Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Putin bekommt Besuch in Russland Erst Kuscheln, dann Kopfstoß
Umarmungen, gemeinsame Fotos und Abendessen: Trotz des russischen Angriffskrieges in der Ukraine suchen Länder wie Indien, Ungarn oder Pakistan die Nähe zu Wladimir Putin. Das hat auch etwas mit der Schwäche der USA zu tun.
Für viele asiatische Staaten ist es ein sicherheitspolitisches Dilemma: Sie sind geografisch in einer Nachbarschaft zu Russland und China gefangen und wiederum nicht Mitglied eines Militärbündnisses wie der Nato. Im Ernstfall haben viele dieser Staaten also keinen Schutz, keine Sicherheitsgarantien, müssen sich im Zweifel allein gegen eine der Großmächte verteidigen. Die Sorgen um die eigene Sicherheit sind in einigen asiatischen Staaten angesichts der Aufrüstung in China und Russland entsprechend groß.
Das gilt auch für Indien. Das Land hat zwar seit vielen Jahren Grenzkonflikte mit China, pflegt aber seit Langem gute Beziehungen zu Russland. Im Zweifel versprachen sich indische Regierungen von diesen Beziehungen primär Sicherheitsgarantien und Schutz vor einem drohenden Angriff durch China. Das war allerdings noch in einer Zeit, in der sich Peking und Moskau als Rivalen um die Vorherrschaft in Asien sahen. Das ist nicht mehr die Realität.
Spätestens seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine ist dieses Ringen entschieden: Kreml-Chef Wladimir Putin und der chinesische Präsident Xi Jinping haben seitdem ihre "strategische Partnerschaft" vertieft, Russland ist massiv wirtschaftlich abhängig von China geworden und somit eindeutig der Juniorpartner in den Beziehungen zur Volksrepublik.
China wird in den kommenden Jahren immer mehr zum Hegemon auf dem Kontinent werden. Russland bleibt trotzdem vor allem militärisch ein zentraler Akteur. Zwar könnte vor dem Hintergrund erstaunen, dass einige Staaten weiterhin aus Angst vor China den Dialog mit Moskau suchen. In den vergangenen Tagen und Wochen bekam Putin Besuch von besonders vielen Staats- und Regierungschefs.
Doch bei genauerer Betrachtung bleibt ihnen kaum eine andere Wahl. Denn ihre Besuche haben auch mit der gegenwärtigen Schwäche der USA zu tun.
Wie isoliert ist Putin?
Trotz des russischen Angriffskriegs in der Ukraine war der Kreml in den vergangenen zwei Jahren international nie wirklich isoliert. Russland erhält etwa Rüstungsgüter aus dem Iran und aus Nordkorea, China wiederum kauft immer mehr russisches Öl und Gas. Dadurch ist Peking auch zum Finanzier von Putins Krieg geworden. Dieses Bündnis hat sich vor allem zum Ziel gesetzt, die westliche Ordnung zurückzudrängen. Doch die diplomatischen Bemühungen Putins gehen über China hinaus.
So reiste der russische Präsident erst im Juni nach Nordkorea und Vietnam. Putin demonstrierte damit, dass er international nicht allein dasteht. Andererseits steht Russland unter massivem Druck. Vor allem die USA und China pflegen stetig ihre Bündnisse in der Region. Das setzt Putin unter Zugzwang. Vom nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un möchte er Waffen bekommen, an Vietnam möchte Russland auch weiterhin Rüstungsgüter und an Indien Rohstoffe verkaufen.
Gleichzeitig bemüht sich auch der Westen seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine massiv diplomatisch um asiatische Länder wie Indien. US-Minister und auch Mitglieder der Bundesregierung waren mehrfach vor Ort und versuchten, die indische Führung immer mehr auf ihre Seite zu ziehen.
Das funktioniert nur ansatzweise: Zwar können vor allem die USA Rüstungsgüter nach Indien exportieren, doch es dauert eben, bis sich das Land aus der nahezu vollständigen Abhängigkeit von russischer Militärtechnologie lösen kann. Zudem ist Indien ein Großabnehmer russischen Öls, das es seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs zu günstigeren Preisen bekommt, weil Russland es wegen westlicher Sanktionen größtenteils nicht mehr nach Europa verkaufen kann.
Schwäche der USA bietet Russland Chancen
Die aktuelle Schwäche von US-Präsident Biden, über dessen gesundheitliche Eignung in den USA im Wahlkampf derzeit diskutiert wird, spielt Putin nun zusätzlich in die Karten. Es geht für die asiatischen Staaten darum, dem Fall einer Trump-Wahl vorzubauen, sich im Zweifel mit Moskau und Peking gut zu stellen. Denn der ehemalige US-Präsident ist für viele Staaten schwer berechenbar, nur eines ist klar: Er steht für eine protektionistische US-Außenpolitik.
Deswegen können es sich Länder wie Indien aus sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Gründen nicht leisten, die Beziehungen zu Russland abzukühlen oder gar ganz zu kappen.
Vor diesem Hintergrund ist die Reise des indischen Premierministers Narendra Modi am vergangenen Montag nach Moskau zu sehen. Eine Umarmung, ein gemeinsames Essen, warme Worte. Indien und Russland verbinde eine "privilegierte strategische Partnerschaft", sagte Putin bei dem Treffen im Kreml. Der Handel zwischen beiden Nationen sei im vergangenen Jahr um 60 Prozent gestiegen. Nach Angaben des indischen Handelsministeriums belief er sich auf umgerechnet 60,5 Milliarden Euro, wobei die indischen Importe von Öl und Dünger aus Russland den größten Teil ausmachen.
"Jeder Inder fühlt in seinem Herzen, dass Russland ein Freund Indiens in guten und schlechten Zeiten ist", betonte Modi in Moskau. Der 73-Jährige lobte auch die Führungsqualitäten von Putin und nannte den Kreml-Chef einen "lieben Freund".
Streit zwischen Modi und Putin?
Aus westlicher Sicht wirken diese gegenseitigen Schmeicheleien schwer erträglich. Immerhin flogen gleichzeitig wieder russische Bomben und Raketen auf ukrainische Städte, in Kiew wurde ein Kinderkrankenhaus getroffen. Als Modi ein Foto ins Internet stellte, auf dem er Putin in die Arme schließt, erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, es sei eine große Enttäuschung, "dass der Führer der größten Demokratie der Welt den blutigsten Verbrecher der Welt an einem solchen Tag in Moskau umarmt". Das zeigt, in welch großem Dilemma Indien steckt.
Entsprechend änderte sich der Ton im Laufe des Besuches des indischen Regierungschefs in Moskau. Modi rügte Putin bei einem gemeinsamen Auftritt vor Medienvertretern am Dienstag implizit, indem er sagte, der Tod unschuldiger Kinder sei schrecklich. Ihm blute das Herz, wenn er davon höre. Putin ist bislang nur selten offen von Ländern kritisiert worden, die Russland als befreundet ansieht. Zudem äußerte Modi seine Kritik auf russischem Boden, im Beisein Putins und vor laufenden Kameras.
Ein Stoß vor den Kopf für den Kreml-Despoten.
Danach hatte Moskau ein geplantes Gespräch zwischen den Delegationen abgesagt. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow begründete das am Mittwoch allerdings mit Terminkonflikten: "Das hat absolut nichts mit irgendwelchen Meinungsverschiedenheiten oder problematischen Situationen zu tun", sagte er am Mittwoch. Doch Terminkonflikte treten im diplomatischen Tête-à-Tête oft dann auf, wenn es Unstimmigkeiten gibt.
Dass Indien zwischen Russland und dem Westen derart laviert, hat nicht nur ökonomische Gründe. Es liegt auch an der schwierigen Sicherheitslage des Landes, wie indische Diplomaten t-online in Gesprächen bestätigen. Immerhin hat das Land schon jetzt Grenzkonflikte mit China, und es fürchtet, dass Peking und Moskau sich gegen Indien verbünden könnten.
Deswegen agiert Modi vorsichtig, liefert Putin die Bilder, die der Kreml gerne in die Welt schicken möchte: Sie sollen ein Russland zeigen, das international noch immer beachtet wird. Auch deswegen hat sich Indien Forderungen widersetzt, den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zu verurteilen. Stattdessen ist Modi um eine neutrale Position bemüht und ruft beide Kriegsparteien immer wieder zu einem Dialog auf. Er weiß genau, dass Indien im Zweifel ohne große Unterstützung dastehen würde, sollten die USA das Interesse an dem Land verlieren. Und dieser Fall könnte eintreten, wenn Donald Trump im November zum Präsidenten gewählt werden würde.
Wette auf Trump-Sieg
Auch andere Staats- und Regierungschefs bereiten sich aktuell auf ein solches Szenario vor. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán etwa wettet auf einen Trump-Sieg und will davon profitieren, sollte der Republikaner die Ukraine zu einem schlechten Frieden mit Russland zwingen, in dem er der Ukraine Rüstungslieferungen vorenthält.
Auch deshalb reiste Orbán am vergangenen Freitag nach Moskau. Und in einem Interview mit "Bild" am Montag warb er sogar für die Wahl von Trump, weil das nach seiner Auffassung der Ukraine Frieden bringen könne. Gleichzeitig verkündete er, dass Russland diesen Krieg nur schwer würde verlieren können.
Laut einem "Bloomberg"-Bericht wird Orbán im Anschluss an den Nato-Gipfel Trump in seinem Resort Mar-a-Lago in Florida besuchen – zu dem er bereits im März gereist war. Damals bezeichnete Orbán Trump bereits als "Präsident des Friedens".
Dabei ist Orbán nicht der Einzige, der momentan seine Beziehungen zu Moskau stärkt. Der pakistanische Premierminister Shehbaz Sharif bot dem Kreml in der vergangenen Woche bei einem Treffen in Kasachstan seine Unterstützung dabei an, per Tauschhandel westliche Sanktionen zu umgehen. In der Mongolei hofft man darauf, dass Russland und China ihre Pläne für den Bau der Pipeline "Kraft Sibiriens 2" endlich vorantreiben. Auch Länder wie Kasachstan oder Aserbaidschan wollen durch die Intensivierung der "strategischen Partnerschaft" mit Russland Profit machen.
All das hat größtenteils wirtschaftliche Gründe. Schließlich lockt Russland mit billigen Rohstoffen und gleichzeitig können internationale Unternehmen extrem hohe Gewinne erzielen, indem sie Geschäfte mit Russland machen und damit westliche Sanktionen umgehen. Für viele Länder ist das sehr verführerisch.
- zeit.de: Kuscheln mit dem Kriegstreiber
- tagesschau.de: Zwischen den Stühlen
- aa.com.tr: Pakistani prime minister suggests Russia turn to barter trade to avoid financial sanctions (englisch)
- spiegel.de: Zwei mächtige alte Freunde
- Nachrichtenagenturen dpa und rtr