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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Menschenhandel Experten warnen vor sexueller Ausbeutung ukrainischer Frauen
Hunderttausende fliehen derzeit aus der Ukraine – vor allem Frauen und Kinder. Doch nicht alle schaffen es in die Sicherheit. Menschenrechtler warnen vor der Gefahr, die an Grenzen und Bahnhöfen lauert.
Adriana Popas* wurde Opfer von Menschenhandel. Mehrere Jahre arbeitete die 39-jährige Rumänin in deutschen Haushalten, angestellt bei einer Vermittlungsagentur – illegal. Die Pflege eines älteren Mannes überforderte sie völlig, aber sie brauchte das Geld. Sexualisierte Übergriffe brachte sie nicht zur Anzeige. Und auch, als sich ihr linkes Ohr entzündete, suchte sie keinen Arzt auf – aus Angst, dass ihre illegale Beschäftigung auffliegen könnte. Heute ist sie taub.
Betroffene wie Popas finden bei der Beratungsstelle FairCare Hilfe. Die Organisation setzt sich gegen die Ausbeutung von Betreuungskräften ein. Popas Fall wurde dokumentiert, er reiht sich in jährlich Hunderte Fälle von Menschenhandel ein. Mit dem Krieg in der Ukraine könnten die Zahlen – und die dahinterstehenden Schicksale – weiter steigen, befürchten Experten.
Menschenhandel (§ 232 StGB) ist eine Menschenrechtsverletzung und bezeichnet jede Form des Anwerbens, des Transports oder des Beherbergens von Personen zum Zweck der Ausbeutung. Darunter fallen sexuelle Ausbeutung, häufig in Form von Zwangsprostitution, aber auch Zwangsarbeit, Ausbeutung der Arbeitskraft, Ausbeutung durch Bettelei oder die rechtswidrige Entnahme von Organen.
Expertin: "Bin sicher, dass sich bald erste Betroffene melden"
"Ich bin mir leider ziemlich sicher, dass sich bald erste Betroffene melden werden", sagt Sophia Wirsching, Geschäftsführerin des Bundesweiten Koordinierungskreises gegen Menschenhandel e.V. (KOK), zu t-online. Denn auch in vergangenen Fluchtbewegungen nutzten Menschenhändler die Not von Geflüchteten aus.
Petra Bendel, Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR), sieht bei der Flucht aus der Ukraine deshalb verstärkten Handlungsbedarf: "Da es sich bei den Flüchtenden insbesondere um Frauen und Kinder handelt, müssen diese vor geschlechtsspezifischer Gewalt, Menschenhandel und Ausbeutung besonders geschützt werden", sagt die Expertin zu t-online.
Ukrainerinnen besonders von Menschenhandel gefährdet
Zahlen des Bundeskriminalamts (BKA) belegen ihre Forderung: Demnach schloss die Polizei im Jahr 2020 insgesamt 465 Verfahren im Bereich Menschenhandel ab. In über der Hälfte der Fälle wurden die Betroffenen sexuell ausgebeutet, mehr als neunzig Prozent der Opfer waren weiblich. In fast 200 Fällen waren die Betroffenen minderjährig. Auch sie wurden vorwiegend sexualisiert ausgebeutet.
Doch auch ihre Herkunft könnte für die Flüchtenden aus der Ukraine ein besonderes Risiko bergen. Denn neben Deutschland kamen die bisherigen Betroffenen nach Angaben des BKA vor allem aus Ost- und Südosteuropa. Und auch auf Pornoportalen zeigt sich die Gefahr: So sind die Suchanfragen nach "jungen Ukrainerinnen" seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine rasant in die Höhe geschnellt. "Die Menschenhändler wittern das große Geld und werden versuchen, diese 'Wünsche' zu erfüllen", sagt Irene Hirzel, Geschäftsführerin des Vereins Act212, einem Beratungs- und Schulungszentrum gegen Menschenhandel, dem "Tagesspiegel".
