Unfall, Mord oder Fake? Berichte: Russische Ermittler vermuten Bombe in Prigoschin-Jet
Zwei Monate nach der Meuterei gegen Moskau ist Wagner-Chef Prigoschin wohl tot. Die wichtigste Frage ist dabei noch ungeklärt.
Wann wird Putin sich rächen? Die Frage stand seit Ende Juni im Raum, als der Anführer der Söldnertruppe Wagner seine Kämpfer in Richtung Moskau marschieren ließ und die Militärzentrale Rostow am Don in Russlands Süden kaperte. Was für Jewgeni Prigoschin ein Druckmittel gegen die Militärführung war und sich nicht gegen den russischen Alleinherrscher Wladimir Putin richten sollte, wie Prigoschin später betonte, war aus Sicht des Kreml schlicht Verrat.
Im Westen war man sich schnell einig: So massiv wurde der russische Präsident noch nie bloßgestellt. Der Rubelkurs brach ein, der Kremlchef sah schwächer aus als je zuvor, der Wagner-Aufstand hatte Russland kurzzeitig an den Rand eines Bürgerkriegs gebracht. Wann also würde das Regime zurückschlagen, das Oppositionspolitiker, Aktivisten und Journalisten bereits für kritische Meinungsäußerungen tötet oder in Straflagern verschwinden lässt?
Die wahrscheinliche Antwort lautet: jetzt.
Weder die langjährige Nähe zu Putin noch die Vermittlung durch den belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko, der Prigoschin seit vielen Jahren kennt, konnten den Wagner-Chef anscheinend retten. Doch derzeit gibt es mehr Fragen als Antworten: Hat Prigoschin möglicherweise seinen Tod gefaket und ist untergetaucht? Warum landete eine zweite Maschine zeitgleich in Moskau? Und was ist über die Absturzursache bekannt? t-online mit dem Überblick.
Ist Prigoschins Tod offiziell?
Die ersten offiziellen Informationen über den möglichen Tod von Prigoschin kamen am Mittwochabend von Russlands staatlicher Nachrichtenagentur Tass. Kurz nach 20 Uhr Moskauer Zeit vermeldete die Agentur den Absturz eines Privatjets in der Nähe der Stadt Twer, bei dem alle Passagiere getötet worden sein sollen.
Schon zu diesem Zeitpunkt hieß es unter Berufung auf die Flugbehörde: Jewgeni Prigoschin stand auf der Passagierliste. Ebenso seine rechte Hand, Dmitri Utkin, und acht weitere Personen.
Dass eine solche Liste so schnell bereitliegt, war für einige Beobachter bereits suspekt. Gleichzeitig mutmaßte so mancher Militärblogger, der Söldnerchef könnte seinen eigenen Tod inszeniert haben, um unter anderer Identität ein neues Leben zu beginnen. Auch die Bergung der Absturzopfer brachte zuerst keine Klarheit.
Örtliche Rettungsdienste hätten an der Absturzstelle acht Leichen geborgen, berichtete die russische Nachrichtenagentur RIA knapp eine Stunde nach Bekanntwerden des Absturzes. Eine Bestätigung, dass Prigoschin an Bord der Maschine war, blieb zunächst aus. Kurz darauf bestätigte der Wagner-nahe Telegram-Kanal "Grey Zone", der viele von Prigoschins wichtigsten Videos verbreitet hatte, einen Absturz. Erstmals ging der Fingerzeig hier explizit Richtung Kreml: Eines von zwei Wagner-Flugzeugen sei gezielt abgeschossen worden.
Die Behörden-Information, dass Prigoschin an Bord gewesen sein könnte, wurde jedoch bezweifelt. "Wo Jewgeni Prigoschin letztlich war, dazu gibt es im Moment keine genauen Informationen", hieß es. Kurz darauf bestätigte der russische Zivilschutz den Tod aller zehn Insassen des Jets. Ob Prigoschin darunter war, wurde bisher nicht vermeldet. Eine offizielle Bestätigung des Todes von Prigoschin durch die russische Seite steht damit aus.
Bei "Grey Zone" schrieb man wenig später: "Jewgeni Wiktorowitsch Prigoschin, Leiter der Wagner-Gruppe, Held Russlands, ein wahrer Patriot seines Vaterlandes, starb durch die Taten von Verrätern an Russland", so der Telegram-Kanal. Und dann meldete sich am Donnerstagabend Präsident Putin selbst zu Wort: In einer Videobotschaft bestätigte er indirekt den Tod des Söldnerchefs und kondolierte dessen Familie. Prigoschin sei "ein talentierter Geschäftsmann" mit "schwierigem Schicksal" gewesen, so Putin.
