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Ukraine-Krise: Will sich Putin auch noch die DDR zurückholen?


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Russland im Angriffsmodus
Die Ukraine war nur der Anfang, jetzt kommt die DDR

MeinungVon Wladimir Kaminer

Aktualisiert am 23.02.2022Lesedauer: 4 Min.
Wladimir Putin: Beim Gedanken an die Sowjetunion wird Russlands Präsident ganz nostalgisch, meint Wladimir Kaminer.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Beim Gedanken an die Sowjetunion wird Russlands Präsident ganz nostalgisch, meint Wladimir Kaminer. (Quelle: Sergey Guneev/Kremlin Pool/Planet Pix via ZUMA Press Wire/dpa)
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Der Westen ist entsetzt, dass Wladimir Putin in die Ost-Ukraine einmarschiert. Besser wäre es aber, wenn Scholz, Macron und Co. verstehen würden, was ihn wirklich antreibt: nostalgische Erinnerungen. Meint Wladimir Kaminer.

Seit Jahren wird in der deutschen Öffentlichkeit von einem "russisch-ukrainischen Konflikt" und "gegenseitiger Bedrohung" gesprochen. Als wäre das ukrainische Volk vollzählig verrückt geworden und habe sein bis an die Zähne bewaffnetes Nachbarland ebenfalls bedroht. Diese Zweideutigkeit in der Beschreibung führt dazu, dass kaum jemand in Europa versteht, was in der Ukraine wirklich passiert.

Hinweis: Alle neuen Informationen zum Ukraine-Krieg finden Sie hier auf einen Blick.

De facto hat der russische Präsident Wladimir Putin am Dienstag reguläre Armeeteile auf von ihm seit acht Jahren okkupiertes ostukrainisches Territorium geschickt. Schon damals hat niemand ernsthaft geglaubt, dass es aufgebrachte heimische Bergarbeiter waren, die die ukrainische Armee mit den neuesten Waffen in einen Kessel zwangen und zerschlugen.

(Quelle: Frank May)


Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Büchern gehört "Russendisko". Kürzlich erschien sein neuestes Buch "Die Wellenreiter. Geschichten aus dem neuen Deutschland".

Die separatistischen Regierungen in den beiden ostukrainischen Provinzen wurden von Moskau eingesetzt und finanziert, sie bestehen nicht aus Bergarbeitern. Die Donezker "Volksrepublik" wird mit Denis Puschilin von einem ehemaligen Manager geleitet, der als Chef einer berühmt-berüchtigten Finanzpyramide die halbe Ukraine um ihr Erspartes gebracht hat. Die Lugansker "Volksrepublik" wird wiederum von einem ehemaligen Oberst der ukrainischen Staatssicherheit geführt, der die Seiten gewechselt hat.

Die Territorien beider "Republiken" waren also schon seit Langem unter russischer Kontrolle. De facto hat sich nun nicht viel getan. De jure hat Putin aber seine Panzer über die Grenze eines Nachbarlandes rollen lassen – und damit alle geltenden Beschlüsse über europäische Sicherheit und Unantastbarkeit der Grenzen in Europa verletzt. Er hat der Ukraine das Recht auf ihr Territorium aberkannt und behauptet nun, sie würde als Staat nicht existieren, das Land sei bloß ein Platzdarm der Amerikaner, um Russland einzukesseln.

Putins Sprechpuppen

Seiner Entscheidung gingen zwei wichtige Ereignisse voraus: Zum einen die im Fernsehen übertragene Sitzung des russischen Sicherheitsrates, die vielen meiner Landsleute die Sprache verschlagen hat. Es wird an den Stammtischen Russlands wie in jedem anderen Land oft und gern über die Unfähigkeit und Albernheit der politischen Führung gelästert, doch ein solches laienhaftes Puppentheater, erwachsene Männer, die verzweifelt versuchten, ihrem Boss drei Sätze von den Lippen abzulesen? Ein solches Theater kannte man bis jetzt nur aus Komödien wie "The Dead of Stalin" und ähnlichen Filmen.

