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Indien steigt auf: Nicht mehr der stille Beobachter


Nicht mehr der stille Beobachter
Indien bleibt unbequem


12.04.2025 - 10:35 UhrLesedauer: 5 Min.
SRI LANKA-INDIA/Vergrößern des Bildes
Narendra Modi: Der Ministerpräsident baut Indiens Einfluss weiter aus. (Quelle: Thilina Kaluthotage/reuters)
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Während die USA neue Zölle verhängen, knüpft Indien neue Allianzen. Die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft könnte so noch ein Problem für die EU werden.

"Die Tugenden der alten Weltordnung sind überbewertet", sagte Indiens Außenminister S. Jaishankar Mitte März auf einer Konferenz in Neu-Delhi. Regelmacher und Regelnehmer hätten unterschiedliche Perspektiven, und Indien habe oft am empfangenden Ende dieser Regeln gestanden. "Wenn der Westen in andere Länder eingreift, geschieht das angeblich im Namen der Demokratie. Wenn andere dasselbe tun, gilt es als böswillig. Eine globale Ordnung braucht Fairness – und eine grundlegende Konsistenz der Standards."

Indien ist nicht mehr der stille Beobachter globaler Machtspiele. Es ist Akteur mit eigener Agenda. Das Land wird umworben: von den USA, die es als Gegengewicht zu China sehen, und von Europa, das seine wirtschaftlichen Abhängigkeiten diversifizieren will. Doch Indien bleibt unbequem: Es hält Distanz zum Krieg in der Ukraine, zum Konflikt in Nahost – und zur westlichen Erwartung, sich eindeutig zu positionieren. Gleichzeitig zeigt sich: Europa, insbesondere Deutschland, hat diese Entwicklung lange unterschätzt und beginnt erst jetzt, das Potenzial dieser Partnerschaft wirklich zu erkennen.

"Nicht einfach ein Aufstieg"

"Indien ist heute ein selbstbewusster, zivilisatorischer Akteur", sagt Amrita Narlikar. Die Politikwissenschaftlerin kennt beide Seiten: Zehn Jahre lang leitete sie das renommierte GIGA-Institut in Hamburg, zuvor hatte sie eine feste Stelle an der Universität von Cambridge inne. Heute lebt und forscht sie wieder in Neu-Delhi. "Was wir erleben, ist nicht einfach ein Aufstieg, sondern Emanzipation."

Europa, sagt Narlikar, habe lange ein verzerrtes Indienbild gepflegt – wenn es das Land überhaupt ernst nahm. "Als ich in Deutschland ankam, war ich erstaunt, wie wenig substanzielle Diskussion es über Indien gab. Stattdessen kam in Vorträgen über Multilateralismus regelmäßig die Frage: 'Ist es nicht gefährlich, als Frau in Indien zu leben?'"

Die Beziehung war geprägt von Missverständnissen – und einer gewissen Arroganz. "Deutschland und Indien hätten natürliche Partner sein können", sagt Narlikar. "Aber das Interesse war einseitig."

"Diese Doppelmoral kennen wir"

Das beginnt sich nun zu ändern. Nicht zuletzt, weil Indien wirtschaftlich durchstartet. Mit einem prognostizierten Wachstum von 6,6 Prozent im Finanzjahr 2024/2025 ist es die am schnellsten wachsende große Volkswirtschaft der Welt – deutlich vor den USA (2,4 Prozent), China (2,4-2,8 Prozent) oder Deutschland (-0,2 Prozent).

Die Bevölkerung ist jung: Das Durchschnittsalter liegt bei 28 Jahren, über 65 Prozent sind unter 35. Und digital ist Indien weit vorn: Mit dem "India Stack" hat das Land eine öffentliche digitale Infrastruktur geschaffen, die weltweit Maßstäbe setzt. "Digitalisierung, der Ausschluss korrupter Mittelsmänner, eine wachsende Mittelschicht – das alles stärkt Indiens Selbstbewusstsein", sagt Narlikar. "Und plötzlich wird das Land auch für Europa interessant."

Doch wer glaubt, Indien lasse sich einfach als "demokratisches China" umarmen, verkennt die Lage. "Indien ist nicht bereit, sich einfach in eine Ordnung einzufügen, die es nicht mitgestaltet hat", sagt Narlikar. Jaishankar formuliert es noch deutlicher: "Wenn der Westen mit den Taliban verhandelt, ist das in Ordnung. Wenn andere das tun, ist es problematisch. Diese Doppelmoral erkennen wir – und wir benennen sie."

