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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Trittin bei "Lanz" "China hat einen Anspruch, die Welt zu gestalten"
Braucht es in einer sich rasch verändernden Welt mehr Pragmatismus? Die Talkrunde bei Markus Lanz ging der Frage am Beispiel der deutschen Asyl- und China-Politik nach.
Der Grünen-Abgeordnete Jürgen Trittin rief Politik und Gesellschaft in der Talkshow "Markus Lanz" dazu auf, sich in Fragen der Asyl- und China-Politik ehrlich zu machen.
"China hat einen Anspruch, die Welt zu gestalten", erklärte der ehemalige Bundesumweltminister und fügte hinzu, das Land werde versuchen, diesem Selbstverständnis "auch in Konkurrenz zur bestehenden Weltordnung" gerecht zu werden. Darauf müsse man sich einstellen. Deshalb habe Deutschland im Verhältnis zu China auch mit der naiven Vorstellung vom Wandel durch ein bisschen Handel gebrochen, sagte Trittin am Mittwochabend im ZDF.
"Wir haben immer noch keine China-Strategie der Bundesregierung", hielt ihm stattdessen die Journalistin Kerstin Münstermann entgegen und verwies auf diesbezügliche Differenzen zwischen der grünen Außenministerin Annalena Baerbock und dem sozialdemokratischen Kanzler Olaf Scholz.
Dieser verfolge einen realistischeren Ansatz, der nicht nur wirtschaftlichen Interessen geschuldet sei, erläuterte die Leiterin des Parlamentsbüros der "Rheinischen Post". Vielmehr halte man im Kanzleramt China für den einzigen Staat, der Einfluss auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin ausüben kann, damit er den Krieg gegen die Ukraine beende, so Münstermann mit Blick auf das jüngste deutsch-chinesische Spitzentreffen.
Die Gäste
- Jürgen Trittin, Grünen-Bundestagsabgeordneter
- Kerstin Münstermann, Leiterin der "Rheinische Post"-Parlamentsredaktion
- Elmar Theveßen, ZDF-Korrespondent in Washington
- Mikko Huotari, Direktor des "Mercator Institute for China Studies"
Die Berliner Regierungskonsultationen zwischen Bundeskanzler Scholz und diversen deutschen Kabinettsmitgliedern mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiang und seiner Delegation fanden vor dem Hintergrund schwacher wirtschaftlicher Entwicklungen in beiden Ländern statt. Es war die erste Auslandsreise des chinesischen Regierungschefs seit seinem Amtsantritt im März dieses Jahres. Der Dialog konzentrierte sich auf Chancen der Kooperation, globale Herausforderungen sowie Wirtschaft und Handel.
Politologe erklärt Chinas Schwächen
Der China-Experte Mikko Huotari bestätigte, dass es für die ökonomische Weltmacht China derzeit alles andere als rund laufe. Man habe eine "riesige Immobilienkrise" mit großen Leerständen, die "eine unglaubliche Unsicherheit in der Gesellschaft" generiere, führte der Direktor des "Mercator Institute for China Studies" aus. Die Herausforderungen, etwa im Bereich der Produktivitätsschwäche oder der Jugendarbeitslosigkeit, seien immens. "Es werden keine guten Jobs generiert", stellte Huotari fest.
Gleichzeitig konstatierte der Politologe, dass sich die Handelsbilanz dramatisch zuungunsten Deutschlands verschoben habe. Huotari diagnostizierte "ein heftiges Handelsdefizit" und führte als Beispiel den Verdrängungswettbewerb in der Automobilbranche an.
Man exportiere alte Verbrenner und importiere zukunftsweisende E-Autos nach Europa. "Das sind schon neue Zeiten, auf die wir uns da einstellen müssen", lautete das ernüchternde Fazit des Wissenschaftlers.
