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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mutter von deutscher Hamas-Geisel "Es ist ein furchtbarer Alptraum"
Das Video der entführten Deutsch-Israelin Shani Louk ging um die Welt. Ihre Mutter Ricarda kämpft seitdem verzweifelt um die Rückkehr ihrer Tochter – und setzt dabei vor allem auf Deutschland.
Auf den ersten Blick sieht man es Ricarda Louk gar nicht an, welchen Horrortrip sie seit zwei Wochen durchmacht. Die 53-Jährige wirkt gefasst, lächelt und bittet freundlich in ihr Haus. Die IT-Ingenieurin wohnt mit ihrer Familie in Srigim, einem idyllischen Dorf unweit der israelischen Hauptstadt Jerusalem. Ins Westjordanland sind es nur wenige Kilometer Luftlinie.
Drei Katzen belagern den großzügig geschnittenen Balkon, hinter dem sich grüne Hügel auftun. "Sie sind genau an dem Tag aufgetaucht, als Shani verschwand", sagt Louk und streichelt eines der beiden Jungen. Seitdem seien sie bei ihnen geblieben, lenken die Familie ab, helfen bei der Trauer.
Louks Tochter Shani (22 Jahre) wurde am 7. Oktober von einem Terrorkommando der Hamas entführt. Bei einem Großangriff auf den Süden Israels ermordeten die Terroristen 1.500 Menschen auf grausame Weise, über 200 weitere verschleppten sie nach Gaza.
Video der entführten Shani Louk ging um die Welt
Shani Louk feierte gerade auf dem Festival Tribe of Nova in der Nähe des Gazastreifens, als die schwer bewaffneten Islamisten das Gelände stürmten und Hunderte Feiernde mit Gewehren und Granaten töteten. Wer Glück hatte, überlebte das Blutbad, andere kamen in die Gewalt der Hamas.
Von Shanis Entführung gibt es ein Video, das um die Welt ging: Darin liegt das Mädchen halbnackt und bewusstlos auf der Ladefläche eines Pick-ups, sie hat Blut im Haar. Bewaffnete Hamas-Kämpfer sitzen neben ihr, sie jubeln, rufen "Allahu Akbar", einer spuckt Shani auf den Kopf. Es ist ein abscheuliches Video, es zeigt die entmenschlichende Gewalt der Terrorgruppe wie im Brennglas.
"Das Warten ist das Schlimmste"
Wie hält man das aus, wenn man nicht weiß, wo die Tochter ist? "Das Warten ist das Schlimmste", sagt Louk. Niemand könne ihr sagen, wo ihre Shani ist, wie es ihr gehe, ja nicht mal, ob sie noch am Leben sei. Ihre Verzweiflung wachse mit jedem Tag, sagt Louk, doch sie kämpfe mit ihrer Familie weiter um die Rückkehr ihrer Tochter.
Louk wohnt mit ihrem Mann, ihrer zweiten Tochter Adi (25 Jahre) und den Söhnen Or (14) und Amid (20) in Srigim. Nur Shani teilte sich mit einer Freundin eine Wohnung im Süden von Tel Aviv. Shani sei ein "lebensfrohes, weltoffenes" Mädchen, eine Tattookünstlerin, die sich etwas Eigenes aufbauen wolle. "Sie reist gerne, liebt Kunst und Musik, will die Welt kennenlernen", sagt die Mutter über ihre Tochter.
Gerade sei etwas Ruhe zu Hause eingekehrt, sagt Louk. Die ersten beiden Wochen nach Shanis Verschwinden seien wie im Flug vergangen. Der ständige Austausch mit deutschen Behörden, die Gespräche mit Kanzler Scholz und Außenministerin Baerbock, dann ihre dreitägige Reise nach Berlin vergangene Woche. Treffen mit Bundespräsident Steinmeier, Bundestagspräsidentin Bas, mit Abgeordneten, Pressekonferenzen.
Fragen, die nicht mehr aus dem Kopf gehen
Jeden Abend sei sie kaputt ins Bett gefallen, sagt Louk. Die große Israel-Solidaritätskundgebung am Brandenburger Tor vergangenen Sonntag sagte sie ab, flog früher zurück nach Israel. "Ich wollte meine Familie nicht so lange alleine lassen", erklärt sie.
