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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Leichensammler über Hamas-Terroristen "Ihr Ziel: So viele Menschen zu vernichten wie möglich"
Wie grausam die Hamas in den israelischen Kibbuzen wütete, weiß kaum jemand besser als Yossi Landau. Der Leichensammler arbeitet seit Tagen fast ununterbrochen – und befürchtet die Aufdeckung weiterer Gräueltaten.
Achtung, dieser Beitrag enthält Beschreibungen von verstörender Gewalt.
Yossi Landau blickt auf die weißen Metallcontainer, in denen Hunderte Ermordete in Kühlschränken lagern. "Ich kann sie immer noch riechen", sagt der 55-Jährige mit dem krausen Bart und der sonoren Stimme.
Seit Tagen hat Landau fast ununterbrochen mit Toten zu tun. Für die israelische Hilfsorganisation Zaka trägt der orthodoxe Jude Leichen und Körperteile aus den Kibbuzen, die vergangenen Samstag von einem Terrorkommando der Hamas überfallen wurden. Landau sagt, er und seine Kollegen hätten alleine 682 Tote geborgen. "Ich stehe am Morgen mit Leichen auf, gehe ins Bett mit Leichen, träume von Leichen, sehe Leichen, auch wenn keine da sind."
Der Vater von zehn Kindern aus der Großstadt Aschdod ist seit über 30 Jahren im Einsatz für Zaka. Doch der Horror, den er in den Kibbuzen nahe des Gazastreifens erlebt hat, in Be’eri oder in Kfar Aza, stelle alles Bisherige in den Schatten. Zaka heißt auf Hebräisch Zihui Korbanot Asson, Identifizierung von Unfallopfern. Die jüdische Hilfsorganisation kommt nach Unfällen und Terroranschlägen zum Einsatz, birgt Tote und sammelt Leichenteile. Denn nach jüdischem Glauben müssen Verstorbene so vollständig wie möglich beigesetzt werden.
Landau sah Dinge, die kein Mensch sehen sollte
Hinter den Containern, die auf dem Friedhofsvorplatz in Aschdod stehen, wurde wegen der vielen Toten eine provisorische Leichenhalle errichtet. Es ist Donnerstag 22 Uhr, Landau hat gerade die letzte Tour hinter sich, er trägt noch die gelbe Warnweste der Zaka-Mitarbeiter. Der zehnfache Vater sieht geschafft aus, auch wenn er beherrscht wirkt. Beim Reden verliert er immer wieder die Fassung und hält inne.
Seine müden Augen zeugen von einem langen Arbeitstag. Landau hat Dinge gesehen, die eigentlich kein Mensch sehen sollte. Mit tiefer, rauchiger Stimme erzählt der Jude mit deutschen Vorfahren von einer Szene, die ihn nicht mehr loslässt.
Es war Montag, Landau hatte am Morgen einen Anruf der israelischen Armee erhalten, mit seinem Team in den Kibbuz Be’eri zu fahren. Ein Killerkommando der Hamas hatte in dem Ort, keine fünf Kilometer vom Gazastreifen entfernt, über 100 Israelis abgeschlachtet – rund zehn Prozent der Bevölkerung.
Blutbad in Be'eri
Der Kibbuz Be'eri war Landaus dritter Einsatzort. Zuvor hatte er in Sderot nördlich von Gaza und auf dem Festival Tribe of Nova Leichen geborgen. Die meisten der 260 Opfer auf dem Festival seien erschossen oder von Granaten zerfetzt worden, sagt Landau. Doch in den Kibbuzen habe ein Blutbad ganz anderer Dimension stattgefunden.
Landau erzählt, wie er in Be'eri ein Haus betrat, in dem eine Frau in einer großen Blutlache auf dem Boden lag. Er habe sie umgedreht und gesehen, dass ihr Unterleib aufgeschlitzt war. In ihrem Bauch habe ein ungeborenes Baby gelegen, noch mit der Nabelschnur der Mutter verbunden. Das Baby, sagt Landau, habe eine Stichwunde in der Brust gehabt, vermutlich von einem Messer. Der Mutter sei in den Kopf geschossen worden.
Landau sagt, als seine Kollegen die Leiche sahen, seien sie kollabiert. Um sie abzulenken und zu beruhigen, sagte er zu ihnen: "Lasst uns ein Gebet singen!" Also setzten sie sich auf den Boden und sangen: "Der Messias ist auf dem Weg. Und er will uns retten". Landau singt das Gebet leise vor sich hin. Seitdem quäle ihn die Frage, ob sie zuerst die Mutter erschossen oder das ungeborene Baby erstochen haben. Landau weiß, dass er darauf wohl keine Antwort finden wird.
