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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ultrarechter wird Präsident Warum Bolsonaro für viele in Brasilien als Messias gilt
Viele Brasilianer sehen in Jair Bolsonaro keinen Rechtsextremen, sondern einen Heilsbringer. Dabei droht nach seiner Wahl eine Eskalation der Gewalt in den Favelas und dem Regenwald die Abholzung.
Brasilien feiert, als hätte das Land die Fußball-WM gewonnen. Als die Wahlergebnisse am frühen Abend auf den Smartphones der Bolsonaro-Anhänger und Bildschirmen an den Strandkiosken an der Copacabana in Rio de Janeiro einlaufen, umarmen die Wartenden sich. Sie wedeln mit Brasilien-Flaggen, Autokorsos fahren hupend an den Feiernden vorbei.
Auch Heloisa Helena Lopes tanzt mit einer Flagge um den Hals, in Bolsonaro-Fan-Montur: Mit grün-gelbem Schweißband auf dem Kopf, einem Bolsonaro-T-Shirt, sogar einem Bierbecher mit Bolsonaro-Gesicht darauf, in den grün-gelben Landesfarben, die auch der nationalistische Hardliner in seiner Kampagne benutzt hat. "Ich bin glücklich, weil Brasilien einen radikalen Wandel gebraucht hat", sagt die Rentnerin, die an der Copacabana lebt. "Es gab zu viel Raub, zu viel Korruption, alle Politiker der Arbeiterpartei sind im Gefängnis. Brasilien darf sich nicht in ein zweites Venezuela verwandeln."
Irrglaube an eine Art "Messias"
55 Prozent der Brasilianer, 57 Millionen Menschen, haben wie Lopes einen ultra-rechten Präsidenten gewählt, der dem Land im Wahlkampf den Wandel versprochen hat, aber auch gegen Minderheiten wie Schwarze und Homosexuelle hetzt, und von der Militärdiktatur schwärmt. Jair Bolsonaro, Hauptmann der Reserve und Ex-Fallschirmjäger, spaltet Brasilien: Seine Anhänger feiern ihn als "Mythos" oder "Kapitän" und glauben, er sei der Einzige, der das Land vor dem Untergang bewahren kann.
Seine Kritiker fürchten, dass er Brasilien in eine Militärdiktatur zurückverwandelt. Vom seltsam wirkenden Außenseiter seiner jungen Partei Partido Social Liberal (PSL) konnte Bolsonaro zum Präsidenten des größten Landes Südamerikas aufsteigen – auch, weil Brasilien seit Jahren in einer politischen und wirtschaftlichen Krise steckt. Mehrere Korruptionsskandale quer durch alle politischen Lager haben das Land erschüttert, die Boom-Stimmung aus der Zeit der Fußball-WM ist vorbei, das Misstrauen in Institutionen und Politik gering – und mit seinen Stammtischsprüchen, der Angstmache vor der kommunistischen Gefahr und dem Versprechen, aufzuräumen, trifft er auf einen Nerv.
Früher sei sie nicht einmal wählen gegangen, Politik habe sie nie interessiert, erzählt die Rentnerin Heloisa Helena Lopes. Doch diesmal hat sie zum ersten Mal Wahlkampf für einen Politiker gemacht: "Ich habe mich engagiert, weil ich an meine Kinder und Neffen gedacht habe, weil wir ein sauberes Brasilien brauchen, frei von Vetternwirtschaft und Drogenhandel."
Spitzname: "Tropen-Trump"
Es sind vor allem emotionale, oberflächliche Argumente, mit denen Bolsonaro-Fans für den "tropischen Trump" argumentieren. Der Wahlkampf war von populistischen Angriffen auf die Linke, wie Angstmache vor Korruption und Kriminalität geprägt, statt von konkreten Vorschlägen. Kurz vor der entscheidenden Stichwahl hatte Bolsonaro etwa angekündigt, er werde die Linken, "die Roten Banditen auslöschen". Seine Strategie: mit markigen Aussagen punkten, die beim rechtskonservativen Lager, Gläubigen oder Rassisten gut ankommen und in sozialen Netzwerken viral gehen – und dann seine Aussage relativieren, sich entschuldigen oder behaupten, dass alles nur von Medien erfundene Fake News seien.
Einem TV-Duell mit seinem Konkurrenten Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT hatte sich Bolsonaro bis zuletzt entzogen – stattdessen wandte er sich mit Livestreams auf Facebook und YouTube-Videos an seine Fans, seine Anhänger fluteten WhatsApp-Gruppen mit Fake News. Kurz nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse wandte Bolsonaro sich per Livestream an die Nation, während im Hintergrund die Feuerwerkssalven seiner Fans explodierten, die sich vor seinem Haus versammelt hatten. Er werde gemeinsam mit den Bürgern, das "Schicksal Brasiliens verändern" und das Land "retten".
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Wenn Bolsonaro am 1. Januar 2019 sein Amt antritt, steht Brasilien ein drastischer Kurswechsel bevor – denn das Brasiliens neuer Saubermann hart durchgreifen will, sind nicht nur Sprüche. "Bolsonaro wird Militärpersonal in Schlüsselpositionen positionieren und die Rolle des Militärs in der Öffentlichen Sicherheit verstärken", sagt der Politikwissenschaftler Wagner Romão, Professor an der Universität von Campinas (Unicamp), t-online.de. "Er droht auch, Universitäten stärker von außen zu kontrollieren, um die angebliche Dominanz von linkem Gedankengut zu unterbinden und plant, die Landlosenbewegung als Terroristen einzustufen."
