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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ukraine-Talk bei "Anne Will" SPD-Chef Klingbeil gibt "Fehleinschätzung" zu
Begeht Deutschlands Politik mit dem Nein gegenüber einem sofortigen Gasembargo gegenüber Russland einen historischen Fehler? Diese Frage stand im Zentrum der Talkrunde bei "Anne Will".
Es gab am Sonntagabend bei "Anne Will" zwei Argumentationslager: Die einen, darunter die ukrainische Autorin Katja Petrowskaja, erklärten, Deutschland agiere im Ukraine-Krieg zu zögerlich und sollte ein Energieembargo gegenüber Russland in die Wege leiten. Die anderen — allen voran die Regierungsvertreter — argumentieren hingegen, man müsse überlegt und nachhaltig reagieren, auch wenn dies emotional schwierig sei.
Die Gäste
- Robert Habeck, Vizekanzler und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz
- Lars Klingbeil, SPD-Parteivorsitzender
- Claudia Major, Politikwissenschaftlerin
- Katja Petrowskaja, Schriftstellerin
- Roderich Kiesewetter, Politiker und Oberst a.D.
- Dmytro Kuleba, ukrainischer Außenminister
Habeck: "Dass das moralisch nicht schön ist, ist nicht schönzureden"
Vizekanzler Robert Habeck sieht es als Aufgabe der Bundesregierung an, realistische und wohlüberlegte Schritte durchzuführen – und zwar solche, die man auch auf Dauer durchhalten könne. Deutschland wollte sich auf lange Sicht unabhängig von russischer Energie machen, ein sofortiges Energieembargo hätte für die deutsche Bevölkerung allerdings gravierende Auswirkungen, so der Vizekanzler.
"Wenn man jetzt sofort den Schalter umlegt, wird es zu Massenarbeitslosigkeit und Armut kommen. Zu Menschen, die ihre Wohnung nicht heizen können, die kein Benzin haben". Deswegen gelte es, die Energieunabhängigkeit schrittweise zu erreichen. "Es ist schlauer, erst die Vorbereitungen zu treffen. Dass das moralisch nicht schön ist, das ist nicht schönzureden", so Habeck.
Auch die Entscheidung, nicht direkt militärisch eingreifen, rechtfertigte Habeck: "Deutschland tut viel, aber nur das, was es verantworten kann. Wenn wir alles täten, würden wir in eine unkontrollierte Situation reingeraten. Als Regierungsmitglied kann man sich nicht nur emotional leiten lassen. Man muss die Dinge zu Ende durchdenken. Nicht alles, was einem einfällt, ist auch kluge Politik".
Ganz anders als Habeck (und respektive Klingbeil und Major) sieht die Lage die ukrainische Schriftstellerin Katja Petrowskaja. "Das Problem ist, dass Putin nur Stärke versteht. Wir werden jeden Tag für diesen Krieg mehr bezahlen, wenn wir zögern", erklärte sie. Deutschland habe Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg übernommen — nun sei die Frage, ob man daraus gelernt habe oder nicht. "Was muss noch geschehen, dass wir sagen, wir müssen den Himmel schließen, viel mehr Waffen liefern", appellierte sie.
Klingbeil indes stellte sich auf die Seite seines Koalitionskollegen Habeck. Das Dilemma der politisch Verantwortlichen sei es, "24 Stunden am Tag" abzuwägen, ob die getroffenen Entscheidungen ausreichen. Zwar sei auch jedes Regierungsmitglied bei dem Thema emotional, jedoch gehe es darum, diese Entscheidungen weiterzudenken.
Klingbeil: Russland falsch eingeschätzt
"Deutschland handelt konsequent. Wir haben gerade das vierte Sanktionspaket auf den Weg gebracht. Das trifft die Oligarchen, das Umfeld Putins. Wir machen politischen Druck auf China. Das ist etwas, das Deutschland gemeinsam mit seinen Partnern macht", so der Politiker. Klingbeil gestand aber durchaus, Russland falsch eingeschätzt zu haben.
"Wir haben immer gehofft, dass der Weg des Völkerrechts, des regelbasierten internationalen Systems funktioniert. Aus heutiger Sicht muss man sagen: Da hatten wir eine Fehleinschätzung". Dennoch gelte es, in puncto Energieversorgung einen Weg zu finden, den die deutsche Bevölkerung "über 2,3 Jahre" mitgehen könne — ein sofortiges Embargo hält der SPD-Politiker "nicht für klug". Die Frage Wills, ob man hier mit einer zu zögerlichen Reaktion einen historischen Fehler begehe, blockte Klingbeil erneut mit der Argumentation ab, man beurteile die Situation jeden Tag neu.
"Nord Stream 1 kann gestoppt werden"
Roderich Kiesewetter hingegen appelliert für einen sofortigen Gasausstieg. "Wie wollen wir denn unserer Bevölkerung und vor allem der ukrainischen Bevölkerung klarmachen, dass jeden Tag 600 bis 700 Millionen Euro an Energielieferungen aus Russland kommen?", so der CDU-Politiker – der in Richtung Ampelkoalition erklärte: "Unser Angebot, Nord Stream 1 zu stoppen, steht."
Politikwissenschaftlerin Claudia Major zeigte sich eher der Meinung Klingbeils und Habecks. "Die Effekte von einem Embargo sind langfristig. Es geht letztlich darum, wer länger durchhält", so Major. Wenn man sich letztendlich selbst die Luft mit schweren Sanktionen abschneide und die Unterstützung der eigenen Bevölkerung verliert, "haben wir nicht gewonnen und dann hat auch die Ukraine nicht gewonnen".
Ukrainischer Außenminister bittet Deutschland um drei Dinge
Via Video zugeschaltet war auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba. Dieser berichtete unter anderem über die laufenden Gespräche mit Russland. Dabei wollte er zwar keine Details nennen, machte aber unmissverständlich klar: "Wir geben nichts auf". "Das ist ein Krieg, bei dem es um die Existenz des ukrainischen Staates geht. Wir werden weiterkämpfen, aber gleichzeitig sind wir gesprächsbereit", so Kuleba. Eine Einigung mit Russland könne nur "auf der Grundlage des Respekts gegenüber der territorialen Souveränität der Ukraine" erzielt werden.
Die Ukraine fordere nichts von Deutschland, erhoffe sich aber drei Dinge: Die Unterstützung mit notwendigen Waffen, schärferer Sanktionen (bei denen Deutschland den Ruf habe, zu blockieren) sowie die Hilfe bei der Aufnahme der Ukraine in die Europäische Union.
- "Anne Will" vom 13. März 2022