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Abtreibung nach Flucht: Ankunft "in einem EU-Land, das dem Mittelalter ähnelt"


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Abtreibung nach der Flucht
Ankunft "in einem EU-Land, das dem Mittelalter ähnelt"


23.05.2022Lesedauer: 6 Min.
Frauen protestieren gegen das Abtreibungsgesetz in Polen: Nun trifft es auch Geflüchtete aus der Ukraine.Vergrößern des Bildes
Frauen protestieren gegen das Abtreibungsgesetz in Polen: Nun trifft es auch Geflüchtete aus der Ukraine. (Quelle: Piot Lapinski/NurPhoto/imago-images-bilder)
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Vergewaltigt, den Partner verloren oder noch an der Front: Wenn schwangere Geflüchtete aus der Ukraine abtreiben wollen, dürfen sie es in Polen offiziell nicht. Möglichkeiten finden sie nur im Geheimen.

Zwei russische Soldaten verfolgten sie in ihr Haus. "Sie zogen mich aufs Bett und drückten mich mit dem Maschinengewehr nieder", erzählt Nathalia* "Euronews". Sie kommt aus Cherson, einer Stadt im Süden der Ukraine. Erst nachdem sie mehr als 13 Stunden vergewaltigt worden war, sollen die Soldaten von ihr abgelassen haben.

Nathalia ist kein Einzelfall: Seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine berichten immer mehr Frauen und auch Männer davon, sexualisierte Gewalt durch russische Soldaten erfahren zu haben. Allein nach dem Massaker der russischen Armee in Butscha meldeten sich 120 Frauen. Etwa die Hälfte von ihnen befürchtet, schwanger zu sein, berichtet die polnische Tageszeitung "Gazeta Wyborcza". Demnach sollten die Frauen eigentlich nach Polen gebracht werden – in Sicherheit. Doch sie lehnten ab.

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Der Grund: 2020 verabschiedete das polnische Verfassungstribunal unter der Kontrolle der Regierungspartei PiS ein Gesetz, das Schwangeren eine Abtreibung nahezu unmöglich macht. Durften Schwangerschaften zuvor noch aufgrund fötaler Fehlbildungen abgebrochen werden, gibt es auf dem Papier nun nur noch zwei legale Gründe:

  • Wenn eine Gefahr für die Gesundheit oder das Leben der Frau besteht.
  • Wenn die Schwangerschaft durch einen Straftatbestand wie Inzest oder Vergewaltigung verursacht wurde.

Die Hürden

Letzteres trifft auf die Frauen aus Butscha zu. Doch 'auf dem Papier' heißt es an dieser Stelle deshalb, weil die Realität anders aussieht: "Es war schon vor der Änderung des Gesetzes in allen drei Fällen extrem schwierig, eine Abtreibung zu bekommen, auch wenn sie in Polen eigentlich legal sein sollte", sagt Zuzana Dziuban zu t-online. Sie ist Aktivistin bei "Ciocia Basia", einer Berliner Organisation von Ehrenamtlichen, die seit Jahren Menschen in Polen dabei hilft abzutreiben. Die Organisation ist Teil des europäischen Netzwerks "Abortion without Borders" (zu Deutsch: Abtreibung ohne Grenzen).

"Ciocia Basia", zu Deutsch "Tante Barbara", ist in Polen mittlerweile so etwas wie ein Codewort. "Wenn man 'Ciocia Basia' hört, ist sofort klar, dass es hier um Abtreibung geht", sagt Aktivistin Dziuban.

Offiziell haben schon vor der Verfassungsänderung nur knapp 1.100 Schwangere jährlich in Polen abgetrieben. Zum Vergleich: In Deutschland sind es jährlich etwa 100.000. Ein Großteil der Abtreibungen fand nach Angaben des polnischen Gesundheitsministeriums aufgrund fötaler Fehlbildungen statt. Das ist aufgrund der Gesetzesänderung aber nicht mehr möglich. Nach der Verschärfung des Gesetzes sank die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche nach Angaben des EU-Parlaments auf etwa 300. Eine offizielle Statistik gibt es seitdem nicht mehr. Auf mehrfache Anfrage von t-online äußerte sich das polnische Gesundheitsministerium nicht.

