Pressestimmen zur Tory-Wahl "Johnsons Aufstieg ist Großbritanniens Abstieg"
Nun soll es also Boris Johnson richten und nach dem Willen seiner Partei den Brexit vollenden. Die deutsche Presse zweifelt erheblich an dessen Eignung für das höchste Amt im Staate. Ein Überblick.
Boris Johnson hat das Rennen um die Nachfolge von Theresa May klar für sich entschieden. Bei der Wahl zum neuen Vorsitzenden der britischen Konservativen setzte er sich mit rund zwei Dritteln der Stimmen gegen seinen Rivalen Jeremy Hunt durch. Am Mittwoch wird er dann als Chef der größten Fraktion im Unterhaus von Königin Elisabeth II. zum Premierminister ernannt.
Wird ihm gelingen, was seiner Vorgängerin über Jahre nicht glücken wollte: Einen Ausweg aus der festgefahrenen Situation beim britischen EU-Austritt zu finden? Die Presse in Deutschland ist überwiegend skeptisch. Sie verweist nicht nur auf die enormen Herausforderungen, vor denen der neue Regierungschef steht. Sie zweifelt auch an dessen Eignung.
In diese Richtung äußert sich etwa die "Hannoversche Allgemeine Zeitung". "Der historische Aufstieg Boris Johnsons markiert einen historischen Abstieg Großbritanniens. Ein Land, das immer ein Fels in der Brandung weltpolitischer Wirren war, wird jetzt seinerseits zum Problemfall. Welchen Kurs wird der neue Premierminister steuern? Hat er als ein Mann mit einem notorisch gespannten Verhältnis zu Tatsachen und zu Komplexitäten aller Art überhaupt einen Kompass vor Augen? Früher gewährte man neuen Regierungschefs 100 Tage, um sich einzuarbeiten. Diese Zeit hat Johnson nicht. Denn die Welt ist nicht so simpel, wie er sie in seinem platten anti-europäischen Wahlkampf dargestellt hat."
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Ähnlich pessimistisch äußern sich die "Stuttgarter Nachrichten". Die Zeitung schreibt, die Torys vertrauten sich nach ihrer Leidenszeit mit der stocksteifen Theresa May einem Schlitzohr an, von dem keiner wisse, wohin es sein Land führen werde. "Mit einiger Wahrscheinlichkeit weiß es auch Johnson selbst nicht. Die Briten gehen mit ihm an der Regierungsspitze auf eine Abenteuerreise, die mit hoher Gewissheit ihre amüsanten Seiten haben wird und doch bitterernst werden kann. Denn nun erwarten diejenigen, die ihn ins Amt gehoben haben, dass er das Versprochene liefert: jenen Brexit, den May nicht in der Lage war zu organisieren."
Die "Sächsische Zeitung" meint, statt einen Ausweg aus dem Brexit-Dilemma zu finden, könnte Johnson das Land noch tiefer hineinstürzen – mit schweren Folgen für Bürger und Wirtschaft. "Woher Johnson die Überzeugung nimmt, der EU noch Zugeständnisse abringen zu können, bleibt sein Geheimnis. Allein mit starken Worten in Richtung Brüssel wird er nichts erreichen. Mit lockeren Sprüchen und derben Späßen gibt sich keiner zufrieden. Johnson muss beweisen, dass er durchdachte Konzepte besitzt. Sonst könnte er rasch scheitern und bestenfalls als schrill-bunte Fußnote in die Geschichte eingehen."
"Die Welt" hingegen schreibt Johnson noch nicht ab. "Als Feindbild eignet sich Johnson nur, wenn man nicht genau hinsieht. Wer aus ihm einen xenophoben, isolationistisch-nationalistischen Reaktionär und Antiliberalen machen will, irrt gewaltig. Sein Stunt als Brexit-Agitator war vor allem die lustvolle Annahme einer für ihn unterhaltsamen Rolle. Jetzt muss er den Triumph seines Vabanquespiels ausbaden. Diese Herausforderung macht den 55-Jährigen neugierig: Ob er das schaffen kann? Wer weiß? Nach seiner Wahl sah Johnson so aus, als wäre er sich da nicht sicher. Anders als der charmefreie Donald Trump oder die sauertöpfischen Reaktionäre in Europa verliert Johnson bei allem Pathos nie jene philosophische Neigung, deutlich zu machen, dass man die Dinge eigentlich auch ganz anders sehen kann."
Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" fragt sich, ob sich Johnson mit der EU und sie sich mit ihm wird arrangieren können. "Wie also wird der neue Mann in 10 Downing Street reagieren, wenn die Schwere des Amts – Stichwort Verantwortung – auf ihn zu wirken beginnt (...)? Die britisch-iranische Krise liefert schon mal einen Vorgeschmack auf das, was auf Johnson zukommen wird. Die EU hat Geduld mit ihrem Mitglied geübt, die Welt aber wartet nicht, bis sich die britische Politik ausgemärt hat. (...) Wie eng also wird künftig das Verhältnis des Königreichs zu 'Europa' sein, und wie nahe wird Johnson der Politik des amerikanischen Präsidenten kommen wollen? Trump hat ihn mit Schmeicheleien überhäuft; an denen sollte sich Johnson nicht berauschen. Die 'Europäer' wiederum sollten ihm, wo immer möglich, die Hand reichen, nur zu einem ganz gewiss nicht: das Königreich in den Abgrund zu stürzen."
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Die "Neue Zürcher Zeitung" verweist auf Johnsons politische Wandlungsfähigkeit und erwartet noch einige Überraschungen. "Boris Johnson hat sich als Bannerträger für einen harten Brexit inszeniert, genau deswegen haben ihn die Parteimitglieder auch zu ihrem neuen Anführer gekürt. Doch der Blick auf seine politische Biografie zeigt, dass er sich nicht wie ein sturer Ideologe, sondern als Opportunist verhält, dem plötzliche Positionswechsel keineswegs fremd sind und dessen hervorstechendste Eigenschaft seine Unberechenbarkeit ist. Sein Bekenntnis zum Brexit im Jahre 2016 war durch ein nüchternes Machtkalkül begründet – das nun aufgegangen ist. Und anders als Theresa May zeigte er sich stets sehr gewandt, seine Meinungsänderungen zu rechtfertigen. Falls Boris Johnson nicht doch zum Gefangenen seiner eigenen Rhetorik werden will, könnte der Schlussakt im Brexit-Drama noch einige Überraschungen bereithalten."
- Nachrichtenagentur dpa