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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ukraine-Krise Diese Frau zieht Putins Zorn auf sich
Russland dreht weiter an der Eskalationsschraube. Doch in der Ukraine melden sich immer mehr Bürger freiwillig zum Kriegsdienst, um ihr Land gegen Putins Armee zu verteidigen. Zwei mutige Frauen sind ganz vorne dabei.
Maryana Zhaglo sitzt auf der Couch in ihrer Küche in Kiew und lädt ihre Halbautomatik durch.
"Putin sollte sich zweimal überlegen, ob er eine Invasion starten will. Wir haben keine Angst mehr. Es ist Zeit, dass wir es zu Ende bringen."
Die 52-Jährige spannt den Karabiner hinten am Schaft. "Jetzt ist die Waffe bereit, eine Patrone abzufeuern." Sie drückt den Auslöser.
"Klick."
Der schwarze Jagdkarabiner Zbroyar Z-15 aus ukrainischer Herstellung ist selbstverständlich nicht geladen. Maryana will bloß zeigen, wie routiniert sie mittlerweile mit dem Gewehr umgehen kann. "Normalerweise bewahre ich sie im Safe auf, zur Sicherheit."
Die Mutter dreier Kinder ist Reservistin bei den ukrainischen Territorialen Verteidigungskräften (TDF), einem militärischen Freiwilligenverband, bei dem viele Zivilisten mitmachen. In Maryanas Einheit sind Architekten, Friseure, Lagerarbeiter, Investmentbanker – Menschen ohne militärische Ausbildung, die sich auf den Ernstfall vorbereiten: eine groß angelegte Invasion durch Russland.
Die TDF verzeichneten zuletzt immer mehr Zulauf. Rund 130.000 Kämpfer soll die Truppe bereits stark sein. Vor wenigen Tagen stieß auch Ex-Boxer Wladimir Klitschko dazu. Maryana ist bereits seit zwei Jahren dabei, erzählt sie.
"2014 startete unser Nachbar eine Aggression gegen unser Land. Ich hatte schon damals überlegt, mich freiwillig für den Kriegsdienst zu melden. Die TDF geben mir die Chance, mich zu wehren, mein Land zu verteidigen."
Ihr Mann arbeitet regulär für die Armee. Hier endet aber für Maryana der Familiendienst an der Nation – ihre Kinder sollen nicht in den Krieg ziehen. "Sie sind in einem zarten Alter. Ihr Job ist es, mir Enkelkinder zu schenken. Meiner ist es, sie zu beschützen. Wer sonst könnte das?"
Kampftraining als Abwechslung
Die 52-Jährige erklärt das Zubehör der Z-15, das sie gekauft hat. Ihre Tochter, die kurz durch die Küche huscht, nimmt kaum Notiz davon. "Ein Zielfernrohr zum Anvisieren, ein Schalldämpfer und das Zweibein für eine stabile Schießposition. Mit dem verlängerten Lauf kann ich besser auf Ziele in der Ferne schießen."
Im zivilen Leben arbeitet Maryana im Marketing. Beobachtet Trends, analysiert Marktdaten. "Meistens im Homeoffice", sagt sie und deutet auf den Laptop. Das Kampftraining empfindet sie als Abwechslung zu ihrem etwas eintönigen Job vor dem Rechner.
Maryanas Einheit ist das 130. Territoriale Verteidigungsbataillon, das sich jeden Samstag in einem Waldgebiet am Rande Kiews trifft und von 10 bis 16 Uhr den Krieg mit Russland simuliert. "Wir lernen enorm viel: Wie man mit der Waffe umgeht, wie man sich im Gefecht bewegt oder verschiedene Kampftaktiken." In ihrer Einheit sei sie Zugführerin und steige bald auf zur Unteroffizierin.