Auch Abtreibungen, die dem Gesetz nach erlaubt sind, sind in Polen extrem schwierig. So starben seit der Verfassungsänderung laut polnischen Medien mindestens drei Menschen aufgrund ihrer Schwangerschaft, weil sie offenbar keine Hilfe durch die behandelnden Ärzte erhielten. "Auch dieser Teil des Gesetzes ist also eine Erfindung", sagt Aktivistin Dziuban.

Noch schwerer ist es im polnischen System, eine Schwangerschaft abzubrechen, die auf einer Vergewaltigung beruht. So wurden schon 2019 nur drei Betroffene gezählt, die einen Abbruch aufgrund sexualisierter Gewalt durchführen konnten. Denn ihr Beteuern allein reicht dem Gesetz nach nicht aus. Sie brauchen eine Bescheinigung eines Staatsanwaltes, dass eine Straftat stattgefunden hat und die Schwangerschaft abgebrochen werden darf. Für die Geflüchteten aus der Ukraine gibt es da keine Ausnahme. Den Frauen aus Butscha fehlte es, wie so vielen Betroffenen von sexualisierter Gewalt, an Zeugenaussagen, berichtet "Gazeta Wyborcza".

Ankunft "in einem EU-Land, das dem Mittelalter gleicht"

Doch so geht es nicht allen. Viele Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine nach Polen flüchten, wissen nicht, was sie erwartet. Erste Hinweise darauf erhalten sie jedoch oft schon an den Bahnhöfen: Abtreibungsgegner riefen in den sozialen Netzwerken zu Beginn des Krieges etwa dazu auf, Flyer an die Geflüchteten zu verteilen. Neben der Androhung einer Gefängnisstrafe für die behandelnden Ärzte und einem Bild von den blutigen Überresten eines Embryos im fortgeschrittenen Stadium heißt es da etwa: "Abtreibung ist Mord und das schlimmste Verbrechen." Das jedoch stimmt, wenn es auch von Abtreibungsgegnerinnen und -gegnern immer wieder gefordert wird, auch dem polnischen Gesetz nach nicht.

"Sie sind schockiert. Es ist unmöglich, sich vorzustellen, dass man aus einem Land mit einer recht liberalen Einstellung zur Abtreibung kommt und in einem EU-Land landet, das dem Mittelalter ähnelt", sagt Dziuban über die Menschen, die sich an "Ciocia Basia" wenden. Seit Ausbruch des Krieges haben mehr als 400 Geflüchtete Hilfe bei der Organisation gesucht.

Schon mit dem Urteil 2020 hat sich für die Helfenden viel verändert. "Wir mussten lernen, wie wir für Menschen da sein können, die wegen fötaler Anomalien abtreiben." Diese betrachteten den Schwangerschaftsabbruch eher als Verlust und bräuchten mehr emotionale Unterstützung. "Jetzt müssen wir lernen, für Menschen da zu sein, die die Erfahrung des Krieges gemacht haben", so Dziuban.

Diese teilen ein gemeinsames Schicksal, unabhängig davon, ob sie sexualisierte Gewalt erfahren haben: "Sie wurden aus ihrer Heimat vertrieben, leben teils in privat bereitgestellten Unterkünften in einem anderen Land. Alles ändert sich und ihre Zukunft ist ungewiss. Oft haben sie ihre Ehemänner oder Partner verloren, die im Krieg gefallen sind", berichtet Dziban. Für viele Menschen sei es also "definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um schwanger zu sein."

So hilft "Ciocia Basia"

Die Ehrenamtlichen von "Ciocia Basia" verstehen das. Sie fragen nicht nach den Gründen, sie helfen – unabhängig von Staatsangehörigkeit, Geschlecht oder Aufenthaltsstatus. Wenn das Telefon klingelt, fragen sie zunächst nach dem Land, aus dem die Betroffenen anrufen und nach der Schwangerschaftswoche, in der sie sich befinden.

Dann gibt es zwei Möglichkeiten:

Option 1: Pillen per Post

Bis zur 12. Schwangerschaftswoche rät "Ciocia Basia" den Schwangeren dazu, mit Medikamenten abzutreiben. Dann vermittelt die Organisation die Betroffenen an Organisationen wie "Women help Women", die die Medikamente versenden.

