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Annalena Baerbock im Irak: Die Wunden durch IS-Verbrechen sind tief


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Baerbock im Irak
Die Angst vor der schwarzen Pest

Von Patrick Diekmann, Dohuk

Aktualisiert am 10.03.2023Lesedauer: 6 Min.
urn:newsml:dpa.com:20090101:230309-911-011096Vergrößern des Bildes
Irak: Annalena Baerbock besucht das zerstörte Stadtzentrum von Sindschar. (Quelle: Michael Kappeler)

Terror und Krieg haben bei vielen Menschen im Nordirak tiefe Wunden hinterlassen. Auch Außenministerin Baerbock wird auf ihrer Reise mit erschütternden Geschichten konfrontiert.

Annalena Baerbock steigt auf ein Fahrrad, dreht zusammen mit Kindern einige Runden auf dem Pausenhof. Kurz zuvor standen mehr als hundert Kinder der Waisenschule "Our Bridge" zur Begrüßung der deutschen Außenministerin am Mittwochabend Spalier. Sie klatschten, einige Kinder hatten sich Deutschlandflaggen auf die Wangen gemalt. Zwei kleine Mädchen riefen "Annalena", als Baerbock an ihnen vorbeiging. Die Mädchen lachten, die Grünen-Politikerin lachte. Es waren heitere Momente an einem Ort, dessen bloße Existenz eigentlich ein Grund für tiefe Trauer ist. Denn die Eltern von vielen dieser Kinder wurden von der Terrormiliz IS ermordet.

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Die Jesiden wurden ab 2014 im Nordirak das Opfer eines Völkermordes, weil sie in den Augen der Islamisten Ungläubige sind. Hinrichtungen, Folter, Entführungen waren die Folge. Frauen wurden vergewaltigt, verkauft oder als Sexsklavinnen gehalten. Kindern wurden Maschinengewehre in die Hände gedrückt. Es muss das pure Grauen gewesen sein. Die meisten Jesiden sind seitdem traumatisiert, sie leben trotz der Niederlage des IS noch immer in Angst, dass "die schwarze Pest", wie sie die Islamisten hier nennen, zurückkommen könnte.

Baerbock nimmt sich im Irak Zeit, um dem Leid der Jesiden und allgemein der IS-Opfer eine Bühne zu geben. Neben der Waisenschule besucht sie ein Flüchtlingscamp und die Sindschar-Region, aus der viele Jesiden stammen. Besonders Sindschar-Stadt liegt noch immer in Trümmern. Es gibt kaum Leben, viele Menschen sind geflohen. In den Ruinen haben die Islamisten Sprengfallen und Minen hinterlassen, Blindgänger und herumliegende Munition machen das Leben dort zusätzlich gefährlich. Noch immer liegt die Stadt in Schutt und Asche.

Die Jesiden fühlen sich im Stich gelassen, haben das Vertrauen in ihren Staat verloren. Im Kampf mit dem IS bekamen sie keine Hilfe von einer schwachen irakischen Armee, auch der Westen konnte sie nicht schützen. Viele der traumatisierten Überlebenden haben heute kaum eine Zukunftsperspektive und möchten den Irak am liebsten verlassen.

Das traumatisierte Camp

Vor ihrem Besuch in der Schule fuhr die Außenministerin zunächst zum Flüchtlingscamp Qadiya in der Provinz Dohuk in der Nähe der türkischen Grenze. Dort leben mehr als 12.000 Binnengeflüchtete, viele davon sind schon seit neun Jahren hier. Baerbock und Deutschland allgemein sind bei den Jesiden äußerst beliebt. Die Bundesrepublik hat sich für sie starkgemacht, während viele Länder wegsahen, sich nicht für den Genozid an ihrem Volk interessierten. Das haben die Jesiden nicht vergessen.

Überall, wo Baerbock bei ihrer Irak-Reise auftaucht, bekommt sie Blumen. Eigentlich mag sie keine Blumensträuße. Sie brauche das nicht und sehe damit aus, als würde sie zu einer Hochzeit gehen, erklärte sie im Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Auch im Camp Qadiya bekommt die Grünen-Politikerin einen Strauß überreicht und reicht ihn gleich an die Kinder weiter, die sie begrüßen. Baerbock ist in dem Camp, um auch hier etwas über das Leid der Vergangenheit zu erfahren. Und so hört sie sich die Geschichten von ehemaligen Kindersoldaten an, spielt mit einer Mädchenmannschaft zusammen Fußball und besucht eine Organisation, die den Kindern bei der Bewältigung ihrer Erlebnisse hilft.

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Die meisten Bewohner des Camps sind durch die IS-Verbrechen traumatisiert. Oft haben sie Familienmitglieder, Bekannte oder Freunde verloren. Viele Frauen wurden vergewaltigt, einige begingen danach Selbstmord. Die Erinnerungen sind so schlimm, dass sich viele Menschen nicht zurück in ihre Heimatstädte trauen. Stattdessen leben sie im Camp in Zelten und reden davon, den Irak zu verlassen.

"Seine Anhänger warten auf Rache"

"Die Menschen müssen vor allem sicher sein. Aber das geht nicht, wenn die Jesiden weiterhin von Nato-Bündnispartnern bombardiert werden", sagt die jesidische Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal von der Hilfsorganisation "Háwar Help" t-online. Das ist vor allem ein Vorwurf an die Türkei, denn die türkische Armee greift immer wieder angebliche Verstecke der Terrororganisation PKK im Nordwesten des Irak an. Die Heimat der Jesiden ist laut Tekkal noch immer Spielball geopolitischer Interessen und das müsse aufhören. "Die Menschen fühlen sich nicht sicher genug, weil es noch immer zu Stellvertreterkriegen kommt."

