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Putins Propaganda: Hat er sich eine Lüge zu viel geleistet?


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Propagandafabrik Kreml
Hat sich Putin nun eine Lüge zu viel geleistet?

MeinungVon Wladimir Kaminer

09.09.2022Lesedauer: 5 Min.
Wladimir Putin (Archivbild): Russlands Machtclique will sich an der Spitze halten, meint Wladimir Kaminer.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin (Archivbild): Russlands Machtclique will sich an der Spitze halten, meint Wladimir Kaminer. (Quelle: Xander Heinl/imago-images-bilder)

Ein endloser Strom aus Unwahrheiten überflutet Russland, möglicherweise hat es Wladmir Putin etwas übertrieben. Denn manche Russen durchschauen ihn.

Die aktuellen Umfragen aus Russland zum Krieg verwirren. Angeblich seien 65 Prozent der Bevölkerung dafür, die Kriegshandlungen zu intensivieren und Kiew auf Teufel komm raus zu bombardieren. Für ein sofortiges Aufnehmen von Friedensverhandlungen sind ebenfalls über 60 Prozent.

Beobachter sprechen von der geheimnisvollen russischen Seele, die selbst nicht genau weiß, was sie eigentlich will. Die Wahrheit lautet: Die Menschen in Russland sind müde vom Krieg – vor allem aber von der andauernden Hysterie in der Berichterstattung.

(Quelle: Frank May)

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Am 21. September 2022 erscheint sein neues Buch "Wie sage ich es meiner Mutter: Die neue Welt erklärt: von Gendersternchen bis Bio-Siegel".

Der Rückhalt in der Bevölkerung für Wladimir Putins "spezielle Operation" schwindet, die Menschen wollen ihr schnelles Ende, egal wie. Ob die Armee dafür die ganze Ukraine zerbomben oder sich einfach umdrehen und zurückfahren soll, ist ihnen egal. Hauptsache, die Hysterie in den Medien endet.

Die Führung im Kreml hört die Signale und reagiert dementsprechend. Zum ersten Mal seit sechs Monaten sind im russischen Ersten Programm wieder Unterhaltungssendungen erlaubt. Fast ein halbes Jahr wurde im Ersten nicht mehr gesungen und getanzt, es liefen ganztägig nur Nachrichten, angeblich entlarvende Dokus über den hinterhältigen Westen, der sich gegen Russland verschworen habe, und alte Kriegsfilme in Schwarz-Weiß.

Ist für Putin Wikipedia schuld?

Abends dann patriotische Talkshows über die neue Weltordnung mit Russland an der Spitze. Die nun erlaubten Unterhaltungsprogramme sind nicht wirklich unterhaltsam, viele Komiker, die früher Late-Night-Shows moderierten, die Sänger, die Stand-up-Comedians, die namhaften Witzbolde des Landes haben Russland verlassen. Nun wurden eilig neue gesucht, sie sind aber bei Weitem nicht so lustig wie die alten.

Es gibt auch keine Klarheit, welche Witze einen in den Knast bringen und welche nicht. In den letzten dreißig Jahren der relativen Freiheit haben die russischen Unterhaltungskünstler die Selbstzensur ein wenig verlernt. Selbst im endlosen "Haus II", einer russischen Realityshow, knutschen die Kandidaten nur noch und sprechen aus bloßer Vorsicht gar nicht mehr miteinander. Die Propaganda-Talkmaster fahren zusammen mit politischen Vertretern der Regierungspartei durch das Land und sind nun live auf etlichen Bühnen zu sehen, sie veranstalten Kongresse mit solch fragwürdigen Titeln wie "Patriotismus statt Toleranz" und halten Vorträge über "Wikipedia: die Quelle der Russophobie".

Der eigentliche "Zweck" der ins Stocken geratenen "Spezialoperation" ist als Thema aus allen Formaten verschwunden. Seit Beginn des Krieges hat sich dieser ohnehin mehrmals gewandelt. Anfangs ging es darum, dem angeblichen unvermeidlichen Angriff der Ukrainer, den sie mit westlicher Unterstützung geplant hätten, zuvorzukommen. Es ging um Stunden, höchstens Tage, dann hätten sie uns angegriffen, behaupteten der Präsident und seine Generäle.

Diese Erklärung hielten nicht alle für ausreichend. Viele hätten lieber gewartet, bis die Ukraine angreift, dann hätte Russland jedes Recht gehabt, sich zu wehren. Später ging es dann in der Kremlpropaganda um eine Atomwaffe, die die Ukraine habe anschaffen wollen, um ihre Krim wiederzubekommen. Höhepunkt waren dann Gerüchte um "Biolabore" auf ukrainischem Territorium, in denen amerikanische Wissenschaftler mit einem Virus verseuchte, genetisch manipulierte Fledermäuse gezüchtet hätten, die nur Russen töten sollten.

Russland macht "Schluss" mit dem Westen

Eine Zeit lang dominierten diese Biolabore die Berichterstattung. Inzwischen sind auch sie vergessen, verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Es geht nur noch darum, dass Russland einen eigenen Weg gehen solle, sich vom globalen Westen abschotten müsse, schon aus patriotischen Gründen. Der Westen ist böse und wir sind gut, so heißt es.

Das ist neu. Die letzten gut 500 Jahre versuchte sich Russland auf dem westlichen Weg zu modernisieren, die russischen Zaren und die sowjetischen Führer, ob Peter der Große oder Josef Stalin, gaben sich große Mühe, das Land mit westlichen Technologien zu modernisieren. Damit ist jetzt Schluss. Der Westen habe uns den Krieg erklärt, behaupten die staatstreuen Medien unisono.

Dieser Krieg soll zum Normalzustand der Gesellschaft werden, um den großen Machttransit zu ermöglichen – nicht von Putin zum nächsten Putin, dafür brauchte man diesen Konflikt nicht. Es geht darum, das gesamte Machtpaket samt wirtschaftlicher Ressourcen in den Händen einer kleinen überschaubaren Gruppe ehemaliger Sicherheitsoffiziere zu festigen, damit sie das Land an ihre Nachkommen vererben können wie ihr Eigentum. Eine anspruchsvolle Aufgabe. Zu diesem Zweck wird der "Patriotismus" missbraucht, um die Jugend von morgen bereits heute zu neutralisieren.

In den Schulen ist seit Beginn des Schuljahres am 1. September die "Stunde der Patrioten", offiziell "Patriotische Stunde. Gespräche über das Wichtigste" genannt, eingeführt worden, sie muss ab sofort jeden Montag vor Beginn des Unterrichts stattfinden. Das Bildungsministerium veröffentlichte dazu Anweisungen, auch die Themenauswahl fürs Lernpersonal. Am ersten Montag des Schuljahres ging es um die tapferen russischen Soldaten, die ihre Heimat in der Ukraine gegen die dortigen Nationalisten verteidigen. Aha ... Der Präsident war persönlich nach Kaliningrad gereist, um dort in einer Schule die patriotische Stunde vor Kleinkindern abzuhalten.

Nur ein "treuer" Diener

Vieles an dem neuen Lernmaterial ist gar nicht neu, sondern aus den Schubladen der Sowjetunion geklaubt. Ich ging in den Siebzigerjahren zur Schule, damals zwang man uns, die Lebensläufe von "Pionierhelden" zu lernen. Es waren meistens Kinder, die Faschisten in einen Hinterhalt lockten und dafür mit ihrem Leben bezahlten. Die Propagandisten haben nun neue Kinderhelden aus dem alten Material gemacht. Es wird den Lehrern empfohlen, etwas über das "Kind Romanow" zu erzählen, das ukrainische Nationalisten auf ein Minenfeld lockte.

Anders als in den alten Märchen, in denen am Ende alle draufgingen, stirbt in den neuen niemand mehr. Das Kind ist erfolgreich entkommen und die Nationalisten haben ihre Situation als hoffnungslos verloren anerkannt und sich ergeben. Andere Völker sind eben schwächer, sie ergeben sich, wenn es hart auf hart kommt, nur die Russen kämpfen bis zum letzten Pionier, lautet die Botschaft.

Der Präsident erzählte der Kaliningrader Jugend von seiner Zeit in Dresden, wo er als Spion tätig war. Es ging ihm nie darum, etwas zu werden, eine Kariere zu machen oder Geld zu verdienen, so der Präsident. Er war einfach nur glücklich, seiner Heimat nützlich sein zu dürfen. Das war die größte Auszeichnung, die er sich erhoffen konnte. Sein Leben lang war Putin immer bereit, dorthin zu gehen, wo sein Land ihn brauchte. Und diese Bereitschaft hat ihn in den Kreml geführt, wo er nun schon seit 22 Jahren sitzt. Es lohnt sich also auf jeden Fall, der Heimat zu dienen.

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Auf den Bildern sahen die Kinder etwas verwundert aus. Verständlich. Sie haben die "Stunde der Patrioten" zum ersten Mal erlebt. Wir hatten sie acht Jahre lang und mussten schon nach zwei Monaten bei jedem "Pionierhelden" kotzen, die Verlogenheit der Erwachsenen fanden wir abstoßend. Die Kinder von heute sind nicht blöd, im Gegenteil, sie sind klüger als wir, sie haben mehr gesehen und wissen Bescheid. Die "Stunde der Patrioten" rettet das Regime nicht.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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