aber auch das bisweilen schwierige Verhältnis zu den USA hat sich gebessert.
In der derzeitigen weltpolitischen Lage ist es von Vorteil, von beiden Seiten umworben zu sein. Indien denkt an sich selbst – das hat damit mit dem gestiegenen Selbstbewusstsein und dem Gefühl der Souveränität zu tun.
Nun hatten die USA dem Hindu-Nationalisten Narendra Modi einst noch ein Visum versagt, weil er 2002 anti-muslimische Ausschreitungen im damals von ihm regierten Bundesstaat Gujarat nicht gestoppt hatte.
Es war just in einem Zeitraum, als sich Washington und Neu-Delhi wieder annäherten. Wegen der Furcht vor islamistischem Terror, aber auch durch Waffendeals. Wobei die USA bis heute immer wieder irritiert sind wegen Indiens guten Beziehungen etwa zu sogenannten Schurkenstaaten wie Iran.
Das Verhältnis zu China wiederum ist dafür eher gespannt. Für Irritation, wenn nicht gar Ärger, sorgte das Fernbleiben des chinesischen Präsidenten Xi Jinping beim G20-Gipfel in Indien.
Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Tatsache ist aber, dass die Beziehung zwischen Indien und China in unterschiedlicher Intensität von Spannungen geprägt ist.
Könnte die Intensität zu einem erneuten militärischen Konflikt wie dem Grenzkrieg von 1962 zwischen den beiden Staaten führen?
Der Konflikt ist zweifelsohne existent, aber bei der tieferen Analyse weniger bedrohlich, als es den Anschein hat. Ja, immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen, chinesische und indische Soldaten töten einander – aber mit den Händen oder Knüppeln, weil der Einsatz von Schusswaffen einen echten Krieg nach sich ziehen würde.
Das deutet doch auf ein hohes Eskalationspotenzial hin? Beide Staaten sind Atommächte.
Der Konflikt eskaliert aber bislang nicht weiter, trotz immer wieder auftretender gewalttätiger Auseinandersetzungen an der Grenze. Denn worum streiten Peking und Neu-Delhi eigentlich? Es handelt sich um große Gebiete im Hochgebirge, deren Grenzen in der Kolonialzeit gezogen worden, die aber derart karg und menschenleer sind, dass sich bestenfalls noch die dort lebenden Nomaden auskennen. Der eigentliche Wert dieser Regionen ist strategischer Natur, Kaschmir eröffnet den Zugang zu Tibet, das China in den Fünfzigerjahren unterworfen hat, und zum Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang.
Deswegen bauen beide Staaten jeweils die militärische Infrastruktur auf ihren Seiten der Grenze aus.
Man will vorbereitet sein für den Ernstfall. Aber trotz aller Scharmützel halten sich sowohl Indien als auch China stets an alle geschlossenen Abkommen, auch die Wirtschaftsbeziehungen bleiben unberührt. Also scheint doch ein großes Interesse am Status quo zu herrschen. In China selbst rufen Regierung und Staatsmedien nach Zwischenfällen an der Grenze dazu auf, die Ruhe zu bewahren.
Und wie ist es in Indien in einem solchen Fall?
In Indien verbrennen Hardliner chinesische Fahnen und rufen zum Krieg auf. Politiker verdammen die Vorkommnisse, aber am Ende passiert wenig. Denn einen Krieg will im Grunde niemand, das würde die Aufstiegspläne beider Seiten stören. Vor allem die Neu-Delhis, denn das Land will eine wirtschaftliche Supermacht werden.
Nun bewahrt Indien in Bezug auf Russlands Krieg gegen die Ukraine Neutralität, zugleich ist es aber sehr an der Eindämmung Chinas interessiert. Und setzt deswegen auf Kooperation mit den USA. Wie groß ist die Enttäuschung der Amerikaner?
Indien hat konkrete Interessen im asiatisch-pazifischen Raum, vor allem will es Stabilität. Das Gleiche beabsichtigen die Vereinigten Staaten. In Sachen Russland und Ukraine hat Indien andere Vorstellungen. Damit müssen die USA leben. Das auf dem G20-Gipfel verkündete große Infrastrukturprojekt zur Intensivierung des Schienen- und Schifffahrtstransports zwischen Europa, Nahem Osten und Indien als Konkurrenz zu Chinas "Neuer Seidenstraße" ist sicher ein Erfolg für beide Seiten, der aber auch erneut deutlich macht, dass Indien vor allem tut, was ihm selbst nutzt.
