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Die Katastrophen der Ukraine: Corona, Krieg und Kinderlähmung


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Die WHO warnt
In der Ukraine bahnt sich die nächste Katastrophe an


Aktualisiert am 17.04.2022Lesedauer: 5 Min.
Mutter mit Kind in der zerstörten Stadt Irpin: Das UN-Kinderhilfswerk Unicef schätzt, dass fast zwei Drittel aller ukrainischen Kinder auf der Flucht sind.Vergrößern des Bildes
Mutter mit Kind in der zerstörten Stadt Irpin: Das UN-Kinderhilfswerk Unicef schätzt, dass fast zwei Drittel aller ukrainischen Kinder auf der Flucht sind. (Quelle: Oleksandr Ratushniak/reuters)
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Als wären der Krieg und die Pandemie nicht genug, steuert die Ukraine auf einen weiteren Notstand zu: Das Gesundheitssystem steht kurz vor dem Kollaps. Es drohen noch mehr Opfer.

Ärzte und Pfleger kämpfen gegen Masern, Tuberkulose und Polio, zudem ächzt das Gesundheitssystem unter der Pandemie. Dann bricht ein Krieg aus. Dieses Schreckensszenario ist mitten in Europa Realität geworden. Zusätzlich zu den vielen Opfern des Kriegs in der Ukraine könnten bald noch mehr vermeidbare Todesfälle kommen, warnt die Weltgesundheitsorganisation (WHO).

"Das ukrainische Gesundheitssystem befindet sich in einem unvorstellbaren Stresstest", sagt WHO-Sprecher Bhanu Bhatnagar zu t-online. Es müsse aktuell gleich drei Krisen gleichzeitig bewältigen: den Krieg, die Corona-Pandemie und einen Ausbruch von Polio, auch bekannt als Kinderlähmung. "Jetzt bringt die neue humanitäre Notlage ein ohnehin schon angeschlagenes Gesundheitssystem weiter ins Wanken", analysiert er aus dem westukrainischen Lwiw.

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32.000 Tuberkulose-Fälle – jedes Jahr

Bereits seit Jahren hat die Ukraine mit Infektionskrankheiten zu kämpfen, die in anderen Ländern Europas kaum noch eine Rolle spielen. Dazu zählen zum Beispiel Masern und Tuberkulose. Nach WHO-Angaben erkranken jedes Jahr rund 32.000 Menschen in dem Land an der Krankheit.

Tuberkulose ist eine bakterielle Infektionskrankheit, die meist die Lunge betrifft, aber auch andere Organe angreifen kann. In Deutschland ist sie meldepflichtig. Wer daran erkrankt, muss sich isolieren. Tuberkulose ist in der Regel gut behandelbar, kann unbehandelt aber tödlich enden. Wird die Behandlung unterbrochen, können zudem Antibiotika-Resistenzen entstehen.

Gerechnet auf 100.000 Einwohner kommen in der Ukraine 73 Tuberkulose-Infektionen – in Deutschland sind es im Jahresschnitt nur fünf, gibt das Deutsche Zentralkomitee zur Bekämpfung von Tuberkulose an. In der Ukraine ist zudem der Anteil der medikamentenresistenten Infektionen mit etwa einem Drittel sehr hoch.

Die ukrainische Doppel-Epidemie

Bei etwa 22 Prozent der ukrainischen Tuberkuloseerkrankten liegt außerdem eine Infektion mit HIV vor – 350.000 Menschen in der Ukraine tragen das immunschwächende HI-Virus in sich.

Zum Vergleich: In Deutschland waren es nach Angaben der Aidshilfe Ende 2020 rund 91.400. Tuberkulose ist in der Ukraine eine der häufigsten Todesursachen unter HIV-Infizierten, Mediziner sprechen auch von der "doppelten Epidemie".

Auch deswegen sei es so wichtig, dass die Betroffenen ihre Medikamente regelmäßig einnähmen, erklärt Bhatnagar – beim Ausharren in umkämpften Gebieten oder auf der Flucht sei das aber oft kaum möglich.