Kooperation, wo es sinnvoll ist

Indien verfolgt eine Außenpolitik der "strategischen Autonomie" – und das nicht erst seit heute. Das Land ist aktives Mitglied im Quad (mit USA, Japan, Australien), aber auch in der Brics-Gruppe. Es verurteilt den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht direkt, fordert aber Achtung des Völkerrechts. Es kritisiert Israel, ohne sich klar zu positionieren. Es kauft russisches Öl – und französische Waffen. "Indien kooperiert mit dem Westen, wo es sinnvoll ist", erklärt Narlikar. "Aber es geht keine Allianzen nach westlichem Muster ein. Das entspricht weder der Geschichte noch der strategischen Kultur des Landes."

Was Europa häufig übersieht: Indien versteht sich nicht nur als wirtschaftliche oder strategische Macht, sondern als zivilisatorischer Akteur mit eigener Wertebasis. "Der indische Liberalismus ist in vielerlei Hinsicht liberaler als der westliche", sagt Narlikar. "Er denkt über den Menschen hinaus – in Richtung Umwelt, Tiere, andere Lebensformen." Sie verweist auf die Idee von Vasudhaiva Kutumbakam – die Welt als Familie –, die Premierminister Modi während der G20-Präsidentschaft betonte. "Das ist keine PR-Floskel, sondern Teil eines kulturellen Erbes, das viele Inderinnen und Inder von klein auf lernen."

Europa hingegen rede viel von Werten, sei aber oft inkonsequent. "Die EU wollte Diversifizierung, doch die Investitionen deutscher Unternehmen in China haben 2023 ein Rekordhoch erreicht", so Narlikar. Wenn mitten in der Corona-Pandemie ein Investitionsabkommen mit China abgeschlossen wird, sende das Signale – auch nach Indien und in andere Demokratien des Globalen Südens. "Sicherlich müssen sie sich fragen, ob Europa seine eigenen Werte lebt oder ob dies ein weiteres Beispiel für europäische Doppelmoral ist?"

"Das Tempo ist viel zu langsam"

Trotz aller Beteuerungen bleibt Europas Indienpolitik zögerlich. Zwar gibt es Fortschritte – etwa bei der Zusammenarbeit mit Indien im Bereich grüner Energie: 2024 wurde eine gemeinsame Wasserstoff-Initiative vereinbart. Doch im sicherheitspolitischen Bereich hinkt Deutschland hinterher. Während Frankreich bereits 2016 mit Indien einen Vertrag über 36 Rafale-Kampfjets abschloss, steht eine deutsche U-Boot-Kooperation weiterhin aus – obwohl ein deutsches Konsortium als einziger Bieter für ein milliardenschweres Projekt gilt.

Auch das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien, das seit 2007 verhandelt wird, soll nun endlich 2025 abgeschlossen werden – ein Zeichen dafür, dass Europa begriffen hat, wie sehr es Tempo machen muss. "Das Tempo ist viel zu langsam", kritisiert Narlikar jedoch. "Ja, Indien ist komplex. Aber das ist Deutschland auch. Und wenn man es ernst meint mit der Diversifizierung, muss man investieren – politisch, wirtschaftlich und intellektuell."

"Schöpfen das Potenzial nicht aus"

Dabei gäbe es viele Anknüpfungspunkte: In Fragen der Datensouveränität, des Umweltschutzes, der Cybersicherheit sind Indien und Europa oft näher beieinander als Europa und die USA. "Aber wir schöpfen das Potenzial nicht aus", sagt Narlikar. Auch Deutschlands Umgang mit indischen Fachkräften sei ein Hemmnis. "Die Hürden sind hoch, das Verfahren oft abschreckend. Und selbst wer kommt, erlebt ein Deutschland, das zwar Diversität predigt, aber manchmal in der Realität noch rassistisch agiert." Das sehe man auch daran, dass zwar viele Inder nach Deutschland zum Arbeiten kämen, sie jedoch selten bis nie in den oberen Positionen vertreten sind.

Und was ist mit der Kritik, Indien entwickle sich unter Premierminister Modi in Richtung eines autoritären Hindu-Staates? "Das ist nicht mein Forschungsgebiet", sagt Narlikar, "aber ich sehe, dass diese Debatten im Westen oft sehr oberflächlich geführt werden. Indien ist eine funktionierende Demokratie, die größte Demokratie der Welt. Das zeigen auch Wahlergebnisse, die nicht immer zugunsten der Regierung ausfallen."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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