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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Staatliches Sozialpunktesystem Wie China die totale Kontrolle seiner Bürger plant
Ein Punktesystem soll für mehr Gerechtigkeit sorgen. Bewertet wird fast jede Aktivität der Bürger. Die Regierung kommt an eine Unmenge Daten – mit fatalen Folgen für Abweichler.
In seinen Apps nennt er sich Yoshi. Er ist Chinese, aber er hat sich einen japanischen Namen gegeben – als Anspielung auf seinen Job, denn er arbeitet in einem Sushi-Restaurant. Yoshi ist 27 Jahre alt, schwul, und er macht sich zum ersten Mal in seinem Leben Sorgen um die hohe Politik. "Eigentlich fand ich die Idee mit dem Social Scoring gut." Eigentlich. Yoshi ist jedoch in den vergangenen Wochen klar geworden, dass er konkret benachteiligt sein könnte. "Ich habe gehört, dass Leute mit einem unsteten Lebenswandel und vielen oberflächlichen Dates mit Punkteabzug rechnen müssen." Und Yoshi trifft fast jede Woche neue Leute über Kontakt-Apps. "So etwas wird fast sicher erfasst."
Traum von fairen Bewertungen könnte zum Alptraum werden
Yoshis Generation kennt es eigentlich nicht anders: In Chinas durchdigitalisierter Wirtschaftswelt bewerten sich Firmen und Privatleute bei fast jedem Kontakt gegenseitig. Das schafft Vertrauen und wird geschätzt. Jetzt will der Staat die Idee nutzen, um das Sozialverhalten jedes Bürgers zu erfassen. Offiziell richtet sich das gegen die schwarzen Schafe in der Gesellschaft. Doch der Traum von den fairen Bewertungen könnte zum Alptraum für diejenigen werden, die nicht ins Raster passen. Schon wirkt es sich negativ auf die Kreditbewertung aus, wenn jemand viel Zeit mit Computerspielen verbringt. "Dann bin ich wohl doppelt belastet", sagt Yoshi. Denn in seiner Freizeit daddelt er gern.
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So sieht das System aus: Wer sich aus Sicht des Staates richtig verhält, bekommt in Datenbanken Pluspunkte, für Fehlverhalten gibt es Miese. Je nach Punktestand können die Leute sich auf Privilegien freuen – oder sie müssen mit herben Nachteilen rechnen. "Die rechtschaffenden und vertrauenswerten Bürger sollen sich frei unter dem Himmel bewegen können. Wer aber in Verruf gerät, dessen Bewegungsfreiheit soll stark eingeschränkt sein", so blumig nennt die Regierung das Ziel des Projekts. "Vertrauenswürdigkeit ist ehrenvoll!"
Zu jedem Bürger und jedem Unternehmen soll es eine Datensammlung geben, die seine Zuverlässigkeit abbildet. Die Informationen sind nicht unbedingt zentral gespeichert, und das Ergebnis ist nicht eine einzelne Zahl, wie zuweilen berichtet – stattdessen wird es sich eher um einen Verbund regionaler Datenbanken handeln. Der Fokus ist dabei auch nicht in erster Linie politisch. Es geht eher um die Erziehung einer ganzen Nation zu erwünschtem Verhalten.
Die Regierung baut derzeit den Rahmen für die Verknüpfung der zahllosen Informationen auf, die jetzt schon verfügbar sind. Vorgesehen sind auch Schnittstellen zu Privatfirmen. Das Profil, das sich aus der Datenfülle ergibt, hat dann ganz konkrete Auswirkungen auf das Leben. Behörden und Unternehmen können das Profil abfragen, um Entscheidungen zu treffen. Erste Ansätze sind jetzt schon umgesetzt. Wer einmal einen Gerichtsbefehl ignoriert hat, ist aktuell bereits von Flugbuchungen ausgeschlossen. Keiner weiß, was das Eine mit dem Anderen zu tun haben soll.
Ein IT-Experte aus dem Umfeld chinesischer Sozialmedien erläutert, wie der Mechanismus sich auf Yoshi auswirken könnte: Die führende Schwulen-App "Blued" ist Teil des Systems und wird dem Staat automatisch Daten liefern. Jeder Kunde ist dort eindeutig identifiziert: Zur Anmeldung ist eine Telefonnummer erforderlich, zum Bezahlen von Zusatzdiensten eine Verbindung zu einem Dienstleister wie Alipay. Yoshi lässt sich also trotz des japanischen Spitznamens seiner Personalausweisnummer zuordnen. Diese wiederum dient als zentraler Datenbankschlüssel des Sozialpunktesystems.
Wer sich zu oft verabredet, muss mit Abzügen rechnen
Die Aktivitäten in der App wirken sich in hoch differenzierter Weise auf den Punktestand aus. Wer sich nur probeweise anmeldet und sonst nichts macht, dessen Punkte verändern sich nicht. Wer jedoch im Lifestreaming der App bei sexuellen Darstellungen erwischt wird, erhält in diesem Szenario einen Abzug. Denn die Verbreitung von Pornografie in jeder Form ist in China illegal.
Auch das Verhalten bei der Online-Partnerwahl könnte eine Rolle spielen – und zwar gleichermaßen für Heteros wie für Homos. Wer nur einmal im Monat ein Date hat, dessen Verhalten wird neutral bewertet. Wer, wie Yoshi, fast täglich auf der Suche ist, bekommt einen Abzug. Doch aus dem Blued-Universum können auch Pluspunkte kommen. Die App bietet schließlich ein voll entwickeltes Sozialnetz. Wer sich dort in einer Gruppe oder einem Kanal für HIV-Aufklärung einsetzt, könnte mit positiven Bewertungsbeiträgen rechnen, schätzen IT-Experten nach heutigem Kenntnisstand.
Ein großer App-Betreiber wie Blued kann sich in China der Teilnahme an dem System nicht verweigern. Jede Internetfirma muss jährlich die Verlängerung ihrer Lizenz beantragen. Der Staat kann sie jederzeit entziehen. Auf der anderen Seite sind Daten aus solchen Apps für ein staatliches Sozialpunktesystem besonders wertvoll. Sie bilden das tatsächliche Verhalten gut ab. Dementsprechend hoch wird der Druck der Regierung sein, vollen Zugriff zu erhalten. Der Gründer von Blued ist zudem ein ehemaliger Polizist. Branchenkenner unterstellen ihm eine staatstragende Haltung. Auch die internationale Konkurrenz, die App "Grindr", gehört übrigens einer chinesischen Firma; der Appstore unterliegt sowohl bei Apple als auch bei Android der Zensur. Ein Ausweichen auf weniger überwachte Alternativen ist voraussichtlich unmöglich.
Ein Spinnennetz aus Verbindungen und Schnittstellen
Die Daten aus dem Kosmos von Blued fließen der Vision für das Sozialpunktesystem der nahen Zukunft dann in den Bereich "Lebenswandel" in der zentralen Sammelstelle ein. