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Nach Wagner-Aufstand: "Putin kann Prigoschin nicht am Leben lassen"


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Offensive der Ukrainer
"Putin hat nichts mehr in der Hinterhand"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 30.06.2023Lesedauer: 7 Min.
Ukrainische Artillerie: Mit Nadelstichen soll die russische Armee zermürbt werden, sagt Militärexperte Marcus Keupp.Vergrößern des Bildes
Ukrainische Artillerie: Mit Nadelstichen soll die russische Armee zermürbt werden, sagt Militärexperte Marcus Keupp. (Quelle: Sofiia Gatilova/reuters)
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In der Ukraine befindet sich Russland in der Defensive, dann rebellierte Jewgeni Prigoschin mit seinen Söldnern. Wie beschädigt ist Wladimir Putins Macht? Militärexperte Marcus Keupp analysiert die Lage.

Söldnerchef Jewgeni Prigoschin forderte Wladimir Putin offen heraus – und das während der laufenden Offensive der Ukraine. Weit Richtung Moskau hatten es die Söldner geschafft, bis der Wagner-Aufstand endete. Wird sich Putins Regime von dieser Blamage erholen? Wie steht es um die russische Armee? Und was planen die Ukrainer? Militärexperte Marcus Keupp beantwortet diese Fragen im Gespräch.

t-online: Herr Keupp, Jewgeni Prigoschin hat mit seinen Wagner-Söldnern den Aufstand geprobt. Was lässt sich aus der Kurzzeitrebellion über den Zustand der russischen Armee ablesen?

Marcus Keupp: Putin hat nichts mehr in der Hinterhand. Das gesamte schwere Material der russischen Armee steht in der Ukraine – und davon dürften rund zwei Drittel des Vorkriegsbestandes mittlerweile zerstört worden sein.

Wie wirkte sich der Wagner-Aufstand auf die Front in der Ukraine aus?

Truppen, die am vergangenen Freitag noch im Raum Luhansk und Donezk gestanden hatten, waren am Samstag nicht mehr da. Erst rückten die Wagner-Söldner ab, dann folgten ihnen die Putin-treuen Tschetschenen. Das bedeutet, dass im rückwärtigen Raum der Front zumindest für einige Stunden ein Loch entstand.

Eine günstige Gelegenheit für die ukrainische Armee …

Die Ukrainer haben selbstverständlich versucht, diese Situation auszunutzen. Gleichzeitig hofften sie aber darauf, dass Prigoschin den Kreml für Tage, besser noch Wochen beschäftigen würde. Fest steht, dass Putin bei erneuten Unruhen seine Gewaltmittel aus der Ukraine zurückholen muss, um sein Regime zu stabilisieren. Er steht gerade ziemlich blank da, es ist offensichtlich, wie ausgedünnt die russischen Kräfte sind.

Prigoschin hätte es mit hoher Sicherheit ziemlich nahe an Moskau herangeschafft.

Davon ist auszugehen. Die weitere Entwicklung bleibt ebenfalls spannend. Prigoschin ist angeblich in Belarus gesichtet worden, von Putin hat er Pardon erhalten. Aber die Wagner-Gruppe hält sich noch immer im Raum Rostow am Don auf, zwei Flugplätze sind weiterhin von ihr besetzt. Wird Wagner das alles freiwillig wieder hergeben? Wir werden sehen.

Marcus Keupp, Jahrgang 1977, ist Dozent für Militärökonomie an der Militärakademie der ETH Zürich. Der habilitierte Betriebswirt geht in seiner Forschung klassischen militärökonomischen Fragen nach und befasst sich auch mit der Sicherheit von Versorgung und kritischer Infrastruktur. 2019 erschien sein Buch "Militärökonomie", das inzwischen auch in englischer und französischer Sprache erhältlich ist.

Lange Zeit galt Wladimir Putin im Westen als unumschränkter Herrscher Russlands, nun zeigt die Wagner-Rebellion seine Schwäche auf. Was sagt das über die Machtstrukturen im Land aus?

Mindestens seit 2011 haben Putin und die sogenannten Silowiki, also seine Gefolgsleute aus Sicherheits- und Geheimdienstapparat, Russland in relativer Ruhe kontrollieren können. Das funktionierte aber nur, weil sie nach außen Stärke und Geschlossenheit ausgestrahlt haben – und jedem bewusst war, dass Putin als Boss die Entscheidungen trifft.

Andersdenkende bereuten es in der Regel schnell.

Wer selbst Ambitionen auf den Chefsessel hatte oder auch nur Entscheidungen hinterfragte, wurde kurzerhand umgebracht. Und das nicht nur auf höchsten Funktionärsposten, sondern auch weit darunter. Denken wir an die 2006 in Moskau erschossene Journalistin Anna Politkowskaja oder den 2018 in Großbritannien mit Nowitschok vergifteten Ex-Doppelagenten Sergei Skripal. Keiner ist sicher, darin bestand Putins unmissverständliche Botschaft.

Politischer Mord ist in Russland aus historischer Sicht keineswegs ungewöhnlich.

Das ist der Punkt. Diese Brutalität ist keineswegs nur für Putin spezifisch, sondern erscheint immer wieder in der russischen Geschichte. Peter der Große ließ seinen Sohn zu Tode foltern, Katharina die Große putschte nicht nur gegen ihren Ehemann, später ließ sie ihn auch beseitigen. Von Josef Stalin und anderen wollen wir gar nicht erst anfangen. So beklemmend es auch ist, das ist die Art und Weise, in der Russland funktioniert. Sein politisches System gründet auf Gewalt.

Zu dieser war Putin während des Aufstands von Jewgeni Prigoschin anscheinend nicht in der Lage.

Putin kann Prigoschin gar nicht am Leben lassen, denn sonst steht er als noch schwächer da als ohnehin schon. Diese Posse mit dem Exil in Belarus bot sich nun als gesichtswahrende Zwischenlösung an. Allerdings dürfte mittlerweile vielen Leuten in Russland die Idee gekommen sein, dass Putin nicht mehr ganz fest im Sattel sitzt. Eigentlich hätte Putin Prigoschin spätestens am Sonntag liquidieren müssen, um seine Chefrolle durchzusetzen.

Entweder ist Putin also tatsächlich schwach wie selten zuvor oder Prigoschin genießt zumindest im Moment einen gewissen Schutz.

So oder so zeigt sich, dass die Annahme von der Stabilität des russischen Regimes nichts anderes als ein Märchen ist. Es ist ein einziges Chaos, wenn wir genau hinblicken. Erst hieß es, dass die Ermittlungen gegen Prigoschin eingestellt worden wären, dann widerspricht der FSB. Es geht weiter hin und her. Später verleiht Putin Orden an Verteidigungsminister Sergei Schoigu und loyale Truppen für ihren Einsatz und lobt sie dafür, einen Bürgerkrieg verhindert zu haben. Nur um sich später an die Wagner-Söldner zu wenden, mit dem Hinweis, dass sie das nicht hätten tun dürfen. Aber sie doch auch irgendwie Patrioten wären. Das macht doch niemand, der sich seiner Macht absolut sicher sein kann.

Sicherlich ist Putin im Augenblick darum bemüht, seine Machtbasis wiederherzustellen.

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Machtstrukturen in Russland beständig im Fluss sind. Es gibt Fraktionen, die miteinander um Macht und Einfluss ringen – das ist eine Kontinuität in der russischen Geschichte. Völlig egal, ob es Adlige, kommunistische Funktionäre oder wie im heutigen Russland Kriminelle oder ehemalige Geheimdienstler sind. Der Mechanismus ist immer der gleiche.

Halten Sie es für wahrscheinlich, dass Putin sich von den Ereignissen rund um Wagner erholen kann?

Nein. Putins Herrschaft ist ins Wanken geraten, es hat ein Prozess begonnen, indem einige begonnen haben, an seiner unumschränkten Macht zu zweifeln. Das bedeutet nicht, dass ihm die Kontrolle sofort völlig entgleitet. Aber er muss nun Zugeständnisse machen und Kompromisse schließen. Anscheinend gibt es Fraktionen in Russland, die ihm gedroht haben. Was Prigoschin vermutlich das Leben gerettet hat. Vorerst. Viele Leute wollen eine Rechnung mit Putin begleichen.

Wäre eine Militärrevolte denkbar? Wie Sie eingangs beschrieben haben, sind die Verluste der russischen Armee bei geringen Erfolgen massiv.

Einen Militärputsch halte ich für weniger wahrscheinlich, das russische Militär ist genau wie Russland selbst kein monolithischer Block. Es gibt Fraktionen, die eigene Gewaltmittel haben und sich bekämpfen. Russland hat auch noch keinen erfolgreichen Militärputsch erlebt. 1825 scheiterten die Dekabristen gegen den Zaren, auch der chaotische Kornilow-Putsch – bis heute ist nicht ganz klar, was er eigentlich bezwecken sollte – führte 1917 keinen Machtwechsel herbei.

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Könnte Putin heute eine solche Revolte niederschlagen?

Putin verfügt im Gegensatz zu den Sowjets über keinen monolithischen Parteiapparat, keine alles durchdringende Geheimpolizei, und auch auf die Unterstützung der Zivilbevölkerung sollte er besser nicht hoffen, denn ironischerweise hat sein System sie zur Passivität erzogen. Nun zeigen sich erste Risse – bestimmte Leute werden das zu nutzen wissen, und die Zivilbevölkerung wird am Ende demjenigen folgen, der sich im Machtkampf durchsetzt.

