3.000 Exemplare in 2025 Ukraine setzt vermehrt auf eigene Marschflugkörper
Die Ukraine darf nach langem Warten westliche Raketen gegen russische Ziele einsetzen. Jetzt versucht das Land, einen eigenen Weg zu gehen.
Die Ukraine setzt verstärkt auf die Eigenproduktion von Marschflugkörpern, um sich im Krieg gegen Russland unabhängiger von westlichen Lieferungen zu machen. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte die westlichen Verbündeten wiederholt darum gebeten, gelieferte Waffen auch gegen Ziele auf russischem Gebiet einsetzen zu dürfen.
Nachdem die scheidende US-Regierung unter Joe Biden zuletzt den Einsatz von ATACMS-Raketen gegen Russland genehmigt hatte und auch der Einsatz britischer Storm-Shadow-Marschflugkörper dokumentiert wurde, scheint Kiew auch eine eigene Strategie zu verfolgen. Die selbst entwickelten Raketen vom Typ R-360 Neptun sollen eine größere Autonomie in der Verteidigung ermöglichen.
Neptun-Marschflugkörper weiterentwickelt
Die Neptun-Marschflugkörper wurden ursprünglich für den Einsatz gegen Seeziele entwickelt und sorgten im April 2022 für Aufsehen, als sie das russische Flaggschiff "Moskwa" der Schwarzmeerflotte versenkten. Generell unterscheiden sich Marschflugkörper von herkömmlichen Raketen darin, dass sie über große Distanzen hinweg gesteuert werden können und zudem in meist sehr niedriger Höhe fliegen, sodass sie von Radar- und Flugabwehrsystemen schwer zu erkennen sind.
Mittlerweile wurde das System weiterentwickelt, sodass auch Ziele über größere Entfernungen angegriffen werden können. Wie Verteidigungsminister Rustem Umjerow kürzlich in den sozialen Medien erklärte, hat die Ukraine die Massenproduktion der Raketen gestartet – 100 Exemplare seien bereits fertiggestellt. Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte zudem an, dass das Land im kommenden Jahr 3.000 Marschflugkörper und Raketendrohnen herstellen wolle.
Nach Angaben des ukrainischen Herstellers Luch kann das Neptun-System, abgefeuert von Startrampen, bis zu 300 Kilometer weit fliegen. Die Ukraine wolle die Reichweite allerdings auf 400 und dann möglicherweise bis auf 1000 Kilometer erhöhen.
Russlands Abwehr unter Druck
Nach Angaben ukrainischer Quellen setzt die Ukraine bei der neuen Version ihres Neptun-Marschflugkörpers auf eine Kombination aus GPS-Navigation und möglicherweise einem passiven Infrarot-Suchsystem, um Landziele zu erkennen. Dies erklärte der Militärexperte Timothy Wright vom International Institute for Strategic Studies in London dem "Spiegel". Zwar könne Russland GPS-Signale prinzipiell stören und verfüge über eine "fähige und vielfältige" Flugabwehr, dennoch stelle der Einsatz dieser Technologie eine Herausforderung dar.
"Es wird schwer für Russland, alles abzufangen", so Wright weiter. Die jüngsten erfolgreichen ukrainischen Drohnenangriffe auf russischem Gebiet hätten gezeigt, dass solche Abwehrsysteme nicht immer lückenlos funktionieren.
Eine ähnliche Einschätzung trifft George Barros, Russlandexperte am Institute for the Study of War in Washington. Er sieht in der vielseitigen Nutzung von Waffensystemen einen klaren Vorteil für die Ukraine. "Ein Angriffspaket, das nur eine Art von System enthält, etwa nur ATACMS, wird leichter abzufangen sein als ein komplexes Angriffspaket, das eine Kombination aus ballistischen ATACMS, Marschflugkörpern vom Typ Storm Shadow, Drohnen und Neptuns verwendet", erklärt Barros gegenüber dem "Spiegel".
Die unterschiedliche Geschwindigkeit und Anflugrichtung der Waffen könnten dazu beitragen, die russischen Flugabwehrsysteme zu überwältigen. Mit der Fähigkeit, solche Angriffe zu koordinieren, könnte die Ukraine ihre Schlagkraft deutlich erhöhen, so Barros.
Neue russische Rakete "Oreschnik"
Russland verfolgt eine ähnliche Strategie wie die Ukraine und kombiniert verschiedene Waffensysteme, um die ukrainische Luftabwehr zu überwältigen. Zudem setzt Russland offenbar auf neue Raketensysteme: In Dnipro schlug vor wenigen Tagen eine mutmaßlich neue russische Mittelstreckenrakete ein. Präsident Wladimir Putin erklärte dazu, die Rakete mit dem Namen "Oreschnik" sei auch für Angriffe auf Westeuropa geeignet und "nicht von gegnerischen Systemen abwehrbar". Diese Angaben sind bisher nicht unabhängig überprüfbar.
Die Ukraine setzt zunehmend auf ihre Neptun-Marschflugkörper, um empfindliche Ziele wie Munitionsdepots oder Flugabwehr in Russland anzugreifen, erklärt Nico Lange, Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz, dem "Spiegel". Für gut geschützte Bunker und Gefechtsstände seien jedoch Raketen mit größerer Durchschlagskraft nötig, etwa britische Storm Shadows oder deutsche Taurus-Marschflugkörper.
Die Bestände der Ukraine an britischen Storm Shadow- und französischen Sculp-Marschflugkörpern sind nahezu erschöpft. "Es gibt weiterhin eine militärische Notwendigkeit, dass Deutschland den Taurus liefert", betont der Sicherheitsexperte. Eine starke militärische Position der Ukraine könne dazu beitragen, "Putin zu einem Frieden zu zwingen". Bundeskanzler Olaf Scholz lehnt die Lieferung der deutschen Taurus-Raketen jedoch weiterhin strikt ab.
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- spiegel.de: "Ukraine setzt verstärkt auf eigene Marschflugkörper"