"Freedom Day" Englands "Freedom Day" und das drohende Chaos
London (dpa) - Es hätte das glorreiche Ende der "Einbahnstraße Richtung Freiheit" sein sollen: Menschen, die sich in den Armen liegen, in vollen Clubs die Nacht durchtanzen und die Masken fallen lassen.
So die Vision von Boris Johnson, der über Monate hinweg seinen "vorsichtigen, aber unumkehrbaren Weg" pries, an dessen Ende der langersehnte "Freedom Day" stehen sollte. Diesen Tag der Freiheit erlebt England nun auch - doch von Vorsicht kann keine Rede mehr sein. Und im Fall von Boris Johnson auch nicht von Freiheit. Der Premierminister ist als enger Kontakt seines infizierten Gesundheitsministers seit dem Wochenende in Quarantäne.
Die englische Corona-Strategie steht nun ganz unter dem Motto: Eigenverantwortung. Masken sind seit Montag an den meisten Orten freiwillig, genauso wie Abstandhalten. Es gibt keine Beschränkungen mehr für Clubs oder private Partys, auch Theater und Kinos dürfen ihre Säle voll besetzen. Tausende Feierwütige begrüßten ihre neugewonnene Freiheit schon in den frühen Morgenstunden mit der ersten Clubnacht seit Monaten. "Wann sollten wir es tun, wenn nicht jetzt?", fragte Johnson am Montag bei einer virtuellen Pressekonferenz direkt aus der Quarantäne. Im Herbst oder Winter werde die Situation noch schwieriger sein.
Währenddessen lässt die hochansteckende Delta-Variante die Zahl der Corona-Infektionen in Großbritannien immer weiter ansteigen - ein Abflachen der Welle ist nicht in Sicht, die Sieben-Tage-Inzidenz wurde zuletzt mit 399 angegeben (Stand: 14. Juli). Fast täglich werden mehr als 50.000 neue Fälle registriert - beinahe so viele wie zum Höhepunkt der zweiten Welle zum Jahreswechsel.
Weitreichende Lockerungen bei hoher Impfquote, aber auch extrem hohen Infektionszahlen: Es ist ein Experiment, wie es in kaum einem Land in dieser Form probiert wurde. Und bereits jetzt, noch weit vor dem mutmaßlichen Höhepunkt der aktuellen Welle, zeigt sich, dass Freiheit und Pandemie nicht so recht zusammenpassen wollen: Rund 1,7 Millionen Briten befinden sich einem Bericht zufolge derzeit in Quarantäne, weil sie als enge Kontakte von Infizierten durch die Corona-App "gepingt" oder vom Gesundheitsdienst angerufen wurden.
Die "Pingdemic", wie das Phänomen bereits von britischen Medien getauft wurde, wird zum logistischen Problem an jeder Ecke: Weil Bahnfahrerinnen, Bedienungen oder Kassierer fehlen, mussten U-Bahn-Linien bereits zeitweise ihre Fahrten einstellen, erste Pubs wieder schließen oder Supermärkte über verkürzte Öffnungszeiten nachdenken. Wirtschaftsverbände fordern, die Pflichtquarantäne nach einem Kontakt mit Infizierten für Geimpfte durch tägliche Tests zu ersetzen - im Gesundheitsdienst ist dieses Prinzip bereits eingeführt worden. Johnson kündigte am Montagabend zudem Ausnahmen für Beschäftigte der kritischen Infrastruktur an.
Doch selbst drei führende Regierungsmitglieder im Kampf gegen die Pandemie, die den "Freedom Day" alles andere als frei verbringen müssen, scheinen der Regierung nicht Warnung genug zu sein. Johnson, der nur für den größten britischen Landesteil England die Corona-Politik macht, vertraut weiter voll und ganz auf den Schutz der bisherigen Impfungen.
Inzwischen haben 88 Prozent der Erwachsenen im Vereinigten Königreich eine erste Impfung erhalten. Knapp 68 Prozent sind bereits zweimal geimpft. Doch Experten zweifeln daran, ob das ausreichen wird, um einer großen Infektionswelle standzuhalten. Dem Epidemiologen Neil Ferguson vom Imperial College in London zufolge ist es "beinahe unausweichlich", dass die Zahl der täglichen Neuinfektionen die Marke von 100.000 bald überschreitet. "Die echte Frage ist, ob es sogar doppelt so viel wird, oder sogar noch mehr", sagte Ferguson der BBC am Sonntag. Im schlimmsten Fall, wenn die Zahl der Krankenhauseinweisungen 2000 oder 3000 täglich erreiche, müssten doch wieder Maßnahmen ergriffen werden, um die Lage wieder in den Griff zu kriegen, warnte er.
Der Premier jedoch, für den eine Verschärfung der Maßnahmen dem Bruch eines politischen Versprechens gleichkäme, hat sich allen Warnungen zum Trotz fürs Zocken entschieden. Wie Johnsons "Freedom Day-Glücksspiel", als das die BBC die Lockerungen bezeichnete, ausgehen wird, bleibt abzuwarten. Bislang so scheint es, hat noch immer das Virus die besseren Karten.