Die Linke ist marginalisiert
Auch der Reservegeneral Antônio Hamilton Mourão, Bolsonaros Vizepräsident, hält nicht viel von der Verfassung und demokratisch gewählten Abgeordneten. Er fantasierte davon, wie ein Präsident mithilfe des Militärs einen Sturz vorantreiben könne – und er hat angekündigt, dass er keine "dekorative Rolle" spielen will. Bisher waren die Vizepräsidenten in einem Nebengebäude des Regierungspalastes einquartiert, Mourão fordert einen Arbeitsplatz direkt neben dem künftigen Präsidenten, er will zusammen mit dem Präsidenten als "Einheit" auftreten, bei allen Sitzungen anwesend sein. Wie Bolsonaro betrachtet er Carlos Alberta Brilhante Ustra als einen "Helden" – einen General, der während der Militärdiktatur für Folterverbrechen mitverantwortlich war.
"Die politischen Institutionen in Brasilien werden jetzt auf den Prüfstand gestellt", so Romão. "Ich denke, dass das Parlament dazu tendiert, sich einer konservativen oder sogar autoritären Agenda von Bolsonaro unterzuordnen. Die Rechte ist im Parlament politisch sehr stark vertreten – mit Militär, Agrokonzernen, evangelikalen Kirchen und auch den Mitte-Parteien, während die Linke höchstens 15 Prozent der Sitze haben wird." Mehr Widerstand sei von der Justiz zu erwarten. Einen Frontalangriff auf das Oberste Gericht in Form von Verfassungsänderungen hält der Politikwissenschaftler daher für unwahrscheinlich: "Bolsonaro wird eher versuchen, Reformen über das Parlament durchzusetzen, wo er mehr Unterstützung hat."
Auch mit einer neoliberalen Wirtschaftspolitik will Bolsonaro den staatlichen Einfluss beschränken. Der Amazonas-Regenwald ist bedroht: 60 Prozent des größten Regenwaldes weltweit liegen auf brasilianischem Staatsgebiet, Bolsonaro betrachtet ihn als brachliegendes Wirtschaftsgut: "Diese ganzen Reservate verhindern Entwicklung." Er will Schutzzonen abschaffen und die landwirtschaftliche Nutzung fördern. In Lateinamerika soll ein "liberaler Block" entstehen. In den vergangenen Monaten hat Bolsonaro Allianzen mit rechtskonservativen Präsidenten wie Sebastián Piñera in Chile, Mauricio Macri in Argentinien oder Mario Abdo Benítez in Paraguay, dem Sohn des Ex-Privatsekretärs von Diktator Alfredo Stroessner, geschmiedet.
Allgemeiner Rechts-Ruck
Brasilien ist nicht nur auf nationaler Ebene weiter nach rechts gerückt – in Städten wie Rio de Janeiro und São Paulo wurden auch die Gouverneure mit rechtskonservativen Kandidaten neu besetzt. Die Hardliner wollen die Kriminalität mit Rezepten bekämpfen, mit denen die Gewalt nur weiter eskalieren wird – vor allem in den Armenvierteln, den Favelas. Bolsonaro will etwa Waffen legalisieren, damit Bürger sich selbst verteidigen können. Polizisten, die Kriminelle erschießen, sollen eine Amnestie erhalten: eine Freikarte für Polizeigewalt. Flüchtende Kriminelle würde er aus dem Helikopter beschießen lassen, hatte Bolsonaro angekündigt – selbst wenn Unschuldige dabei ins Kreuzfeuer geraten.
Dennoch haben ihn viele, selbst schwarze Favelabewohner gewählt. "Sie denken, dass Bolsonaro einen Wandel schafft, weil er so rigide auftritt, aber ich glaube, dass seine Radikalisierung alles nur verschlimmern wird, und das macht mir Angst", sagt Quenia O. Coloridos, die in der Rocinha, der größten Favela Brasiliens, wohnt. Mehr als 200.000 Menschen leben hier in Ziegelhäusern, die den Berg hinaufklettern – Drogengangs haben die Macht, immer wieder liefern sie sich Schießereien mit der Polizei.
Coloridos glaubt, dass die Favelas mehr Chancen anstatt mehr Waffen oder Polizei brauchen: "Viele Leute haben Bolsonaro gewählt, weil sie müde von der PT (Partido dos Trabalhadores, "Partei der Arbeiter") sind, die Lügen und die Korruption satt haben – aber sie vergessen auch, dass die PT viel für die Favelas gemacht hat." Die 36-Jährige hat bis zum letzten Moment gehofft, dass Bolsonaro nicht gewinnt.
"Spirale der Gewalt"
In der letzten Wahlkampfphase hat Bolsonaro den Armen zwar eine Erhöhung der Sozialhilfe "Bolsa Familia" versprochen, die die linke Arbeiterpartei eingeführt hat – lange gehörte er allerdings zu den schärfsten Kritikern des Programms. Auch die Quote für schwarze Brasilianer findet er überflüssig. Quenia Coloridos hat Angst, dass sich der Rassismus mit Bolsonaro weiter verstärkt: "Gewalttaten geschehen jetzt schon – mit einem Präsidenten, der diesen Hass bestätigt, könnten die Übergriffe noch zunehmen." Die Investigativplattform Agencia Pública hat in der Wahlphase bereits mehr als 70 politische Gewalttaten registriert. Bei einer Demo wurde am Vorabend der Wahlen ein 23-Jähriger von einem Bolsonaro-Anhänger erschossen.
"Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist eine wachsende Spirale der Gewalt, die auch die demokratischen Institutionen in Gefahr bringt", so der Politikwissenschaftler Wagner Romão. Heloisa Helena Lopes, die an der Copacabana feiert, winkt ab, wenn sie von den Ängsten hört. "Bolsonaro ist ein einfacher Mann, der allen nur Gutes will", glaubt sie.
- Eigene Recherchen vor Ort