Biden beherzigt alte Reagan-Maxime
Das Verhältnis zwischen den USA und China beleuchtete hingegen Elmar Theveßen. Der Washington-Korrespondent des ZDF war aus Übersee zugeschaltet und erinnerte an die eher lauten Töne zwischen beiden Akteuren. So habe US-Präsident Biden gerade den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping bei einer Wahlkampfveranstaltung als "Diktator" betitelt.
Trotz der Verstimmung, die solche Episoden auslösten, hätten beide Seiten ein Interesse daran, miteinander klarzukommen. "Da ist Wirtschaft das Zauberwort", sagte Theveßen. Die Biden-Administration folge hier einer Maxime aus der Zeit des republikanischen US-Präsidenten Ronald Reagan. Diese besage, dass man zwischen Staaten auch unangenehme Wahrheiten offen aussprechen müsse, um auf dieser ehrlichen Grundlage zu Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu finden.
"Die Vereinigten Staaten haben im letzten Jahr einen neuen Rekord aufgestellt im Handelsvolumen mit China", erklärte der ZDF-Korrespondent und nannte in diesem Zusammenhang die Zahl von 540 Milliarden US-Dollar. Das zeige im Grunde genommen, dass man schon aus Wirtschaftsinteressen bei wichtigen Fragen wie dem Kampf gegen den Klimawandel oder Pandemien nach gemeinsamen Lösungen suche, auch wenn man sich in Sicherheitsfragen diametral gegenüberstehe.
Asylstreit bei Grünen nur vertagt?
Ein Pragmatismus, zu dem es, wenn es nach den Äußerungen der Talkrunde geht, in der sich rasch verändernden Welt kaum eine Alternative gibt, auch wenn er schmerzhaft sein kann. Die Grünen wissen davon ein Lied zu singen, beispielsweise beim Thema Asylpolitik. So hatte etwa die Zustimmung der grünen Außenministerin Baerbock zur verschärften EU-Asylpolitik in ihrer eigenen Partei für Widerspruch und Enttäuschung gesorgt. Der EU-Kompromiss sieht unter anderem die Prüfung von Asylanträgen an den EU-Außengrenzen für Migranten aus Ländern mit niedriger Anerkennungsquote vor. Kritikern zufolge kommt das Maßnahmenpaket dem Versuch einer Abschottung gleich.
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"Das war eine sehr schwierige Situation für die Grünen", bestätigte Trittin. Die parteiinternen Gegner des Kompromisses müssten akzeptieren, "dass diese Entscheidung getroffen ist und nicht rückholbar ist", so der ehemalige Grünen-Fraktionsvorsitzende.
"Das hätte eine Ampel-Krise auslösen können", urteilte Münstermann. Die Journalistin wollte dem Frieden trotz ihres Lobs für das gute Management der Grünen nicht trauen. Das Problem sei bloß vertagt worden. "Man hofft jetzt auf die europäischen Institutionen", mutmaßte die erfahrene politische Beobachterin.
Einigung zeige erst in drei Jahren Wirkung
Trittin hingegen sah das Hauptproblem des Asylkompromisses in den falschen Hoffnungen, die in der Gesellschaft dadurch geweckt werden könnten. "Ich finde es nicht richtig, der Bevölkerung zu erzählen, dass dieser Kompromiss kurzfristig dazu führt, dass die Turnhalle um die Ecke wieder frei wird", erklärte der Grünen-Politiker.
Die Einigung zeige frühestens in drei Jahren Wirkung und werde vermutlich nicht zu weniger Migrationsströmen nach Europa führen. In einer Welt, die dermaßen fragil sei, werde es "kein Geringerwerden von Flüchtlingsströmen geben", so Trittin weiter. Das könne man ignorieren oder versuchen, damit verantwortlich umzugehen. Es versteht sich von selbst, dass er, ganz dem Pragmatismus-Anspruch des Talks folgend, für Zweiteres plädierte.
- "Markus Lanz" vom 21. Juni 2023