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"Wir selbst verschicken keine Pillen", erklärt Dziuban. "In Deutschland wäre das illegal, denn laut Gesetz muss man die Abtreibung im Rahmen des medizinischen Systems durchführen. Nicht nur wir würden also kriminalisiert werden, wenn wir die Pillen verschicken, sondern auch die Person, die sie außerhalb des medizinischen Systems einnimmt." In Polen ist das anders: Dort können Menschen abtreiben, ohne dass sie strafrechtlich belangt werden. "Es ist nur die Hilfe, die kriminalisiert wird", erklärt Dziuban. In dieser Hinsicht sei das Gesetz in Deutschland also restriktiver als das Gesetz in Polen.

Die Mehrheit der Menschen, die sich an "Ciocia Basia" wenden, würden deshalb durch Medikamente abtreiben, so Dziuban. "Die Vorstellung, dass eine Abtreibung in Polen nicht möglich ist, stimmt also nicht." Im Gegenteil: Tausende von Menschen besorgten sich die nötigen Medikamente einfach über medizinische Dienste, wie "Women help Women" oder "Women in Web", und würden zu Hause abtreiben. "Wenn sie möchten, begleiten wir sie auch per Telefon oder E-Mail durch die Abtreibung", erklärt Dziuban.

Option 2: Reise nach Berlin

Ab der 12. Schwangerschaftswoche empfiehlt "Ciocia Basia", wie auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO), einen operativen Abbruch. Die Organisation vermittelt die Betroffenen an Kliniken in Berlin, organisiert Dolmetscher, die Fahrt, Covid-19-Tests, das in Deutschland obligatorische Beratungsgespräch und die Unterkunft.

Dazu hat sie sich ein Netz aus Helfenden aufgebaut. "Wir arbeiten mit mehreren Kliniken zusammen, aber wir nennen sie nicht. Denn wenn wir das täten, hätten wir Angst, dass Pro-Life-Aktivisten (Anm. d. Red.: Abtreibungsgegner), sowohl deutsche als auch polnische, davorstehen würden", erklärt Dziuban. Ärztinnen, die sie unterstützen, halten ihnen Termine frei und bieten ihnen oft einen Preisnachlass. Schlafen können die Menschen bei ehrenamtlichen Helfern. Die meisten sprechen polnisch.

"Nur deshalb können wir diese Arbeit machen"

Nicht nur vom Aufwand, auch preislich unterscheiden sich die beiden Varianten enorm. In Deutschland kostet die Abtreibung mit Medikamenten etwa 200 bis 300 Euro. "Wenn man die Pille über einen Dienst wie 'Women help Women' bestellt, wird man um eine Spende von 75 Euro gebeten. Wenn man also darüber nachdenkt, ist der medizinische Schwangerschaftsabbruch in Polen viel leichter zugänglich", erklärt Dziuban.

Teuer wird es hingegen bei einer medizinischen Behandlung in Berlin: Die Kosten belaufen sich auf bis zu 600 Euro – ein Betrag, der auch in Deutschland nicht immer von der Krankenkasse bezahlt wird. Mehr dazu lesen Sie hier.

"Ciocia Basia" hilft hierbei mit Spenden. "Es gab schwierige Zeiten, aber wir haben es immer geschafft", sagt Dziuban. Abweisen mussten sie noch niemanden. Die meisten Spenden, die die Organisation erhalte, kämen aus Deutschland. "Nur deshalb können wir diese Arbeit machen", sagt Dziuban.

Die Tätigkeit der Organisation sei aber auch in Deutschland weiter erforderlich: "Im Allgemeinen ist das deutsche Recht natürlich besser als das polnische. Die deutsche Gesetzgebung ist aber ziemlich problematisch und auch nicht sehr umfassend", sagt Dziuban. So kursiere mittlerweile eine "geheime Liste" von Ärztinnen, die bereit seien, ukrainische Geflüchtete kostenlos zu unterstützen. "Aber es gibt nichts, was die Bundesregierung in dieser Hinsicht von sich aus tut." Und so seien die ungewollt Schwangeren weiter auf die Hilfe von "Ciocia Basia" angewiesen.

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