Video | Baerbock spielt Fußball im Irak
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Quelle: t-online

In der Tat ist die Lage in der Sindschar-Region äußerst kompliziert. Eigentlich sollten die irakischen Sicherheitsbehörden die Region unter Kontrolle bringen, schaffen es allerdings nicht. Seither treiben dort auch viele ausländische Mächte ihr Unwesen. Es gibt türkische Angriffe und auch iranische Kräfte sind vor Ort, weil die Region Teil einer wichtigen Landbrücke ist – vom Iran über den Irak, von Syrien bis zu den iranischen Verbündeten im Libanon. Das Opfer dieser Geopolitik ist das Volk, das einen Völkermord überlebt hat: die Jesiden.

"Die meisten Menschen hier wollen zurück in ihre Heimat, aber nicht um jeden Preis", sagt Tekkal. "Sie haben noch immer den Völkermord im Nacken, diese Saat geht jetzt erst auf." Es sei ganz wichtig, dass Baerbock vor Ort sei und dass nun Druck auf die Zentralregierungen im Irak und in Kurdistan gemacht werden würde. "Die Menschen brauchen Sicherheit. Der IS ist nicht weg, seine Anhänger verschwinden nicht einfach. Seine Anhänger warten auf Rache."

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Die IS-Dschihadisten gelten zwar seit 2017 als militärisch besiegt, IS-Schläferzellen verüben aber weiterhin Anschläge. Auch Bundeswehrsoldaten in Erbil bestätigen t-online, dass es kaum einen Tag gebe, an dem es an der Grenze zwischen dem kurdischen Autonomiegebiet und dem Territorium der irakischen Zentralregierung nicht zu Auseinandersetzungen kommt. Im Prinzip warten IS-Kämpfer im Untergrund auf ihre Chance, und die Jesiden möchten aus Sicherheitsgründen nicht in ihre Heimat zurückkehren.

Furcht vor der Rückkehr

Baerbock bekommt auf ihrer Reise mehrfach zu spüren, wie tief das IS-Trauma bei den Jesiden sitzt. "Niemand möchte sein Leben lang in einem Camp leben", sagte sie am Mittwoch nach einem Treffen mit dem Ministerpräsidenten der kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak, Masrur Barsani. "Deswegen ist es für uns wichtig, dass Menschen wieder in ihre Heimat zurückkehren können (...) und dass sie dort ein Leben in Würde führen können." Die Frage ist: Wollen sie das auch?

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Im Projektzentrum "Lotus Flower" werden im Camp Qadiya Kinder und Jugendliche mit Traumata therapiert – mit Musik, Kunst, Sport und Theater. Als Baerbock in dem Zentrum eintrifft, sitzen viele Kinder an langen Tischen und malen. Auf drei großen Pinnwänden sind Bilder angebracht, die während der Therapiesitzungen entstanden sind. Die Bilder zeigen schwarz gekleidete Männer mit Messern oder Gewehren, Blut, auf einem Bild tragen zwei Männer eine Frau weg. Es sind Bilder des Schreckens, die verdeutlichen: Der Weg zurück in ein normales Leben außerhalb des Lagers für Geflüchtete ist für diese Menschen lang und steinig.

Doch wohin zurück? Wie kompliziert die Situation dieser Menschen ist, erfuhr die deutsche Außenministerin am Mittwoch bei einer Reise nach Sindschar, in jene Region, die noch immer umkämpft und die eigentliche Heimat der Jesiden ist. Der Besuch fand unter schärfsten Sicherheitsbestimmungen statt. Baerbock fuhr mit einer kleinen Delegation in schwer gepanzerten Fahrzeugen nach Sindschar.

"Können diese Väter und Mütter, diese Kinder nie wieder zurückholen"

Auch hier freute man sich über den Besuch der Grünen-Politikerin. Die 32-jährige Najah Sedo, die durch den IS ihren Mann und weitere Familienangehörige verloren hatte, umarmte Baerbock sogar. Die Außenministerin versprach in Kudschu in der Region Sindschar den Jesiden Unterstützung beim Wiederaufbau und bei der Verfolgung der Täter. "Kudschu ist einer dieser Orte, wo das Böse auf dieser Welt sein Gesicht gezeigt hat", sagte sie. "Wir können diese Väter und Mütter, diese Kinder nie wieder zurückholen. Aber wir können dafür sorgen, dass die Täter dieser brutalen Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden."

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Am 15. August 2014 hatten IS-Kämpfer in Kudschu nach einer zwölf Tage langen Belagerung der Schule des jesidischen Ortes die Männer, Jungen und älteren Frauen zusammengetrieben und ermordet. Andere Frauen und Mädchen wurden entführt und als Sexsklavinnen verkauft. Ein Großteil der Familien lebt heute noch in Flüchtlingslagern in der kurdischen Autonomieregion. Baerbock sagte, nachdem die internationale Gemeinschaft den Völkermord nicht habe verhindern können, habe diese eine Verantwortung, "dafür zu sorgen, dass Gerechtigkeit geschaffen wird". Damit der Völkermord nicht über Generationen vererbt werde, sei Unterstützung nötig.

Aber damit das funktioniert, darf das Schicksal der Jesiden national und international nicht weiter in Vergessenheit geraten. Daran zu erinnern, war eines der Ziele von Baerbocks Besuch. Denn im Angesicht anderer Krisen drohen die Verbrechen des IS in der internationalen Wahrnehmung zu verblassen. Die Reste der Terrormiliz warten auf ihre nächste Chance. Im Untergrund.

Verwendete Quellen
  • Begleitung der Reise von Außenministerin Annalena Baerbock in den Irak
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