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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutschlands letzte Chance? Das ist Scholz' heikelste Mission
Olaf Scholz hat einen großen Plan, mit dem er Deutschlands Bedeutung in der Welt retten will. Dafür glaubt der Bundeskanzler, die Welt sozialdemokratisieren zu müssen.
Bastian Brauns berichtet von den Vereinten Nationen aus New York
Olaf Scholz hat der Welt Großes mitzuteilen. Aber nur ein kleiner Teil hört ihm zu. Als der Bundeskanzler in dieser Septemberwoche bei den Vereinten Nationen in New York an das Rednerpult aus grünem Marmor tritt, blickt er in ein beachtlich leeres Plenum. Seine Rede zur Lage des Planeten und der Rolle Deutschlands erregt hier so viel Interesse wie die Änderung der Ersatzbaustoffverordnung im Deutschen Bundestag.
Pflichtbewusst sitzt hinten im Plenum seine Außenministerin Annalena Baerbock. Team Deutschland ist anwesend. Immerhin. Und es ist ja auch schon ziemlich spät. Weil die anderen Staats- und Regierungschefs den Tag über oft länger als die angeratenen 15 Minuten geredet haben, ist der Kanzler erst weit nach 21 Uhr dran. Und: Das Schicksal eines eher leeren Raumes ereilt in diesen Tagen fast jeden, der nicht zufällig amerikanischer Präsident ist.
Unfreiwillig aber passt das Scholz-Statement vor leeren Bänken zur Botschaft des Bundeskanzlers an die Weltgemeinschaft: Die Zeit der großen Reden ist vorbei. Scholz ist in New York, um etwas zu verkünden, das mehr Bedeutung haben soll. In seiner Rede vor der Generalversammlung verpackt er es in einen simplen Satz: "Wir wollen, dass sich etwas ändert." Nicht reden, sondern handeln. Dahinter verbirgt sich ein gigantisches Vorhaben, von dem heute noch keiner weiß, ob es wirklich gelingen kann.
Die Sozialdemokratisierung der Welt
Olaf Scholz will Deutschland zum glaubwürdigen Antreiber einer neuen, einer gerechteren Weltordnung machen. Sie gründet auf seiner Zeitenwende, deren Kern ist: So wie bisher können wir nicht weitermachen. Günstige, aber einseitige Abhängigkeiten wie vom russischen Erdgas werden am Ende teuer. Ohne viele neue Wirtschaftspartner auf der Welt kann das Geschäftsmodell Deutschlands nicht überleben.
Doch es ist eine andere Zeit als noch vor 50 Jahren, als Deutschland unter dem SPD-Kanzler Willy Brandt in die Vereinten Nationen aufgenommen wurde. Staaten wie China, Indien oder Brasilien, aber auch viele sehr viel kleinere Länder erwarten heute Augenhöhe statt Ausbeutung. Darum gründet Scholz' großer Plan für die Welt von morgen auch auf einem propagierten Prinzip, mit dem er Bundeskanzler geworden ist. "Respekt" war sein Schlagwort im Wahlkampf für mehr Gerechtigkeit. Und mit diesem Respekt-Prinzip will Scholz jetzt die Welt sozialdemokratisieren.
- Politisch bedeutet das: Es braucht so schnell wie möglich Reformen der internationalen Organisationen zugunsten der bislang oft benachteiligten Länder. Weltbank, Währungsfonds, Welthandelsorganisation, aber auch die Verfasstheit der Vereinten Nationen und des UN-Sicherheitsrates sollen auf ein neues Fundament gestellt werden. Das Ziel: mehr Geld und leichterer Zugang für jene, die heute selbstbewusst mehr als Almosen verlangen.
- Wirtschaftlich heißt die Sozialdemokratisierung, dass Kooperationen künftig öfter zu beiderseitigem Nutzen entstehen sollen. Dazu könnten etwa nicht mehr einfach nur Rohstoffe importiert werden. Stattdessen würden wichtige Verarbeitungsschritte vermehrt in den exportierenden Ländern selbst stattfinden. Das schafft Arbeitsplätze, Produktivität und Wohlstand. Und ein Vorteil gegen Konkurrenten auf dem Weltmarkt, wie zum Beispiel China, wäre das auch.