Neben der Zahl dieser sexualisierten Ausbeutungen werde vermutlich auch die Ausbeutung in haushaltsnahen Dienstleistungen und der privaten Pflege steigen, warnt KOK-Geschäftsführerin Wirsching. "Es ist ja jetzt schon so, dass in diesem Bereich auf Ukrainerinnen zurückgegriffen wird." Aufgrund der akuten Not könnte sich das noch verschärfen.
Private Helfer oder Menschenhändler?
Erste Beobachtungen bestärken ihre Befürchtungen: "Einige Mitarbeiter unserer Organisationen mussten leider schon sehen, dass Frauen und Kinder am Berliner Hauptbahnhof angesprochen und ihnen unseriöse Angebote gemacht wurden", berichtet Wirsching. Helfende vor Ort berichteten t-online-Reporter Jannik Läkamp Ähnliches.
Demnach würden vor allem ältere Männer gezielt auf Frauen zugehen, die allein reisen oder Kinder dabei haben, und ihnen eine Unterkunft oder Mitfahrgelegenheit anbieten. Oftmals böten sie den Frauen zusätzlich Geld, wenn sie mitkämen. Die Polizei warnte vor den "auffälligen Übernachtungsangeboten".
In der Vergangenheit zeigte sich ein ähnliches Muster: Nach Angaben des BKA versprechen die mehrheitlich männlichen Täter von Menschenhandel ihren Opfern häufig eine legale und angeblich gut bezahlte Arbeit – doch die Realität sehe letztlich oft anders aus. Mit physischer und psychischer Gewalt werden die Betroffenen in Zwangsprostitution oder in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen gehalten. Nicht selten nehmen die Täter ihnen auch den Pass ab. Das könnte auch Ukrainerinnen drohen, die in Deutschland ankommen.
An der polnischen Grenze warten Busse "nur für Frauen"
Doch die Gefahr für die Flüchtenden lauert nicht nur an den Ankunftsbahnhöfen: Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International fürchten, dass es einige Frauen und Kinder nicht einmal über die deutsche Grenze schaffen. Die polnische Zeitung "Polski obserwator" berichtet von Kindern aus der Ukraine, die allein zu Verwandten geschickt, aber nie von Bahnhöfen abgeholt würden.
Menschenrechtsorganisationen fordern deshalb mehr Schutz für die Menschen, die oftmals zunächst im Nachbarland Polen ankommen.
Auch "Gazeta" berichtet von auffälligen Bussen, die vor den Ankunftsbahnhöfen stünden – etwa in Przemyśl. Jeden Tag erreichen Zehntausende ukrainische Frauen und Kinder die polnische Kleinstadt nahe der Grenze. Sie sind müde und ausgelaugt. Eine Situation, die die oftmals ausländischen Fahrer – beispielsweise aus Dänemark oder den Niederlanden – ausnutzen wollen.
Dem Bericht zufolge hängt an einigen Bussen ein Schild mit dem Schriftzug "Nur für Frauen". Die Polizei habe Helfende vor Ort gewarnt, sie sollten Verdächtiges umgehend melden. Bestätigte Fälle liegen bislang jedoch nicht vor, berichtet "Polskiobserwator".
Polizei ermittelt bislang nicht
Auch in Deutschland ist für die Bekämpfung von Menschenhandel allein die Polizei zuständig. Aufklären sollen Menschenrechtsorganisationen, teilt eine Sprecherin der Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration auf Anfrage von t-online mit.
Die Polizei in Hamburg, Berlin und München ermittelt hinsichtlich der Ankunft von ukrainischen Geflüchteten bislang nicht im Bereich des Menschenhandels. "Die derzeitigen Vorkommnisse – wie unseriöse Unterkunftsangebote an weibliche Schutzsuchende – sind per se bisher nicht dem Deliktsbereich 'Menschenhandel' zuzuordnen", sagte eine Sprecherin der Polizei Berlin zu t-online. Grund dafür sei, dass eine Ausbeutungssituation zu diesem Zeitpunkt nicht vorliege. Auch eine Ausbeutungsabsicht müsste eindeutig sein.
