Krieg in der Ukraine Russland bombardiert Städte, immer mehr Menschen fliehen
Die Gefechte gehen auch in der Nacht weiter. Berichte über den Beschuss eines Forschungsreaktors in Charkiw lösten neue Sorgen über eine radioaktive Verschmutzung aus. Ein Überblick über die aktuelle Lage.
Es ist Tag 12 seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Russische Truppen setzen die Kämpfe in unverminderter Härte fort, zahlreiche Menschen fliehen aus dem Land. Ein Überblick zum Geschehen in der Nacht und ein Ausblick auf den Tag:
Russische Luftangriffe auf Charkiw gehen weiter
Die Luftangriffe der russischen Armee auf die zweitgrößte Stadt der Ukraine, Charkiw, hielten in der Nacht zum Montag an. Nach ukrainischen Angaben wurde dabei der Fernsehturm beschädigt. Die Fernsehübertragung sei vorübergehend ausgefallen, sagte der Chef der regionalen Militärverwaltung, Oleh Synjehubow, der Agentur Unian zufolge.
Ein Journalist der Nachrichtenagentur AFP berichtete, dass dabei unter anderem ein Sportkomplex einer Universität und ein Wohnblock getroffen worden seien. Vor dem Wohngebäude lagen demnach mehrere Leichen neben einem Auto.
Angaben des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU zufolge wurde in Charkiw zudem ein Forschungszentrum, in dem sich Atommaterial befindet, mit Raketenwerfern beschossen. Die Behörde warnte, ein Treffer in dem Forschungsreaktor könne im schlimmsten Fall eine Umweltkatastrophe auslösen. Das russische Verteidigungsministerium behauptete laut Agentur Itar-Tass, der ukrainische Geheimdienst wolle die Anlage sprengen. Unabhängige Informationen gab es zunächst nicht.
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Unterdessen konzentrierten die russischen Truppen nach Angaben des ukrainischen Generalstabs ihre Angriffe neben Charkiw im Osten des Landes auch auf Sumy im Nordosten und Mykolajew im Süden.
Der Generalstab warnte weiterhin, dass Moskau seine "Ressourcen für einen Angriff" auf Kiew sammle. In der Hauptstadt hielt sich die Armee bereit, die letzte Brücke zu zerstören, die die Stadt mit dem westlichen Umland verbindet. "Wenn wir den Befehl von oben erhalten oder sehen, dass die Russen vorrücken, werden wir sie sprengen", sagte ein Mitglied einer Freiwilligeneinheit der AFP. Dabei sollten "so viele feindliche Panzer wie möglich" vernichtet werden.
Die US-Zeitung "Wall Street Journal" berichtet unter Berufung auf US-Regierungskreise, dass Russland im Häuserkampf erfahrene Kämpfer aus Syrien rekrutiert habe. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba gab indessen an, dass 20.000 Ausländer in die Ukraine gekommen seien, um sich den Freiwilligenverbänden anzuschließen.
Hunderttausende Menschen brauchen sofortige Evakuierung aus Kiew
Mit der Fortdauer des Kriegs müssten nach Angaben des ukrainischen Präsidialamtes mehrere Hunderttausend Ukrainerinnen und Ukrainer sofort aus ihren Städten evakuiert werden. Es gebe bereits mehrere Dutzend Städte in acht Regionen im Land, in denen die humanitäre Situation katastrophal sei, berichtete die Internetzeitung "Ukrajinska Prawda" unter Berufung auf das Präsidialamt.
Das Amt werfe Russland zudem vor, humanitäre Korridore als Vorwand zu benutzen, um die eigenen militärischen Positionen zu stärken. Am Sonntag wurde ein tödlicher Angriff auf flüchtende Zivilisten dokumentiert, bei dem eine Familie mit zwei Kindern getötet wurde.
Brennpunkt Mariupol
Die russische Armee belagerte weiterhin den strategisch wichtigen Hafen Mariupol am Asowschen Meer im Südosten des Landes, wo am Sonntag ein zweiter Versuch einer Evakuierung der Zivilbevölkerung gescheitert war.
Ursprünglich war die Evakuierung von 10 Uhr bis 21 Uhr (Ortszeit; 9 Uhr bis 20 Uhr MEZ) vereinbart worden. Medienberichten zufolge sollen lediglich 300 Menschen die Stadt verlassen haben, geplant waren Zehntausende. Die Ukraine und Russland werfen sich gegenseitig vor, die Waffenruhe nicht eingehalten zu haben.
Mariupols Bürgermeister Wadym Boitschenko sprach im ukrainischen Fernsehen von einer "humanitären Blockade" durch russische Einheiten. Er flehe um die Errichtung eines Korridors, um Ältere, Frauen und Kinder aus der Stadt mit rund 440.000 Einwohnern zu bringen.
Selenskyj kritisiert Schweigen nach weiterer Angriffsdrohung Moskaus
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat ein Ausbleiben internationaler Reaktionen auf die Androhung Moskaus, nun auch Gebäude der Waffenindustrie seines Landes anzugreifen, kritisiert. "Denken Sie an das Gefühl der Straffreiheit der Invasoren", sagte Selenskyj in einer am Sonntagabend veröffentlichten Videobotschaft. Russland könne seine "geplanten Gräueltaten" ankündigen, weil es keine Reaktion gebe. Er betonte, in den teils vor Jahrzehnten gebauten Fabriken arbeiteten Tausende Menschen, sie befänden sich in Städten und Hunderttausende Menschen lebten in ihrer Nähe.
Letzte OSZE-Beobachter verlassen die Ukraine
Die letzten internationalen OSZE-Beobachter verlassen vorübergehend die Ukraine, wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mitteilte. Anfang vergangener Woche hatten noch mehrere Mitglieder des zuletzt rund 500 Personen starken Teams in umkämpften ukrainischen Städten wie Charkiw und Cherson festgesessen. Am Dienstag starb eine ukrainische Mitarbeiterin beim Beschuss von Charkiw, als sie Vorräte für ihre Familie beschaffen wollte.
Berichte über russischen Beschuss auf fliehende Zivilisten
Auch Irpin, eine kleine Stadt nahe Kiew, wurde am Wochenende unter Beschuss genommen. Russische Truppen haben dort einem Bericht der "New York Times" zufolge Mörsergranaten auf eine Brücke geschossen, über die Zivilisten flüchten wollten. Die vor Ort anwesende Journalistin Lynsey Addario berichtet, dass mindestens drei Menschen dabei ums Leben kamen. Laut dem Bürgermeister Oleksandr Markushin starben insgesamt acht Menschen.
Mehrere Hundert Menschen hatten sich laut dem Bericht der "New York Times" an dem Ort versammelt, um über eine Behelfsbrücke zu fliehen. Einige ukrainische Soldaten waren demnach ebenfalls anwesend, um den Flüchtenden zu helfen. Als der Beschuss begann, versuchten sich die Menschen in Sicherheit zu bringen. Wie die Journalistin Addario berichtete, kamen zwei Kinder und deren Mutter ums Leben, ein Mann wurde schwer verletzt. Weiteren Berichten zufolge starb auch er kurze Zeit später.
Nach UN-Angaben wurden in dem Krieg bislang mindestens 364 Zivilisten getötet – darunter 41 Kinder. Laut amerikanischen Angaben sterben pro Tag zudem Hunderte russische Soldaten. US-Zahlen zu ukrainischen Verlusten gab es nicht.
Sorge über möglichen Luftangriff auf Odessa
Der französische Präsident Emmanuel Macron zeigte sich in seinem jüngsten Telefongespräch mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin besorgt über einen möglicherweise kurz bevorstehenden Angriff auf die Hafenstadt Odessa. Das teilt das Pariser Präsidialamt mit. Auch Selenskyj hatte Russland vorgeworfen, die Bombardierung der historischen Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer vorzubereiten. Die südukrainische Stadt mit knapp einer Million Einwohnern war bislang von den Kämpfen weitgehend ausgenommen.
"Am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise seit dem 2. Weltkrieg"
Nach mehr als einer Woche Krieg fliehen immer mehr Ukrainer aus ihrer Heimat – vor allem in EU-Länder. Aktuellen Schätzungen der UN-Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR zufolge sind bereits mehr als 1,5 Millionen Menschen geflohen. "Dies ist nun die am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg", teilte das UNHCR mit. Allein im ukrainischen Nachbarland Polen sind nach Angaben des Grenzschutzes seit Kriegsbeginn rund 964.000 Flüchtlinge angekommen.
Auch in Deutschland stieg die Zahl der ukrainischen Kriegsflüchtlinge am Wochenende weiter deutlich: Nach Angaben des Innenministeriums registrierte die Bundespolizei bis Sonntag deutschlandweit 37.786 geflüchtete Ukrainer und damit fast 10.000 mehr als am Vortag. Bundeskanzler Scholz äußerte sich nach seinem Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen lobend über die europäische Solidarität: "Es ist gut und eben nicht selbstverständlich, dass alle EU-Staaten gemeinsam, schnell und unbürokratisch Kinder, Frauen und Männer aufnehmen."
Lindner will Firmen in Existenznot wegen Sanktionen helfen
Bundesfinanzminister Christian Lindner will Unternehmen unter die Arme greifen, denen wegen Sanktionen gegen Russland die Pleite droht. "Denkbar sind gezielte Hilfen für Unternehmen, die in ihrer Existenz gefährdet sind", sagte der FDP-Chef dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Entgangene Gewinne werden wir aber nicht ausgleichen könnten", betonte der Finanzminister.
Netflix stoppt Russland-Geschäft
Nach der russischen Invasion in die Ukraine stellt Netflix den Betrieb in Russland ein. Bereits vor einigen Tagen hatte der Videostreaming-Riese angekündigt, er werde entgegen den Vorschriften keine russischen TV-Sender über die Plattform verfügbar machen. Jetzt zieht der US-Konzern den Stecker: Angesichts der Situation werde der Dienst ausgesetzt, sagte eine Netflix-Sprecherin. Bisherige Kunden werden den Dienst noch schauen können, bis die nächste monatliche Zahlung fällig wird.
Tiktok schränkt Funktionen in Russland ein
Tiktok schränkt den Dienst in Russland ein, da nach einer Gesetzesänderung Gefängnisstrafen für Äußerungen drohen, die von der offiziellen Darstellung des Krieges in der Ukraine abweichen. Nutzer in Russland werden nicht mehr live streamen und neue Inhalte in den Videodienst hochladen können. Man habe angesichts der neuen Gesetzeslage keine andere Wahl, schrieb Tiktok bei Twitter. Nach der Gesetzesänderung von Freitag kann die Verbreitung angeblicher Falschinformationen über russische Streitkräfte mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden.
Das wird am heutigen Montag wichtig
Zwischen Unterhändlern der Ukraine und Russlands ist eine dritte Verhandlungsrunde geplant, Uhrzeit und der genaue Ort waren zunächst offen. In Den Haag kommt eine Völkermordklage der Ukraine gegen Russland vor den Internationalen Gerichtshof. US-Außenminister Antony Blinken besucht auf seiner Reise in Osteuropa Litauen und Lettland. Am Abend europäischer Zeit soll der UN-Sicherheitsrat über die humanitäre Lage in der Ukraine beraten.
- Nachrichtenagenturen dpa, afp und Reuters
- Eigene Recherche