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Belarus: Das Ende der letzten Diktatur Europas war noch nie so nah


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Aufstand in Belarus
Das Ende der letzten Diktatur Europas war noch nie so nah

Jan-Henrik Wiebe

Aktualisiert am 15.08.2020Lesedauer: 4 Min.
Massenproteste in Belarus: Wie hier in Minsk versammeln sich im gesamten Land tausende Demonstranten auf den Straßen.Vergrößern des Bildes
Massenproteste in Belarus: Wie hier in Minsk versammeln sich im gesamten Land tausende Demonstranten auf den Straßen. (Quelle: Itar-Tass/imago-images-bilder)
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Massenproteste, Arbeiteraufstand, friedliche Polizisten: Nach der umstrittenen Wahl wankt das Regime von Alexander Lukaschenko. Die Bevölkerung scheint entschlossen, den Machthaber nach mehr als 25 Jahren endlich zu stürzen.

Es ist ein Moment, der wohl in die Geschichte von Belarus eingehen wird. Sicherheitskräfte vor dem Parlament in der Hauptstadt Minsk haben ihre Schilder gesenkt und Frauen laufen auf sie zu. Statt mit brutaler Gewalt die Menschenmenge vom Platz der Unabhängigkeit zu prügeln, machen die Beamten nichts. Die Frauen umarmen sie, verteilen Küsschen und die Leute machen Selfies mit den friedlichen Polizisten, die teilweise sogar lächeln.

Es sind Szenen, die bis vor wenigen Tagen unvorstellbar waren. Denn Belarus ist die letzte Diktatur Europas. Und seit die Präsidentschaftswahl am Sonntag endete und die staatliche Wahlkommission einen Sieg von Machthaber Alexander Lukaschenko verkündete, versuchten die Sicherheitskräfte jeden noch so kleinen Protest der Bevölkerung zu brechen.

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Das ist seit Freitag anders: Noch immer steht Lenin auf dem Platz und blickt am Nachmittag auf rund 15.000 Menschen, die friedlich ein Ende des seit 26 Jahren andauernden Regimes von Lukaschenko fordern. Das letzte Mal, dass so viele Menschen an dem Ort versammelt waren, war nach der Präsidentschaftswahl 2010. Damals ließ der Diktator die Proteste brutal niederschlagen und sperrte viele Oppositionelle ein.

Arbeiter stimmen gegen Lukaschenko

Dass dieses Mal alles anders sein könnte, liegt auch an drei Frauen. Das Bündnis aus den verschiedensten politischen Lagern besteht aus Swetlana Tichanowskaja, Weronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa. Sie haben das Land in den vergangenen Monaten auf den Kopf gestellt. Was Experten Anfang des Jahres noch für unmöglich hielten, ist nun Realität. Aus einer vermeintlich apolitischen, apathischen Gesellschaft ist eine engagierte Demokratiebewegung geworden.

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Am Freitag spielten die Menschen Badminton vor dem Hauptgebäude des KGB in Minsk, auf der anderen Straßenseite ist das Denkmal des auf dem Gebiet der heutigen Republik Belarus geborenen Feliks Dserschinski, Gründer der berüchtigten ersten Sowjet-Geheimpolizei "Tschekka", bereits beschädigt worden. Grabkerzen und Blumen liegen nun wie vor einem Grab auf den Treppenstufen des Haupteinganges der gefürchteten Geheimdienstzentrale.

"Veränderung!" und "Mauern" heißen nun die beiden Lieder, die in diesem Sommer auf Plätzen, Parks und aus den Autoradios in Minsk, Grodno, Brest und vielen weiteren Städten in Belarus ertönen. Es sind Hymnen der sowjetischen Perestroika-Zeit und polnischen Solidarność-Bewegung der achtziger Jahre.

Rund vier Jahrzehnte später passen sie jedoch gut zum Freiheitskampf in Belarus. Denn das Land mit seinen rund zehn Millionen Einwohnern ist nicht nur letzte Diktatur Europas, sondern gilt auch als Museum der längst untergegangenen Sowjetunion. Noch immer sind Industrie und Landwirtschaft in staatlicher Hand, der Geheimdienst heißt weiter KGB und im Gensatz zum restlichen Europa wird noch die Todesstrafe angewandt.

Dass die Mitarbeiter der staatseigenen Betriebe eine feste Bank für Lukaschenko seien, dachten viele. Allen voran der Machthaber selbst. Doch nun scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Bei Betriebsversammlungen in den vergangenen Tagen wurde gefragt, wer für Präsident Lukaschenko gestimmt habe. Zumeist gingen nur ein paar Arme hoch – vor allem die der Manager. Fragte der Vorarbeiter jedoch, wer der Kandidatin der Opposition, Swetlana Tichanowskaja, seine Stimme gab, gingen unter Jubel fast alle Arme hoch.

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Opposition trotzt Gewalt

Einen Arbeiteraufstand, der fast alle großen staatlichen Betriebe, ja das ganze Land, erfasst, hat das heutige Belarus noch nicht gesehen. Egal ob vor dem Traktorenwerk in Minsk, bei den Kali-Kumpeln in Salihorsk oder auf dem Betriebsgelände der Düngemittelfabrik in Grodno – überall haben sie sich versammelt und fordern ein Ende der Diktatur.

Mit dem Arbeiteraufstand rückt das Ende von Lukaschenko in greifbare Nähe. Immerhin war er es, der einst sagte, dass in der Opposition nur Arbeitslose aktiv seien.

Seit dem Wahlsonntag vor knapp einer Woche erlebt das Land ein Wechselbad der Gefühle. Bereits vor Schließung der Wahllokale versammelten sich die Menschen an verschiedenen Plätzen in Minsk und vielen weiteren Städten.

Die Polizei reagierte hart, hatte zuvor Verstärkung aus dem ganzen Land nach Minsk geholt, die nun an anderen Orten fehlte. Bereits sehr früh mussten verschiedene Spezialkräfte den OMON-Sondereinheiten helfen. Schon das war für Beobachter ein Indiz, dass dem Staat die Kontrolle entgleitet.

Trotz Gewalt, Massenverhaftungen und anderer Einschüchterungsversuche ist der Mut der Opposition ungebrochen. Autofahrer blockieren wichtige Straßen, um die Beweglichkeit der Polizei einzuschränken und in den Wohngebieten warnen sich die Menschen über Telegram-Gruppen vor herannahenden Sicherheitskräften und ziehen sich dann in ihre Wohnungen zurück.

Seit Mittwoch wird auch tagsüber demonstriert - vor allem von ganz in Weiß gekleideten Frauen mit Blumen in der Hand. Die Polizei greift inzwischen nicht mehr ein.

Gefangene berichten von Folter

Und doch wurden in den ersten Tagen der Proteste Tausende verhaftet. Hinter den Mauern der Gefängnisse müssen sich grausame Szene abgespielt haben. Woher die Bevölkerung das weiß? Um den Druck der Straße zu reduzieren, ließ das Regime seit Donnerstag rund 2000 Gefangene frei. Sie berichten, wie sie von Wärtern geschlagen und gefoltert wurden. Ihre Beweise: blaue Flecken in den Gesichtern, Blutergüsse am ganzen Körper und lange Striemen auf den Rücken von den Knüppeln der Wärter.

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Selbst auf den Höfen von Polizeistationen mussten sie den Berichten zufolge liegen, weil der Platz in den überfüllten Zellen nicht mehr ausreichte. Dokumentiert ist auch, wie eine halbnackte Frau im Hof einer Minsker Polizeistation um Gnade flehte.

Skeptiker befürchten, die Polizei könnte die Gefangenen nur deshalb entlassen haben, weil sie Platz für neue Insassen braucht. Ob es so kommt, wird sich wohl an diesem vielleicht vorentscheidenden Wochenende zeigen. Am Sonntag will die Opposition einen riesigen Marsch durch Minsk veranstalten.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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