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Was ist über die Absturzursache bekannt?
Bislang gibt es zum Auslöser des Absturzes nur Spekulationen. Der Wagner-nahe Telegram-Kanal "Grey Zone" schrieb von einem Abschuss des Flugzeugs durch die Flugabwehr. Andere Quellen sprechen derweil von einer Bombe an Bord und technischen Problemen.
Den meisten Beobachtern erscheint es als am wahrscheinlichsten, dass Prigoschins Flugzeug mit einer Rakete abgeschossen wurde. Journalist Mark Krutov von Radio Free Europe / Radio Liberty erklärt in einem Tweet auf der Plattform X (vormals Twitter), in der Nähe der Absturzstelle befinde sich eine Militärbasis. Außerdem könne man in einem der ersten Videos, die den Abschuss des Prigoschin-Flugzeugs zeigen sollen, die Spur einer Luftabwehrrakete erkennen.
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Auch in den USA scheinen die Geheimdienste zumindest einen Raketenabschuss in Betracht zu ziehen: Die Nachrichtenagentur Reuters beruft sich auf zwei anonyme Offizielle: Demnach sei es wahrscheinlich, dass eine Boden-Luft-Rakete von russischem Boden aus das Flugzeug abgeschossen habe. Die Informationen seien jedoch noch vorläufig.
"Wall Street Journal" und "New York Times" hingegen berichteten ebenfalls unter Berufung auf Geheimdienst-Quellen, dass ein Raketenabschuss unwahrscheinlich sei. Man glaube, eine Explosion an Bord habe den Absturz verursacht, hieß es im Bericht der "New York Times" – das sei die "führende Theorie". Sie könnte durch eine Bombe oder ein anderes Objekt ausgelöst worden sein, hieß es weiter. Das "Wall Street Journal" berichtete gar, die Geheimdienste würden an ein "Attentat" auf Prigoschin glauben. Nach vorläufigen Informationen sei eine Bombe oder eine andere Form von Sabotage am wahrscheinlichsten.
Wie die britische BBC am Donnerstagvormittag berichtete, gehen Londoner Verteidigungskreise davon aus, dass der russische Inlandsgeheimdienst FSB den Jet des Wagner-Chefs ins Visier genommen hat. Dieser gilt als Putin-loyal und hat wohl schon mehrfach Putin-Gegner angegriffen – so deuten zum Beispiel bei der Vergiftung des Kremlkritikers Alexej Nawalny 2020 alle Anzeichen auf den FSB.
Es gebe Argumente gegen die Theorie eines Raketenabschusses, berichtet das russische Investigativportal "Meduza". Zum Zeitpunkt des Absturzes flog Prigoschins Privatjet auf einer Höhe von mehr als 8,5 Kilometern. Demnach wäre ein Raketensystem mit mittlerer Reichweite nötig gewesen, um ein Flugzeug in dieser Höhe abzuschießen. Solche leistungsstarken Raketen hätten dem Bericht zufolge allerdings deutlich mehr Schaden am Flugzeug anrichten müssen, als auf den Augenzeugenvideos zu sehen ist. "Im Falle eines Treffers mit einem 70-Kilogramm-Sprengkopf würde das Flugzeug wohl kaum in einem Stück abstürzen", schreibt "Meduza".
Während weiter offen ist, welche Ursache das Flugzeug tatsächlich zum Absturz gebracht hat, lässt sich ein möglicher Grund wohl bereits ausschließen: Die Hinweise sprechen nicht dafür, dass der Privatjet wegen eines technischen Fehlers abgestürzt ist. Das unterstreichen auch veröffentlichte Daten des Portals "Flightradar24", auf dem man die Flugrouten verschiedener Flugzeuge nachvollziehen kann. Informationen des Portals zeigen, dass Prigoschins Flugzeug um 17.19 Uhr deutscher Zeit schnell an Höhe verlor.
Die russischen Behörden haben derweil ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen die Sicherheitsvorschriften im Luftverkehr eingeleitet. In diesem Rahmen soll auch der Flugschreiber des Jets, die sogenannte Blackbox, ausgewertet werden.
Laut Medienberichten aus Russland vom frühen Donnerstagnachmittag ziehen die Ermittler in Erwägung, dass eine Bombe im Fahrwerksschacht des Flugzeugs platziert worden sein könnte. "Meduza" beruft sich dabei auf den Telegramkanal "Shot" und dessen Quellen bei den Strafverfolgungsbehörden. Demnach deuteten vorläufige Daten darauf hin, dass sich die Explosion, die zum Absturz führte, nahe dem Fahrwerk ereignet habe.
