Video zeigt Rede im Bundestag Selenskyj: "Jetzt sehen wir, dass diese Worte nichts wert sind"
Seit drei Wochen greift Russland sein Land an: Zum ersten Mal hat der ukrainische Präsident Selenskyj nun im Bundestag gesprochen. Dabei appellierte er an Bundeskanzler Scholz – und übte scharfe Kritik.
Mit einer emotionalen Rede und scharfer Kritik hat sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstagmorgen in einer Videobotschaft an den Deutschen Bundestag gewandt. (Die wichtigsten Aussagen sehen Sie auch hier im Video.)
Russland zerstöre sein Land, die Ukraine, mehr als 100 Kinder seien getötet worden – "in der Mitte Europas, im Jahr 2022". Viele politische Schritte seien zu spät gegangen worden. Explizit erwähnte Selenskyj dabei das zögerliche Vorgehen der Bundesregierung in Bezug auf die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 und kritisierte die Wirtschaftsbeziehungen deutscher Konzerne nach Russland, die Putins Kriegsmaschinerie finanzierten. "Sie sind wie eine Art Mauer, die uns voneinander trennt." Diese Mauer werde größer mit jeder Bombe, die auf die Ukraine falle – und mit jeder Entscheidung, die nicht getroffen werde.
In seinem Land seien Zivilisten und Soldaten wahllos Ziel russischer Angriffe. "Russland bombardiert unsere Städte und zerstört alles, was in der Ukraine da ist. Das sind Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Kirchen, alles. Mit Raketen, mit Luftbomben, mit Artillerie. In drei Wochen sind sehr viele Ukrainer gestorben, Tausende. Die Besatzer haben 108 Kinder getötet", sagte Selenskyj. Und: "Wieder versucht man in Europa, das ganze Volk zu vernichten."
"Lieber Herr Bundeskanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer"
Warum seien die USA der Ukraine zurzeit sehr viel näher als Deutschland, fragte Selenskyj. Er appelliere an die Werte, die so oft in Europa betont würden: Gleichheit, Freiheit, Sicherheit, die Möglichkeit zu leben, ohne sich einem anderen Land zu unterwerfen. Die bisher beschlossenen Sanktionen seien nicht ausreichend.
Selenskyj erinnerte zudem an die europäische Geschichte – zunächst an Krieg und Zerstörung nach dem Zweiten Weltkrieg. "Täglich sagen deutsche Politiker 'nie wieder'. Jetzt sehen wir, dass diese Worte nichts wert sind."
Zum Abschluss seiner Ansprache erinnerte er auch an Ronald Reagans historische Rede in Berlin 1987, in der der US-Präsident das Einreißen der Berliner Mauer forderte. Das rufe auch er jetzt Scholz zu, mit Blick auf die neue Mauer in Europa, die er sehe: "Lieber Herr Bundeskanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer", sagte Selenskyj. "Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die es verdient."
Göring-Eckardt: "Wir sehen euch"
Nach der Rede ging das Parlament, angeleitet durch Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt, rasch zur Tagesordnung über. Die Koalition von SPD, Grünen und FDP hatte eine Aussprache des Parlaments über den Ukraine-Krieg abgelehnt. Ein entsprechender Antrag der Union wurde nur von den Abgeordneten der Linken und der AfD unterstützt. Die drei Koalitionsfraktionen stimmten dagegen.
Abgeordnete quittierten das Vorgehen mit Buhrufen. CDU-Chef Friedrich Merz ergriff das Wort und kritisierte, dass es nach Selenskyjs Rede im Plenum keine Aussprache zur Position der Bundesregierung im Ukraine-Krieg gebe. "Nach dieser Rede wäre doch jetzt genau der richtige Zeitpunkt, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Die Frage zu stellen: Stehen wir eigentlich heute als Bundesrepublik Deutschland an der richtigen Stelle?"
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Die Bundestagsabgeordneten waren vor der Rede aufgestanden und begrüßten Selenskyj mit Applaus. Bundestagsvizepräsidentin Göring-Eckardt drückte vor Selenskyjs Ansprache Entsetzen über den russischen Krieg gegen die Ukraine aus und sicherte Kiew die Solidarität Deutschlands zu. "Wir sehen euch, wir sind in Gedanken bei euch und bei denen, die um euch trauern", sagte die Grünen-Politikerin.
Die Parlamentssitzung hatte mit leichter Verspätung begonnen. Es habe technische Probleme gegeben, weil es in Kiew "einen Anschlag in unmittelbarer Nähe" gab, sagte Göring-Eckardt.
- Liveübertragung aus dem Bundestag am 17. März 2022
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa