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Gewaltsame Proteste in Russland: Das Internet gegen Wladimir Putin


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Proteste in Russland
Wie seine Gegner Putin zur Lachnummer machen


Aktualisiert am 01.02.2021Lesedauer: 6 Min.
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Eskalation bei erneuten Protesten: Die Aufnahmen aus Russland zeigen das brutale Durchgreifen der Polizei. (Quelle: reuters)

Auch massive Gewalt und Tausende Festnahmen haben die Proteste in Russland nicht stoppen können. Weil die Demonstranten die sozialen Medien geschickt nutzen, sind sie der Polizei oft einen Schritt voraus.

"Sonntag, 12 Uhr, Super Aqua Diskotheka!" Ein Plakat an einer Bushaltestelle in St. Petersburg setzt den Ton für den zweiten großen Protesttag in Russland. Im Stile einer drittklassigen Techno-Party-Reklame wird zu den größten Demonstrationen der russischen Opposition seit Jahren aufgerufen. Natürlich ist das Ironie, aber es soll auch Trotz symbolisieren: Dass sich die Gegner des russischen Präsidenten Wladimir Putin auch von ungehemmter Polizeigewalt und annähernd 3.700 Festnahmen am vergangenen Wochenende nicht kleinkriegen lassen.

Was die Führung in Moskau an Repression ins Feld führt, versucht die Opposition mit Humor, Kreativität und mit der Mobilisierungsmacht der sozialen Medien wettzumachen. Mehrere Hunderttausend Menschen in über 100 Städten, so schätzt man, folgten letzten Samstag den Demonstrationsaufrufen auf Facebook, Instagram und vor allem im Kurzmitteilungsdienst Telegram. Schüler fluteten die Videoplattform Tiktok mit Clips, wie sie Bilder von Putin in ihren Klassenräumen abhängen und durch Nawalny-Porträts ersetzen. Über eine Milliarde Klicks generierten sie damit.

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Das Land und vor allem seine Jugend scheint erfasst von einer Welle des Aufruhrs, wie es sie seit Jahren nicht gab. Ausgelöst wurde sie vom Mordanschlag auf Nawalny, den nach Medienrecherchen ein achtköpfiges Killerkommando des russischen Geheimdienstes FSB mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok zu vergiften versuchte. Nawalnys Verhaftung in Moskau unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Deutschland und schließlich sein Enthüllungsvideo über den Protz-Palast am Schwarzen Meer, den angeblich der Präsident höchstselbst in Auftrag gab, ließen den Unmut weiter anschwellen.

In jener schlossartigen Residenz mit 18.000 Quadratmetern Gebäudefläche, eigenem Hafen, Amphitheater, Kirche, Casino, Eishockeyhalle und nicht zu vergessen einer "Aqua Disco", sehen viele ein Sinnbild für die Maßlosigkeit und den kompletten Verlust von Bodenhaftung ihres Präsidenten. Gleichzeitig haben die Enthüllungen aus Putin eine Lachnummer gemacht. Tausende Scherzbilder über den "Zaren-Palast" machen im Netz die Runde. Musikproduzenten haben ein halbes Dutzend "Aqua Disco"-Remixe geschrieben, die nun zum Soundtrack der Protestbewegung geworden sind.

Polizeibusse als Mini-Gefängnisse

Die russische Führung hingegen reagiert alles andere als belustigt auf die neue Proteststimmung im Land. Vor einer Woche ließ sie so viele Menschen festnehmen, dass der Polizei die Arrestzellen ausgingen und sie stattdessen Polizeibusse als Mini-Gefängnisse nutzte, berichteten Aktivisten. Dass sich dieses Szenario wiederholt, es vielleicht sogar noch schlimmer kommt, ist die große Angst vor diesem Sonntag gewesen.

Schon Tage vorher bereiteten sich die Opposition und ihre Anhänger auf den Ernstfall vor. In den sozialen Medien informierten Menschenrechtsgruppen wie OWD-Info oder "Apologija Protesta", die juristische Hilfe für politische Gefangene organisieren, wie man sich im Fall einer Verhaftung verhalten sollte und an wen man sich wenden kann. Russische Spezialkräfte gingen zur gleichen Zeit gegen Nawalnys Familie und seine Stiftung vor, brachen gewaltsam zwei Wohnungen der Familie auf und nahmen seinen Bruder Oleg Nawalny mit.

Auch das Studio der Sendung "Nawalny Live" ist Ziel der Razzia – wie so häufig in der Vergangenheit im Vorfeld großer Protesttage. Es gleicht einem Katz-und-Maus-Spiel: Die Staatsmacht versucht zu verhindern, dass der Internetkanal auf Sendung geht.

Aber an diesem wichtigen Sonntag gelingt ihr das nicht.

Nawalnys Mitstreiter verstecken sich erfolgreich. Von einem unbekannten Ort aus geht ihr Livestream, um 9 Uhr Moskauer Zeit, bei YouTube online. Zwei führende Köpfe aus Nawalnys Team – einer von ihnen ist der Direktor seiner Stiftung, Iwan Schdanow – sitzen jetzt in Kapuzenpullovern vor einer Kamera und Berichten über Stunden von den Geschehnissen im Land.

"Der Zar muss weg"

Laufend werden Bilder und Videos, meist aus dem Netz, eingespielt: von Kundgebungen in Wladiwostok im Fernen Osten, in Krasnodar im Süden, in Nischni Nowgorod an der Wolga, in Krasnojarsk in Sibirien. Von Menschen, die in Sprechchören "Putin ist ein Dieb" oder "Der Zar muss weg" rufen. Einblicke, die die staatsnahen Medien in Russland nicht liefern. Es werden Treffpunkte für Demonstranten durchgegeben, Informationen zu Hilfsangeboten. Aber immer wieder auch: Zahlen von Festnahmen. Sie steigen schnell an diesem Sonntag. Bis 13 Uhr Moskauer Zeit sind es schon fast 900 landesweit, 100 allein in der Hauptstadt, obwohl die Proteste dort noch nicht einmal begonnen haben.

Im Hintergrund bemühen sich Gruppen wie OWD-Info um juristische Hilfe für die Gefangenen. Ihre Aktivisten sind auf dem Weg zu den örtlichen Polizeistellen, um dort Kontakt mit den Festgenommenen aufzunehmen. Mehrere Journalisten und Politaktivisten, so wird in sozialen Medien berichtet, werden noch vor Beginn der Proteste gleich vor der Haustür abgeführt. Andere wie Oleg Nawalny, die Oppositionspolitikerin Ljubow Sobol oder Pussy-Riot-Mitglied Maria Aljochina stehen unter Hausarrest. Ein Moskauer Gericht hatte am Freitag entschieden, dass sie sich für zwei Monate nicht mehr frei bewegen und weder Telefon noch Internet nutzen dürfen.

Sperrzone im Zentrum von Moskau

Viele Straßen im Zentrum der russischen Hauptstadt aber auch in St. Peterburg sind am Sonntag Sperrgebiet. Sicherheitskräfte hatten tags zuvor den Bereich um den Kreml weiträumig abgesperrt und U-Bahnstationen in der "roten Zone" geschlossen. Lange Reihen von Polizeibussen und gepanzerten Fahrzeugen säumen die angrenzenden Straßen, wie Bilder und Videos zeigen. In St. Petersburg haben Polizeieinheiten in Kampfmontur den berühmten Palastplatz dicht gemacht.

Das hält erneut Zehntausende nicht davon ab, ihre Forderungen auf die Straße zu tragen. Ihren Protest koordinieren sie über die sozialen Medien – vor allem Telegram ist die Plattform der Wahl. Allein das Nawalny-Team bespielt dort mehrere Kanäle für verschiedene Städte. Demonstranten können über sogenannte Bots selber Bilder und Videos beisteuern, die in die Kanäle einlaufen und so in Echtzeit über das Geschehen und die Bewegungen der Polizeikräfte informieren. Die Demonstrationsstrecken werden laufend daran angepasst, Zielorte und Routen ändern sich immer wieder.

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Festnahmen durch die Polizei lassen sich so vielleicht erschweren, aber dennoch nicht vermeiden. Wo die Kräfte eintreffen, gehen sie sofort massiv gegen die Demonstranten vor. Bei der staatlichen Nachrichtenagentur Tass heißt das dann, Sicherheitskräfte nähmen "mögliche Teilnehmer der Demonstrationen" in Gewahrsam. In St. Petersburg trifft es den populären Rapper Oxxxymiron, in Moskau die Frau von Alexej Nawalny. Julia Nawalnaja ist gerade bei den Protesten eingetroffen und macht ihre Ankunft auf Instagram publik, als Polizisten sie in einen dunklen Van ohne Aufschrift zerren und davonfahren.

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Katz-und-Maus-Spiel

In Moskau wird der Weg der Demonstranten zum Spießroutenlauf. Abgedrängt von Kräften der Sonderpolizei Omon ändern sie ihr Ziel und marschieren nun dem Gefängnis "Matroskaja Tischina" entgegen, wo Alexej Nawalny seit zwei Wochen eingesperrt ist. Dienstag soll ein Gericht entscheiden, ob die Bewährungsstrafe des Oppositionsanführers in eine Haftstrafe umgewandelt wird.

Kurzfristig sperren die Behörden U-Bahnhöfe zu, auf der Route formieren sich Polizeikräfte neu. Auf Telegram werden Ausweichstrecken geteilt. Die Demonstranten teilen sich auf, nehmen unterschiedliche Straßen. Wer mit der Metro anreist, findet Informationen, wie er Einsatzkräfte umgeht. Immer wieder werden Hinweise gepostet, in großen Gruppen zu bleiben und aufeinander zu achten, um der Polizei den Zugriff zu erschweren.

Die Taktik der Demonstranten ist trotz all der Festnahmen erfolgreich. Der Polizei gelingt es weder in Moskau noch in den meisten anderen Städten, die Kundgebungen zu stoppen. Das Nawalny-Team spricht am späten Sonntagabend von 200.000 bis 300.000 Demonstranten in 140 Städten. Die Nachrichtenplattform "Open Media" schätzt die Zahl der Teilnehmer in den 42 größten Städten auf bis zu 100.000. In St. Petersburg etwa sind es demnach mehr als 30.000, in Nowosibirsk 5.000 – trotz minus 30 Grad. Aus Moskau fehlen verlässliche Zahlen. Weil sich die Demonstranten auf ein größeres Stadtgebiet verteilen, sind Schätzungen schwierig.

Viele Fälle von Polizeigewalt

Gleichwohl ist dieser Erfolg teuer erkauft. Die Polizei setzt Schlagstöcke, Tränengas und Elektroschocker ein. Menschenrechtler dokumentieren Dutzende Fälle von Polizeigewalt. Für Empörung sorgen Bilder aus Kasan, wo die Polizei Demonstranten zwingt, sich bei Minusgraden der Länge nach in den Schnee zu legen. Laut OWD-Info werden Demonstranten mit Knochenbrüchen, gebrochenen Rippen und Platzwunden in Krankenhäusern eingeliefert.

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Immer wieder ist zu hören, dass Anwälte nicht zu den Gefangenen durchgelassen werden. Zu vielen Inhaftierten, so heißt es, ist oft über Stunden kein Kontakt möglich. Von Misshandlungen wird berichtet, von Schlägen und Erniedrigungen. Die Gefangenen versuchen, einander zu unterstützen. Der Journalist Oleg Pschenitschny etwa teilt aus dem Gefängnis die Namen seiner Mitinsassen auf Facebook, damit die Angehörigen über deren Verbleib informiert werden können.

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Wie Pschenitschny landen, nach Angaben von Aktivisten, am Sonntag Dutzende Journalisten im Gewahrsam. "Open Media" gibt ihre Zahl unter Berufung auf die russische Gewerkschaft der Journalisten und Medienschaffenden am späten Abend mit 82 an. Der Fotograf Ivan Kleymenjow berichtet, er sei von Polizisten geschlagen und mit einem Elektroschocker traktiert worden und habe anschließend das Bewusstsein verloren.

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Bis zum späten Abend werden die schrecklichen Zahlen vom vergangenen Wochenende noch einmal deutlich übertroffen. Laut Aktivisten werden allein in Moskau mehr als 1.600 Menschen festgenommen; in St. Petersburg sind es mehr als 1.100, in Krasnojarks und Nischni Nowgorod jeweils fast 200. Landesweit werden über 5.100 Festnahmen gezählt.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Bericht bei "Open Media" über die Zahl der Demonstranten
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