Man merkt ihr an, dass sie es wohl auch wegen sich gemacht hat. "Das Schlimmste ist, wenn man alleine ins Bett geht und sich Fragen stellt, die dann nicht mehr aus dem Kopf weggehen." Wie es Shani gerade gehe, wo sie sei, und was ihr durch den Kopf gehe. Ob sie Angst habe. Louk kullern Tränen aus den Augen, sie wirkt nun gar nicht mehr gefasst.
"Weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten soll"
"Manchmal komme es mir vor, als stumpfe ich langsam ab. Weil ich immer wieder dieselbe Geschichte erzähle", sagt Louk mit zittriger Stimme, fast entschuldigend. Die Leute dächten dann, es sei für sie eigentlich ganz okay. Aber das sei nur ihr Schutzschild.
"Nichts ist okay. Es ist ein furchtbarer Albtraum." Es brauche nur einen Moment, einen falschen Gedanken – und ihre ganze Fassade breche zusammen, sagt sie. "Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten soll", sagt sie weinend.
Der Tag, als Shani verschwand
Louk erzählt von dem Tag, als ihre Tochter verschwand. Es war frühmorgens am 7. Oktober, als sie zu Hause in Srigim von den heftigen Raketensalven erfuhr, die die Hamas auf Israel abfeuerte. Zunächst habe sie sich nicht viel dabei gedacht, da Raketenalarm in Israel leider zum Alltag gehöre, sagt die Mutter. Doch irgendwann habe sie gespürt, dass es diesmal anders sei, heftiger. Sie habe die jüngste Tochter gebeten, Shani anzurufen und zu fragen, ob es ihr gut gehe. Shani habe Panik gehabt und gesagt, sie und ihr Freund würden versuchen, mit dem Auto einen Schutzraum zu suchen.
Danach sei der Kontakt abgebrochen. Wenig später tauchte das Video mit Shani auf, und Ricarda Louk wurde bewusst, dass es sich längst nicht nur um Raketenangriffe handelte. Sie sah, dass bewaffnete Hamas-Terroristen ihre Tochter schwer verletzt, vielleicht getötet haben, und nun unter Jubelschreien ihren regungslosen Körper in den Gazastreifen verschleppten.
Tochter Adi und der jüngste Sohn Or bringen Kaffee und Gebäck aus Halva. Or sei der Erste gewesen, der das Video mit Shani sah, das die Hamas auf ihren Kanälen verbreitet hatte. "Ich konnte es mir anfangs gar nicht ganz ansehen", sagt Louk leise.
"Herr Scholz, bringen Sie mir meine Shani zurück"
Louk sagt, ihr renne die Zeit davon. Sie wisse immer noch nicht, ob Shani überhaupt noch lebe. Fieberhaft habe sie versucht herauszubekommen, ob es wenigstens ein Lebenszeichen gebe. Sie rufe täglich beim Roten Kreuz an, ob deren Mitarbeiter in Gaza das Mädchen nicht vielleicht in einem Krankenhaus gesehen hätten.
Sie stehe auch im ständigen Austausch mit deutschen Behörden, aber die Kommunikation sei eine Einbahnstraße – sie erhalte kaum Informationen. Und doch setze sie ihr ganzes Vertrauen in Deutschland und darauf, dass die Bundesregierung ihre Kontakte in der Region erfolgreich nutze. Louk will sich mit einer Bitte direkt an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wenden: "Herr Scholz, bringen Sie mir meine Shani zurück."
Die zugelaufenen Katzen knabbern an den Holzstühlen, auf denen sie liegen. Eine, die Mutter der beiden anderen, hüpft immer wieder auf den Tisch und versucht, ein Stück Halvakuchen zu stibitzen. Sie scheitert an der Hand von Ricarda Louk.
Von den israelischen Behörden käme kaum Hilfe, sagt die Mutter. Alle paar Tage erkundige sich zwar jemand von der Armee bei ihr. "Aber die Hilfe, die wir brauchen, bekommen wir nicht", sagt Louk. "Der israelische Staat funktioniert gerade nicht", sagt Louk. Manchmal riefen drei verschiedene Leute an, um dieselbe Information zu übermitteln. Das sei unglaublich frustrierend. Louk sagt, sie habe nicht das Gefühl, dass die Befreiung der Geiseln derzeit die oberste Priorität der israelischen Regierung sei.
Angriff oder Geiselbefreiung?
Wie Louk denken viele in Israel. Tatsächlich scheint die Regierung von Premier Benjamin Netanjahu derzeit vor allem das Ziel zu verfolgen, die Hamas im Gazastreifen zu zerschlagen. Neben massiven Luftschlägen, bei denen auch viele palästinensische Zivilisten getötet wurden, sollen bald Bodentruppen in größerer Zahl nach Gaza vorstoßen.