Im Westen Indiens wird auch Pakistan von dem Infrastrukturprojekt profitieren, beide Länder betrachten sich als Erzfeinde. Wie steht es um diesen Konflikt?
Pakistan ist schwächer geworden, seit es die Unterstützung der USA nach deren Rückzug aus Afghanistan weitgehend verloren hat. Auch hat das Land mit inneren Konflikten zu tun. Insofern ist der Konflikt mit Indien zumindest derzeit ruhiger geworden.
Allerdings nehmen die inneren Konflikte innerhalb Indiens zu.
Indien hat eine lange multiethnische und multireligiöse Tradition, der Hindu-Nationalismus hat diese nun ausgehebelt. Ohne dass groß darüber gesprochen wird, außer in Hassreden. Selbstverständlich war das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen über die Jahrhunderte nicht immer konfliktfrei, aber wir beobachten derzeit doch eine Eskalation.
Wie gefährdet ist die eigentlich als säkular angelegte Demokratie des Landes?
Die Demokratie an sich wird in Indien weiter bestehen, die Prozesse funktionieren. Jetzt kommt das Aber: Vor allem funktionieren sie für Hindus, es besteht die Gefahr, dass Muslime und andere Minderheiten immer weiter ausgeschlossen werden. Indien könnte eine sogenannte ethnische Demokratie werden, von der nur Hindus profitieren. Das ist meine Befürchtung. Dabei war alles einmal anders.
Wann?
Bei meinen Reisen nach Indien in den Achtzigern und frühen Neunzigern war ich beeindruckt, wie sehr sich dieses riesige Land mit seinen unterschiedlichen Ethnien und Religionen als homogen empfunden hat. Es gab ein Fundament, das etwa Hindus und Muslime verbunden hat.
Dieses Fundament existiert nicht mehr?
Man kann es auch heute noch finden, durchaus auch bei jungen Leuten. Nur haben leider die Radikalen die Oberhand gewonnen. Mein Interesse für Indien erwachte seinerzeit tatsächlich durch die Tatsache, dass dort unterschiedliche Kulturen derart friedlich miteinander lebten.
Dieses Bild von Indien scheint auch heute noch die deutsche Politik gegenüber dem Land zu leiten.
Da ist dringend mehr Realismus geboten.
Es stellt sich aber die Frage, wie es Narendra Modi gelungen ist, die indische Gesellschaft und Politik so zu deformieren.
Modi hat es vermocht, die Lücke zwischen den eher spirituell gesinnten Hindus und denjenigen, die Wohlstand erwerben wollten, zu schließen. Er bedient einen radikalen Hindu-Nationalismus und konnte gleichzeitig auf eine florierende Wirtschaft verweisen, obwohl das nicht das Verdienst der Hindu-Nationalisten war. Indien haben sie auf andere Weise verändert.
Haben Sie ein Beispiel?
Es ging um die Jahrtausendwende los. Zuvor bin ich einfach eingereist, aber irgendwann wurden mir Fragen gestellt. Wer ich sei, was ich denn veröffentlicht hätte? Ich bekam keine Touristenvisa mehr ausgestellt, es sei denn, ich versicherte, dass ich nicht als Journalist tätig sein würde. Auch das Auftreten von Offiziellen veränderte sich, etwa von Zollbeamten. Früher war die Verständigung per Englisch kein Problem, später nur noch möglich, weil ich Hindi einigermaßen beherrsche. Mittlerweile gibt es eine Art antiwestliche Einstellung, die weit in die Gesellschaft vorgedrungen ist.
2024 wählen die Inderinnen und Inder ein neues Parlament. Besteht die Chance auf Veränderung?
Ich bin pessimistisch. Die Gesellschaft hat sich verändert, Städte wurden umbenannt, Schulbücher umgeschrieben im Sinne des Hindu-Nationalismus. Menschen muslimischen Glaubens werden benachteiligt, es herrscht eine Stimmung, in der sich die Opposition fürchtet, ihren Mund aufzumachen. Aber man soll die Hoffnung nicht aufgeben.
Herr Schulz, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Oliver Schulz via Videokonferenz