Aufgrund des Krieges sind in der Ukraine nach WHO-Angaben aktuell die Hälfte aller Apotheken geschlossen, rund 1.000 Einrichtungen des Gesundheitssystems befinden sich in umkämpften Gebieten oder in unmittelbarer Nähe. Mehr als 100 Angriffe auf das Gesundheitssystem zählen die Vereinten Nationen bereits.

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Anfang April konnte ein Mangel an HIV-Medikamenten durch Lieferungen der WHO und des Aids-Nothilfeplans des Präsidenten der Vereinigten Staaten (PEPFAR) abgewendet werden. Die Behandlung dieser Patienten ist somit theoretisch sichergestellt.

Es mangelt an der Grundversorgung

In anderen Bereichen herrsche ein Mangel, berichtet WHO-Sprecher Bhatnagar: "Es fehlt an grundlegenden medizinischen Gütern wie Verbandsmaterial, Mull, medizinischem Sauerstoff, sogar an grundlegenden Medikamenten, und an Medikamenten zur Behandlung chronischer Krankheiten wie Diabetes."

Normalerweise sei die Versorgung kein Problem. Aber aktuell sei man insbesondere in den umkämpften Gebieten im Osten des Landes ernsthaft besorgt: Die Kriegsopfer in der Zivilbevölkerung seien das eine. "Aber wenn die Kämpfe noch länger andauern, kann es auch zu vermeidbaren Opfern kommen, die auf die fehlende Gesundheitsversorgung und den Mangel an Medikamenten zurückzuführen sind", sagt er.

Vom Aushängeschild zum Sorgenkind

Das ukrainische Gesundheitssystem habe sich sehr widerstandsfähig gezeigt und in den letzten Jahren gute Fortschritte gerade bei der Behandlung von HIV und Tuberkulose gemacht, erzählt Bhatnagar. Das Land sei "ein Aushängeschild für Gesundheitsreformen" gewesen – bis zum Krieg. "Früher oder später wird das Gesundheitssystem zusammenbrechen", prognostiziert er.

Ein Kollaps des Gesundheitssystems, schlechte Hygienebedingungen. Und die Vereinten Nationen berichten bereits jetzt, dass sechs Millionen Menschen der Zugang zu sauberem Trinkwasser fehlt. Dazu gibt es ein weiteres Problem: "Die Impfraten in der Ukraine liegen unter dem Durchschnitt", erklärt Bhatnagar. Durch diese Kombination rechnet er mit Ausbrüchen von Infektionskrankheiten wie Cholera, Diphterie und Masern.

Ausbrüche bei Masern und Polio

2020 lag die Impfquote gegen Masern in der Ukraine bei 82 Prozent – die WHO empfiehlt mindestens 95 Prozent. Immer wieder hat das Land mit größeren Ausbrüchen zu kämpfen.

Auch gegen Polio liegt die Impfquote mit 87 Prozent zu niedrig. Daher war die Aufregung um zwei gemeldete Fälle von Kinderlähmung im vergangenen Jahr groß. Eigentlich gilt Europa seit 2002 als poliofrei. Obwohl die Infektionen nun schon etliche Monate her sind, wird die Ukraine von der WHO-gestützten Initiative zur Ausrottung von Polio jedoch noch immer als vom Poliovirus betroffener Staat gelistet.

Auch hier kommt der Krieg der Bekämpfung des Ausbruchs in die Quere: Normalerweise werden alle Kinder mit Lähmungserscheinungen auf Polio getestet. Die zwei ukrainischen Labore in Kiew und Odessa können jedoch aktuell nicht arbeiten, die Proben warten eingefroren auf ihre Untersuchung. Ob die Ukraine poliofrei ist, kann niemand mit Gewissheit sagen.

Polio, auch Kinderlähmung genannt, ist eine virale Erkrankung, die hauptsächlich per Schmier- oder Tröpfcheninfektion oder durch verschmutztes Trinkwasser übertragen wird. Sie kann insbesondere für Patienten mit geschwächtem Immunsystem viele Jahre ansteckend bleiben. Ein Großteil der Virusträger merkt nichts von der Infektion. Bei etwa einem bis 0,1 Prozent der Infizierten löst das Poliovirus jedoch Muskellähmungen aus, im schlimmsten Fall sind auch die Sprech-, Schluck- oder Atemmuskulatur betroffen. Die WHO hat sich eine poliofreie Welt zum Ziel gesetzt, in Deutschland empfiehlt die Ständige Impfkommission die Immunisierung im Kindesalter.