Terroristen löschten ganze Familien aus
Im Nachbarhaus habe es nicht besser ausgesehen, erzählt er. Im Wohnzimmer habe eine vierköpfige Familie gelegen, die auf qualvolle Weise getötet wurde. Sowohl die Eltern als auch die Kinder seien an den Händen hinter dem Rücken gefesselt gewesen. Auf dem Tisch habe noch das Essen gestanden. Landau sagt, es habe Indizien dafür gegeben, dass die Terroristen einen nach dem anderen gefoltert hätten, während die anderen zusehen mussten. Am Ende wurden alle erschossen. Das Ziel der Hamas sei an diesen Tag gewesen, "so viele Menschen zu vernichten wie möglich".
Vor dem Friedhof fährt ein Transporter von Zaka vor, es sind Kollegen von Landau. Avraham Der'i ist wie Landau ein "Kommandeur" für einen bestimmten israelischen Bezirk. Die beiden begrüßen sich vertraut. Zaka wurde 1989 gegründet und ist mittlerweile eine Institution in Israel. Rund tausend Beschäftigte sind für sie im Einsatz, die meisten von ihnen orthodoxe Juden.
Der'i sagt, er könne die Debatte um angebliche "Übertreibungen" der israelischen Behörden nicht nachvollziehen. So hatten etwa einige die Berichte angezweifelt, dass im Kibbuz Kfar Aza enthauptete Babys gefunden worden sein sollen. Mittlerweile haben mehrere Augenzeugen bestätigt, dass es diese Vorfälle gegeben habe.
"Wie kann man so etwas in Zweifel ziehen?"
"Ich sehe das Grauen mit meinen eigenen Augen, jeden Tag. Es gibt Fotos, Videos, zahllose Berichte. Wie kann man so etwas in Zweifel ziehen?", sagt Der'i.
Ein weiterer Mitarbeiter von Zaka gesellt sich zu der kleinen Gruppe vor dem Friedhof. Er stellt sich mit Noam vor und berichtet, dass er vorhin auf einer Beerdigung war. Er kannte den Toten nicht, aber er hatte ihn aus der Siedlung Yachini nahe des Gazastreifens geborgen. "Um damit abzuschließen", erklärt er. Das sei wichtig, genauso wie den Schmerz herauszulassen und zu weinen.
Wie oft hat er diese Woche schon geweint? "Diese Woche hatten wir keine Zeit", sagt Noam. "Zu viele Tote."
Später, als Landau wieder allein vor dem Platz steht, erzählt er von seinen schlaflosen Nächten. Seine Frau habe ihn gestern Nacht, als er wachlag, gefragt, was los sei. Er antwortete ihr, er habe etwas im Auto vergessen. Er stand auf und wartete dann im Auto, bis er sicher war, dass sie schläft. "Sie sollte solche Fragen nicht stellen. Es reicht, wenn ich nicht schlafen kann", sagt Landau. Seine Organisation stelle Psychologen zur Verfügung, aber dafür habe er im Moment keine Zeit. Ihm helfe sein Glaube.
"Sie wollten wohl sehen, wie verrückt der Vater ist"
Drei seiner zehn Kinder seien an zwei Tagen mit in den Kibbuzen gewesen, sagt Landau. Dovi ist 34 Jahre alt, Mechi 30 und Eli 24. "Sie wollten wohl sehen, wie verrückt der Vater ist", sagt Landau. Seitdem helfen auch sie, die Opfer der Hamas-Terroristen zu bergen.
Neben dem Horror, dem Stress, der Schlaflosigkeit treibt Landau auch ein moralisches Dilemma um: Er und sein Team sind zwar die ersten, die zu den Toten dürfen, sobald die israelische Armee einen Ort gesichert hat. Doch sie dürfen aus Zeitgründen nur die Leichen und Körperteile bergen, nicht das Blut.
"Das schmerzt", sagt Landau. Normalerweise versuche er, so viel Blut der Opfer wie möglich – Blutspritzer oder in Blut getränkte Kleidungsstücke – von den Tatorten zu bergen, damit es zusammen mit der Leiche begraben werden kann. Seinem jüdischen Glauben zufolge könne ein Mensch zwar ohne ein Bein oder eine Hand leben, aber nicht ohne Blut. Da man nie wissen könne, welcher verlorene Tropfen Blut den Menschen getötet habe, müsse so viel Blut wie möglich aufgesammelt werden, um ein würdevolles Begräbnis zu ermöglichen.
Noch in fünf Kibbuzen wird Landau in den nächsten Tagen zum Einsatz kommen. Er rechnet damit, noch viel Schreckliches zu sehen. War er nie an dem Punkt, an dem er nicht mehr konnte? "Doch war ich, aber nur für ein paar Sekunden." Sein Glaube habe ihn davor bewahrt, abzubrechen. "Und das Wissen, wenn wir nicht wären, würde es niemand sonst machen. Es gibt nur uns."
- Recherche in Aschdod und Tel Aviv