"Putin hat Lügen über mich verbreitet"
Wladimir Putin ist für Maryana nicht nur in militärischer Hinsicht eine Bedrohung. Seit russische Propaganda die Mutter als Lügnerin dargestellt hat, ist er für sie so etwas wie ein Intimfeind. Ein Journalist der britischen "Times" hatte über sie berichtet, als "normale Bürgerin, die sich bewaffne", woraufhin Moskau sich genötigt fühlte, eine Art Gegendarstellung zu veröffentlichen:
Maryana Zhaglo sei in Wahrheit ein Mitglied der Territorialen Verteidigungskräfte, die offiziell zur ukrainischen Armee gehörten, zitiert die Nachrichtenagentur Tass die Pressesprecherin des russischen Außenministeriums. "Die nächste Fake Story über Militante, die durch westliche Propaganda in antirussische 'Freiheitskämpfer' verwandelt werden", so die Regierungssprecherin auf Telegram laut Tass.
Ein erstaunlicher Vorgang. In der Sache nicht völlig falsch, denn die TDF wurden per Gesetz Anfang 2022 offiziell an die ukrainische Armee angedockt. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass Maryana Zivilistin ist. Wie Tausende andere Freiwillige im Land ist sie bereit, zu den Waffen zu greifen und gegen Russland in den Krieg zu ziehen. Eine mögliche Invasionsarmee Moskaus könnte damit auf erbitterten Widerstand treffen.
"Putin fürchtet sich vor der Vorstellung, dass einfache Bürger sich bewaffnen, um die Ukraine zu verteidigen. Deswegen macht er Propaganda gegen mich. Aber ich bin kein Fake. Ich bin eine Ukrainerin, die ihr Land verteidigen wird und sich die Lügen nicht gefallen lässt. Dieses Interview ist meine Antwort auf Putins Desinformationskrieg."
Sollte Russland losschlagen, dann sei es so, sagt Maryana. "Ich habe keine Angst vor dem Tod, weil ich fest an den Sieg glaube. Wir sind gut vorbereitet. Es gibt keinen anderen Weg."
"Meine Kinder wissen, was zu tun ist"
Auch Marta Yuzkiv hat sich entschlossen zu kämpfen. Ihre Einheit müsste im Kriegsfall strategisch wichtige Punkte und kritische Infrastruktur in Kiew verteidigen. "Elektrizitätswerke, Fabriken, Regierungsgebäude, so was."
Marta erzählt, was passiert, wenn sie der Anruf erreicht: "Sollte Russland eine Offensive starten, bekomme ich einen Anruf meines Kommandeurs, vorausgesetzt das Handynetz funktioniert dann noch. Dann habe ich maximal zwei Stunden, um meine Tasche zu packen und mich bei meiner Einheit zu melden."
Im Wohnzimmer ihres gutbürgerlichen Hauses in Hnativka am Rande Kiews zeigt sie, was sie alles mitnehmen würde: "Erste-Hilfe-Paket, Tarnhose, Helm, Handschuhe, Ellbogenschutz, eine Fünf-Kilo-Flakweste mit meinem Namen draufgestickt, Boots, warme Klamotten, Jacke, Funktionsweste, Ersatzmagazine."
Ihre Waffe, ein Sturmgewehr vom Typ AR-15, lagert sie nicht zu Hause. "Zum Üben reicht mir ein Airsoft-Gewehr. Es wiegt genauso viel und hat dieselben Funktionen." Ihr Mann bevorzugt eine Kalaschnikow. Die haben die Yuzkivs zu Hause ebenfalls nur in der Airsoft-Version.
Auch Martas ältester Sohn (27) trainiert in derselben Einheit der TDF. Die zwei jüngsten, Zwillinge, sind erst 13 Jahre alt.
Was machen sie, wenn Mama, Papa und der ältere Bruder in die Schlacht ziehen?
"Sie wissen, was zu tun ist", sagt Marta. "Wir haben Pläne gemacht und alles besprochen. Wenn mein Mann und ich losziehen, bleiben sie hier und kümmern sich um das Haus und die Katzen. Sie wissen, wie man kocht und das Gemüse im Garten erntet. Na ja, einigermaßen." Sie lacht.