Kommen wir noch einmal auf die ukrainische Offensive zu sprechen: Im Westen herrschen Vorstellungen von großen Panzerschlachten und breit angelegten Frontdurchbrüchen. Derart verlustträchtige Operationen vermeidet die ukrainische Armee wohlweislich.

Womit sie auch gut beraten ist. Den Großteil ihrer schweren Mittel hat die Ukraine auch noch gar nicht eingesetzt. Wir befinden uns noch in einer Phase, in der die ukrainische Armee die russische Front testet: Wo sind die Schwachstellen, wo kommen wir am ehesten durch? Anschließend werden die Ukrainer einen, aber höchstens zwei bis drei Sektoren definieren und ihre schweren Mittel einsetzen. Dann erst kommt der mechanisierte Durchbruch.

Mit der Überquerung des Dnipro und der Errichtung eines kleinen Brückenkopfes hat die ukrainische Armee einen Achtungserfolg erzielt.

Diese Operation ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Zunächst konnten ein paar Dutzend ukrainische Soldaten, wahrscheinlich aus Spezialeinheiten, den Dnipro überqueren und sich zwischen dem sumpfigen Ufer und dem Ort Oleschky festsetzen. Ihnen stehen dabei neun russische Brigaden gegenüber, mit circa 20.000 Mann – oder besser gesagt standen, bevor der Damm von Nowa Kachowka gebrochen ist und deren Stellungen teilweise überschwemmt hat. Nun sollte man meinen, dass die Russen ihre Kräfte kurz anspannen und die Ukrainer ganz schnell wieder über den Dnipro zurückwerfen würden. Das ist bis jetzt aber nicht geschehen.

Video | Karte zeigt die heftigsten Gefechte: Hier gelingt den Ukrainern ein Durchbruch
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Quelle: t-online

Vielleicht sind sie im Augenblick nicht dazu in der Lage.

Auf jeden Fall bekommen wir einen Eindruck davon, wie stark die Abnutzung der russischen Truppen mittlerweile fortgeschritten sein muss. Was aber nicht heißt, dass die Ukraine jetzt in einem großen Bogen komplett angreift. Sie versuchen stattdessen, die Russen durch unablässige Nadelstiche zu zermürben. Meinen Schätzungen zufolge sind zwei Drittel der russischen Kampfpanzer bislang zerstört worden: Was bedeutet, dass die Russen mit immer weniger Kampfmitteln eine unverändert lange Front verteidigen müssen. Ähnliche Verlustrechnungen kann man auch für Infanteriefahrzeuge und Artillerie anstellen.

Nicht nur das, die Ukraine ist eifrig darum bemüht, den russischen Nachschub zu stören.

Es ist bemerkenswert, wie die Ukraine in den letzten Tagen mittels Marschflugkörpern vom Typ Storm Shadow die Eisenbahnlogistik nicht nur auf der Krim, sondern auch in den Oblasten Cherson und Saporischschja angegriffen hat. Partyzany, ein kleiner Ort nördlich der Krim, ist da ein gutes Beispiel. Dort gab es riesige Lagerhäuser, von denen wir jetzt wissen, dass sie bis obenhin mit russischer Munition gefüllt gewesen sind.

Von der nichts mehr übrig ist nach einem ukrainischen Angriff.

Genau. Die Satellitenfotos zeigen, dass die Gebäude verschwunden und Eisenbahngleise geradezu weggeschmolzen sind. Für die Russen ist das ein strategischer Verlust, denn dort verlief ihre Hauptversorgungsachse. Der Nachschub kam aus Rostow am Don, geht über Krasnodar und die Brücke von Kertsch auf die Krim, die als lokales Logistikzentrum dient, und von dort dann weiter. So wurde die gesamte Südfront versorgt.

Der russischen Armee wird vor größeren Operationen also zunächst der Nachschub abgeschnitten.

Irgendwann stehen sie ohne Versorgung da, richtig. Ein einzelner Bienenstich ist nicht tödlich, aber Tausende davon? Die Russen müssen nun ihre Munition rationieren im Wissen, dass erst mal wenig nachkommen wird und nicht mehr viele Ausweichrouten existieren. Daher hat die Ukraine auch die Brücke von Chongar beschossen, um die Logistik der Russen weiter auszuhungern. Und irgendwann müssen sich die russischen Soldaten einmal die Sinnfrage stellen: Wenn uns niemand mehr versorgen kann, was machen wir eigentlich noch hier?

Herr Keupp, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Marcus Keupp via Videokonferenz
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