- Sozial lässt sich die neue Wertschätzung am deutschen Umgang mit den kleinsten Partnern ablesen. So empfingen der Bundeskanzler und seine Außenministerin im Haus der deutschen UN-Vertretung zahlreiche Staatschefs der sogenannten "Small Island Developing States (SIDS)". Das sind teils kleinste Inseln in der Karibik, im Atlantischen, Indischen und im Pazifischen Ozean. Ein gemeinsames Mittagessen als Austausch von mehr als 90 Minuten mit Scholz und Baerbock. Das hat es so für Tuvalu, Palau oder Fidschi früher nicht gegeben. Jetzt werden diese Inseln wichtig. Denn auch sie verfügen über jeweils eine Stimme bei der UN, und in Fragen von Klima oder Krieg sind sie mitentscheidend.
Letzte Chance vor der neuen Ära
Der deutsche Scholz-Plan für die Welt entsteht nicht aus einer neu entdeckten Selbstlosigkeit, sondern aus purer Notwendigkeit. Seine Amtsvorgängerin Angela Merkel machte einst Wahlkampf mit dem Slogan "Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben". Damit dieser Spruch auch morgen noch wahr werden könnte, sieht der Bundeskanzler jetzt womöglich die letzte Chance.
Er muss die Weichen stellen in einer neuen Ära, mit einer Reihe aufstrebender und zugleich oft unberechenbarer Staaten. Und dazu kommen unweigerlich noch die wachsenden Menschheitsprobleme wie Bevölkerungsexplosion, Ressourcenmangel und Klimawandel. Es geht nicht nur ums Überleben Deutschlands, sondern um das des Planeten.
Glaubt man den deutschen Diplomaten in New York, gelingt es Scholz auf seine Art tatsächlich, langsam, aber sicher das Vertrauen vieler Länder auf der Welt zu gewinnen, die lange skeptisch waren. Man nimmt es dem deutschen Kanzler offenbar zunehmend ab: Der will wirklich, dass sich etwas ändert.
Die Kleinen jetzt auch
An einem Abend gibt Scholz in New York eine kleine Feier. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des deutschen Beitritts zu den Vereinten Nationen lädt er zu Drinks und Jazzmusik ins UN-Gebäude. Zahlreiche Staatsgäste der mehr als 150 angereisten waren eingeladen. Viele bekannte Gesichter sind nicht gekommen. Der deutsche Bundeskanzler ist nicht der US-Präsident. Ein namhafter und zugleich schwieriger Besucher ist der serbische Präsident Aleksandar Vučić. Der Außenminister von Luxemburg, Jean Asselborn, schaut ebenfalls auf ein Glas vorbei.
Scholz geht es damit ein bisschen wie bei der Generalversammlung. Und wieder passt das unfreiwillig zu seiner Agenda. Es geht ihm nicht mehr nur um die Großen, sondern um die Kleinen.
Ein Mann will dem Bundeskanzler unbedingt die Hand geben. Es ist Taneti Maamau, der Präsident des pazifischen Inselstaates Kiribati. Die Flugzeit nach New York von dort beträgt mehr als 22 Stunden. Die Rückseite seiner Visitenkarte zeigt Kiribati auf einer Weltkarte, damit man ihn auch findet.
Schnell schießt seine Mitarbeiterin ein Foto von ihm und Scholz. Dann geht Maamau schnell weiter. Er erzählt, wie wichtig ihm das Mittagessen, das Scholz für die Pazifikstaaten gegeben hat, gewesen ist. Er sagt: "Es ist wirklich eine Ehre für mich, vom deutschen Kanzler eingeladen worden zu sein." Dafür zolle er ihm Respekt.
- Eigene Recherchen vor Ort