"Zur Not gibt es ja noch die Vorratskammer." Marta führt in den Keller. "Die Wände hat mein Opa extra dick gebaut, in weiser Voraussicht", erzählt sie und klopft auf das 20 Zentimeter dicke Mauerwerk. "Das taugt als Bombenkeller."
In der kleinen Kammer lagern Reis in Säcken, eingelegter Kürbis in Gläsern, "Bonduelle"-Erbsen. "Das reicht den Jungs für mehrere Monate."
"Ich will nie wieder unter russischer Besatzung leben"
Marta erzählt, sie habe schon immer für eine unabhängige Ukraine gekämpft, frei von Moskaus Einfluss. "Ich war bei fast jedem Protest in der Geschichte meines Landes: 1989 habe ich gegen den KGB demonstriert, im Jahr darauf habe ich mich beim Hungerstreik der Kiewer Studenten beteiligt. 2005 war ich bei der Orangen Revolution vorne dabei, 2014 bei der 'Revolution der Würde'. Aber echte Freiheit haben wir immer noch nicht."
Die 51-Jährige sieht auch hausgemachte Probleme. "Wir haben keine staatlichen Vertreter, für die das Land an erster Stelle steht. Viele wirtschaften in die eigene Tasche oder kümmern sich nur um den eigenen Machterhalt."
Auch Präsident Selenskij zähle sie zu einer politischen Elite, die vor allem eigene Interessen verfolge. "Er denkt nicht zuallererst als Ukrainer. Unsere Soldaten sind für ihn keine Helden. Wenn es Tote im Donbass gibt, spürt er keinen Schmerz." Doch solange die äußere Bedrohung durch Moskau anhalte, sei kein echter Fortschritt im Land möglich.
Nicht zuletzt deswegen sei sie bereit, in den Krieg zu ziehen. "Lieber kämpfe ich und riskiere mein Leben, als unter russischer Besatzung zu leben. Ich habe die völlige Unfreiheit schon einmal erlebt, damals in der Sowjetunion. Ich weiß, was es bedeutet, unter dem Diktat von Moskau zu leben."
Dass sie eines Tages in die absurde Situation geraten könnte, mit ihrem Mann und ihrem ältesten Sohn Seite an Seite im Schützengraben zu liegen und auf russische Soldaten zu schießen, sei ihr bewusst. "Es gibt keinen anderen Weg."
Man merkt Marta an, dass sie viel nachdenkt, dass sie mit manchen Formulierungen versucht, die eigene Unsicherheit zu überspielen, Ängste wegzukalkulieren. Sie sagt dann Sätze wie: "Man darf nicht in Panik verfallen, man muss planen." Oder: "Wir sind gut beschützt, unsere Armee ist stark." Ob sie jeden ihrer Sätze auch genauso meint, bleibt manchmal unklar.
"Krieg macht mir große Angst"
Die 51-Jährige lehnt an der Küchenarmatur, um sie herum schnurrt eine ihrer zehn Katzen. Sie hatte gerade am Napf Trockenfutter geknuspert und die Interviewaufnahme gestört. Marta lächelt und entschuldigt sich für sie. Dann wird sie ernst.
"Krieg macht mir große Angst, wenn ich ehrlich bin. Was ich am meisten fürchte, ist eine groß angelegte Invasion, den 'großen Krieg', wie wir ihn nennen. Aber lieber kämpfe ich, als unter russischer Besatzung zu leben. Was sagte Boris Johnson neulich? Russische Mütter werden wegen ihrer gefallenen Söhne trauern, wenn Russland einmarschiert. Genauso ist es. Wir Ukrainer werden bis zum letzten Soldaten kämpfen."
- Besuch bei Maryana ZhagloBesuch bei Marta Yuzkiv
- Tass: "Zakharova: Times ran fake news on ordinary Ukrainians taking up arms"