Weiter hieß es, ein erster Verdächtiger sei gefunden: Artem Stepanov, Prigoschins persönlicher Pilot und ehemaliger Gründungsaktionär von MNT-Aero, dem Unternehmen, dem das abgestürzte Flugzeug gehört. Er soll Zugang zu der Maschine gehabt haben – und sei in den letzten drei Tagen nicht erreichbar gewesen.
War Prigoschin wirklich im abgestürzten Flugzeug?
Obwohl er auf der Passagierliste stand, ist damit nicht bewiesen, dass der Oligarch wirklich an Bord war. Eine offizielle Bestätigung für seinen Tod seitens der Behörden gibt es nicht, auch wenn der Wagner-nahe Telegram-Kanal "Grey Zone" seinen Tod vermeldet hat. Eine Obduktion der Leichen steht noch aus.
Eine Verschleierungsaktion, um von der Bildfläche zu verschwinden, kann nicht ausgeschlossen werden. Zumal schon zweimal voreilig über den Tod Prigoschins berichtet wurde. 2019 hieß es, er sei beim Absturz eines Frachtflugzeugs in Afrika umgekommen – seine Wagner-Truppe ist in mehreren afrikanischen Ländern aktiv. Im vergangenen Jahr wurde sein Tod im Osten der Ukraine vermeldet. Beide Male tauchte Prigoschin später lebend wieder auf.
Angesichts der Tatsache, dass ranghohe Wagner-Angehörige sowie die russischen Behörden den Tod des Söldner-Chefs allerdings bestätigten, erscheint es als unwahrscheinlich, dass die Meldungen über Prigoschins Tod falsch sind. Es könnte also sein, dass der Wagner-Chef am Mittwochabend tatsächlich gestorben ist. Sollte sich dies bestätigen, könnte es Unruhe in den Wagner-Reihen geben.
"Der Mord an Prigoschin wird katastrophale Folgen haben", drohte der Wagner-nahe Militärjournalist Roman Saponkow auf Telegram. "Die Leute, die den Befehl gegeben haben, verstehen nichts von der Stimmung in der Armee und ihrer Moral." Prigoschin war wegen seiner Kritik an der regulären Armeeführung und einigen Erfolgen seiner Söldner auf dem Schlachtfeld bei vielen Soldaten sehr beliebt. Was das für die Stabilität des Putin-Regimes bedeutet, muss sich zeigen.
Was ist mit dem zweiten Wagner-Jet?
Laut dem Flugportal Flightradar24 war am Mittwochabend noch ein zweiter Privatjet nahe Moskau unterwegs, der zur Wagner-Gruppe gehören soll. Neben dem abgestürzten Flugzeug mit der Kennnummer RA-02795, einer Embraer Legacy 600, tauchte im Luftraum auch die einschlägig bekannte Maschine mit der Kennung RA-02748, eine Embraer Legacy 650, auf.
An sich ist das Zweiergespann laut russischen Medienberichten nicht ungewöhnlich: Söldnerführer Prigoschin soll bei Reisen öfters schon zwei Flieger zur selben Zeit auf selber Strecke haben fliegen lassen – einen für sich selbst und einen Begleit-Jet. Möglicherweise war der Grund hierfür, potenzielle Angriffe zu erschweren. Denn: Nicht immer sei der Warlord auch in dem Jet geflogen, auf dessen Passagierliste er stand. In diesem Fall deutet jedoch vieles darauf hin.
Während die RA-02795 bei Twer abstürzte, setzte die RA-02748 laut Flightradar24 wohl zuerst ihren Flug von Moskau nach Sankt Petersburg fort, kehrte dann jedoch um. Nach Auskunft von Wagner-nahen Telegram-Kanälen soll die Maschine letztlich wieder am Moskauer Flughafen Ostafjewo gelandet sein, von wo sie auch gestartet war. Welche Passagiere hier von Bord gegangen sind, ist bislang ungewiss.
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa
- X (ehemals Twitter); @kromark
- flightradar24.com: "Russian Legacy 600 crashes near Tver"
- meduza.io: "Самолет Пригожина сбили ракетой? Или на борту была бомба? Максимально короткий разбор ключевых версий"
- meduza.io: "Telegram channels report that investigators suspect a bomb in the landing gear of Prigozhin’s plane and have a first suspect"
- bbc.com: "FSB likely targeted Prigozhin's plane - UK defence sources"
- reuters.com: "US officials see missile strike, other theories, behind crash of Prigozhin plane"
- wsj.com: "Early Intelligence Suggests Prigozhin Was Assassinated, U.S. Officials Say"
- nytimes.com: "Explosion May Be Cause of Jet Crash; Putin Talks of Prigozhin in Past Tense"