"Die Bodenoffensive wird die Geiselbefreiung massiv erschweren", sagt Aviv Shir-On zu t-online. Der Ex-Botschafter Israels in Österreich spricht von einem "knappen Zeitfenster": Unter den Hamas-Geiseln seien Kinder, Alte und Kranke, die wohl noch "ein, zwei Wochen" durchhalten würden. Dies verstünde auch die Hamas, sagt Shir-On. "Wenn sie die Geiseln nicht in einem Stück zurückgibt, bekommt sie ernste Probleme."
Shir-On gehört zu einer Gruppe von rund 15 Ex-Diplomaten, die für die Initiative "Bring Them Home Now" die Familien der Geiseln unterstützen. Ihr Hauptquartier ist ein Bürogebäude im Zentrum von Tel Aviv, in der 7. Etage tummeln sich Dutzende Freiwillige und Angehörige der Geiseln.
Ein Mitstreiter Shir-Ons ist Nadav Tamir, der ebenfalls mal zum diplomatischen Korps des Landes gehörte. Der frühere Berater von Ex-Staatspräsident Schimon Peres sagt t-online, Israel habe derzeit nur zwei Hebel, um die Entscheidungen der Hamas zu beeinflussen: Man könnte im Austausch für die Geiseln palästinensische Gefangene anbieten oder einen Waffenstillstand. Da Ersteres derzeit politisch unvorstellbar sei, bliebe nur das Letztere.
Neue Hoffnung entfacht
Auch Ricarda Louk sieht das so: "Warum wartet man nicht ein paar Wochen mit dem Angriff und versucht erst, die Geiseln zu befreien?", fragt sie.
Seit ein paar Tagen habe sie neue Hoffnung geschöpft. Die Hamas hatte vier Geiseln freigelassen, darunter zwei Amerikanerinnen mit israelischem Pass. Doppelstaatlerinnen, so wie Shani. Anfang der Woche dann war in Medien plötzlich von 50 Geiseln die Rede, die freikommen könnten. Louk sagt, sie habe kurz gehofft, jetzt würde sie ihre Shani zurückbekommen. Doch der Deal scheiterte – zunächst.
Israelischen Medien zufolge soll in einigen Tagen tatsächlich eine größere Zahl Entführter freikommen. Louk glaubt, dass Shani mehr Chancen hat, weil sie einen deutschen Pass hat.
"Die Zeit läuft davon, rettet sie alle"
Mittwochabend vor der Deutschen Botschaft in Israel. Angehörige der Familien mit deutschen Geiseln halten eine Mahnwache ab. Eine Installation aus Blut, Käfigen und den Namen der Entführten soll die deutschen Behörden an ihr Versprechen erinnern, alles zu tun, um die Geiseln zurückzubekommen. "Die Zeit läuft davon, rettet sie alle", hat jemand auf den Boden gemalt.
Auch Steffen Seibert, der deutsche Botschafter in Israel, ist aus dem Gebäude gekommen, um der Veranstaltung beizuwohnen. Deutsche Vertreter wollen immerhin Präsenz zeigen, wenn sie schon keine Erfolge vorweisen können. Louk und Seibert sprechen leise vor der Installation mit dem Blutkäfig. Louk fragt nach Updates, die Seibert nicht hat.
Botschafter Seibert: Druck auf Israel?
Die Frage der Geiseln ist auch eine politische: Je früher Israel seine Bodenoperation in Gaza startet, desto komplizierter werden die Verhandlungen mit der Hamas über die Freilassung weiterer Geiseln. Die USA und Frankreich machen daher Druck auf Israel, den Angriff zu verschieben. Sollte Berlin sich Washington und Paris anschließen? Seibert will sich auf t-online-Anfrage nicht festlegen: "Es ist die Entscheidung Israels, wann es seine Bodenoffensive beginnt."
Ricarda Louk wirkt nach dem Gespräch mit Seibert abwesend. Sie verfolgt die kurze Performance, die sich die Angehörigen der Entführten ausgedacht haben, aber mit ihren Gedanken scheint sie woanders. Ihre Fragen konnte der Botschafter nicht beantworten.
Wieder wird sie heute Nacht mit derselben quälenden Frage ins Bett gehen: Wo ist meine Tochter?
- Eigene Recherchen in Israel