Die WHO startete nach dem Ausbruch eine Impfkampagne, bei 140.000 Kindern sollte die Polioimpfung nachgeholt werden. Dann kam der Krieg – rund 60.000 haben bisher eine Impfung erhalten, in einigen Landesteilen musste die Kampagne unterbrochen werden.

Weniger Corona-Patienten seit Kriegsbeginn

Und dann ist da noch die Pandemie: Zu Beginn des Krieges hatte die Ukraine den Höhepunkt der Omikron-Welle gerade hinter sich. Bhanu Bhatnagar berichtet, für Covid-Patienten stünden nun weniger Kapazitäten in den Krankenhäusern zur Verfügung. Allerdings sei auch die Zahl der Patienten zurückgegangen. Dies könne an der geringeren Krankheitsschwere unter der Omikron-Variante liegen, aber auch daran, dass in den Kriegsgebieten vermutlich weniger Menschen Hilfe in Anspruch nehmen oder nehmen können.

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Bekannt sei aber, dass die ukrainische Bevölkerung durch das Coronavirus stark gefährdet sei, so Bhatnagar. Nur etwa 40 Prozent der Menschen seien geimpft. Insbesondere in den vulnerablen Gruppen, wie Menschen über 60 Jahren, sei die Impfquote niedrig.

Das führt er auch auf die Sowjetvergangenheit des Landes zurück: "Vermutlich herrscht in der Bevölkerung ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Gesundheitssystem und gegenüber Impfungen." So ließe sich auch die Ausbreitung von Masern oder Tuberkulose erklären: Das in der Vergangenheit schwache Gesundheitssystem sei "ein perfekter Nährboden für Infektionskrankheiten" gewesen.

Kein Anlass zur Sorge für Aufnahmeländer

Dass ukrainische Geflüchtete solche Krankheiten mit in ihre Aufnahmeländer bringen, sei zwar möglich. Bhatnagar schränkt jedoch ein: "Ich glaube nicht, dass wir uns per se Sorgen machen sollten."

Die WHO rate Aufnahmeländern wie Deutschland dazu, die Überwachung von Infektionskrankheiten aufrechtzuerhalten und gegebenfalls zu verstärken – auch, wenn sonstige Corona-Maßnahmen aufgehoben werden. Zudem sei es wichtig, ukrainischen Geflüchteten Impfungen zum Beispiel gegen Polio, Masern oder das Coronavirus anzubieten, wenn sie diese noch nicht erhalten haben.

In Deutschland gilt eine faktische Impfpflicht gegen Masern: Für Kinder muss vor dem Eintritt in Kindergarten oder Schule die Impfung nachgewiesen werden. Das gelte auch für ukrainische Kinder, stellte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bereits klar. Ankommende Geflüchtete, die in einer Erstaufnahmeeinrichtung unterkommen, müssen sich zudem verpflichtend auf Polio und Tuberkulose untersuchen lassen. Das sieht das Infektionsschutzgesetz vor. Geflüchteten, die privat unterkommen, wird eine solche Untersuchung auf freiwilliger Basis angeboten. Bei Einreise müssen Ukrainer zudem eine Corona-Impfung oder Genesung nachweisen können oder alternativ einen Test machen.

"Die Impflücken müssen geschlossen werden", sagte Lauterbach Ende März nach einer Konferenz mit den Ministerpräsidenten der Länder und bezog sich dabei sowohl auf die Routine-Impfungen gegen zum Beispiel Polio oder Masern als auch die Corona-Impfung. Geflüchteten Ukrainern sollten schnelle und unbürokratische Impfangebote gemacht werden. Und auch er stellt klar: "Die europäische Bevölkerung muss nicht in Sorge sein, dass über die Flüchtlinge eine Gesundheitsgefahr importiert würde, die nicht beherrschbar wäre."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Telefonat mit WHO-Sprecher Bhanu Bhatnagar
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