Damit diese gar nicht erst eintritt, stellen Experten vor allem zwei Forderungen: Erstens müssten die ankommenden Menschen, aber auch die privaten Helfer registriert werden. Denn im privaten Raum, so KOK-Geschäftsführerin Wirsching, sei es der Polizei kaum möglich, Menschenhandel aufzudecken. Zweitens müssten nicht nur Beamte und Behörden sensibilisiert, sondern auch Geflüchtete über die mögliche Gefahr aufgeklärt werden.
KOK gibt Ukrainerinnen wichtige Tipps
Aufklärung leistet unter anderem der KOK. Die Organisation gibt Hinweise, wie sich die Geflüchteten davor schützen können, Opfer von Menschenhandel zu werden:
- Wichtige Dokumente sowie Bargeld sollten demnach grundsätzlich bei sich getragen werden und niemals in fremde Hände gegeben werden. Am besten solle man zusätzlich ein Foto von den Dokumenten machen.
- Ukrainerinnen können die Deutsche Bahn (DB) kostenlos nutzen. Sollten sie dennoch in ein Auto, einen Bus oder ein Taxi einsteigen, rät die Organisation, ein Foto von dem Nummernschild des Fahrzeugs zu machen und an Vertraute zu senden.
- Mit diesen sollte man sich zudem ein Codewort für Gefahrensituationen zulegen.
- Telefonnummern und Kreditkartennummern sollten die Flüchtenden im Kopf haben. "Rechnen Sie jederzeit damit, dass Sie Ihre Tasche mal zurücklassen müssen", so die Organisation.
Polizeipräsenz und Schutzzonen zur Prävention
Der zweiten Forderung nach einer Registrierung von Geflüchteten und Helfenden will die Polizei nun zumindest in Teilen nachkommen. Mit "Schutzzonen" für Geflüchtete soll an den Ankunftsbahnhöfen vermieden werden, dass Kriminelle die Ersten seien, die mit den Frauen Kontakt aufnähmen, teilt die Polizeigewerkschaft GdP mit.
Stattdessen sollten diese zunächst durch die Beamten registriert und dann an Freunde oder Familie weitergeleitet werden. Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) unterstützt das Anliegen. Gespräche mit dem Bundesinnenministerium dazu liefen bereits.
Auch die Caritas spricht sich für die Polizeipräsenz an den Bahnhöfen aus. Diese sei wichtig, um Schutz zu bieten, aber auch um potenziellen Tätern zu signalisieren, dass sie nicht risikolos agieren können. In Berlin zeigt diese Methode bereits Wirkung: Laut der Bundespolizei kommen derartig verdächtige Personen nicht mehr zum Bahnhof.
*Zum Schutz der Person wurde der Name anonymisiert. Ihr Fall wurde von der Organisation FairCare dokumentiert und der Redaktion durch den Bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V. (KOK) bereitgestellt.
- Eigene Recherchen
- Nachrichtenagentur dpa
- Polski obserwator: Deutsche Polizei fordert Einrichtung von Schutzzonen
- Gazeta: Menschenhändler an der polnisch-ukrainischen Grenze (polnisch)
- KOK: Schutz vor Menschenhandel und Ausbeutung auf der Flucht
- EU-Kommission: Dritter Report im Kampf gegen Menschenhandel (englisch)
- Anfrage an Caritas Deutschland
- Anfrage an Petra Bendel Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR)
- Gespräch mit Sophia Wirsching, Geschäftsführerin des Bundesweiten Koordinierungskreises gegen Menschenhandel e.V. (KOK)
- BKA: Bundeslagebild 2020, vom 28. September 2021