Diese Sitzung zeigte deutlich: Es gibt in Russland keine kollektiven Entscheidungsträger, der politische Kurswechsel des größten Landes der Welt findet im Kopf eines einzigen Mannes statt. Und Wladimir Putin hatte schon längst alles für sich und sein Land entschieden.

Gleich nach der Sitzung hielt er zum anderen eine einstündige Rede im Fernsehen, um die Beschlüsse des Sicherheitsrates zu erläutern. Seine Krawatte bewegte sich auf dem Bildschirm wie ein Perpendikel, man sah, dass diese Rede vor längerer Zeit aufgenommen worden war. Sie war angeblich an das eigene Volk, in Wahrheit aber an die Weltöffentlichkeit gerichtet.

"Um meine Handlungen zu erklären", sagte der russische Präsident, "muss ich weit in die Vergangenheit ausholen. Damals vor 100 Jahren ..."
Er erzählte ferner, dass es keine Ukraine gebe, sie sei erst vom Oberrevolutionär Wladimir Lenin künstlich erschaffen worden, um der kommunistischen Diktatur den Anschein einer Union, einer Mehrstaatlichkeit zu verleihen.

"Größte geopolitische Katastrophe"

Seine Vorgänger hätten viele Fehler gemacht, die in der letzten Konsequenz zum Zerfall der Sowjetunion geführt hätten, sagte der Präsident. Und diese Fehler möchte er jetzt rückgängig machen. Den Zerfall der Sowjetunion bezeichnet Putin oft und gern als "die größte geopolitische Katastrophe des vorigen Jahrhunderts". Größer als beide Weltkriege zusammen. Ich denke, dass er diesen Zerfall als sein eigenes Versagen betrachtet, als seine persönliche "Katastrophe".

Als junger Offizier hatte Putin für die Sicherheit dieses Staates zu sorgen, hatte aber nicht genug aufgepasst, der Staat ging verloren. Heute, gut 30 Jahre später, als allmächtiger Diktator sieht er sich in der Lage, diesen Fehler wieder wettzumachen. Putin will quasi in Handarbeit das Rad der Geschichte rückwärts drehen. Den Europäern ist dieser Mann höchst suspekt, die Politiker des Westens nennen ihn "aus der Zeit gefallen". Oder Schlimmeres.

Aus meiner Armeezeit weiß ich noch den Grundsatz: "Es wird niemand für verrückt erklärt, solange er keine Seife isst." Und Putin isst keine Seife. Man muss kein erfahrener Geheimdienstler sein, um zu erkennen, dass der Moment für eine Invasion gegen den Westen äußerst günstig ist, der Westen schwächelt.


Demokratien, mit ihren freien, launischen Bürgern, die ihre größte Sorge im Ausstoß von CO2 sehen, können ein leichtes Opfer sein. Das menschliche Leben ist im Westen zu wertvoll, um es dafür aufs Spiel zu setzen, anderswo gegen die Ungerechtigkeit und für die Freiheit zu kämpfen.

Für Putin ist die Nato ein Papiertiger

Diese Exklusivität macht aber das Leben in bestimmten Situationen wertlos. Die Bilder der zurückgelassenen Afghanen, die sich an die Fahrwerke amerikanischer Flugzeuge klammerten, haben Putin sicher gut gefallen und ihn überzeugt: Die Nato ist ein Papiertiger und nicht zum Kämpfen gedacht.

Also schickte er seine Panzer über die Grenze und besetzte die Ostukraine. Damit ist sein Plan aber keineswegs erfüllt. Wenn nicht in der nächsten, dann in seiner übernächsten Rede wird er sich und die Welt laut fragen, was ist eigentlich mit der DDR? Damals, als die russische Armee Ostdeutschland verlassen hat, hätten die Amerikaner sich in Zurückhaltung üben müssen, haben aber ihre Versprechen nicht erfüllt. So denkt sich das Putin.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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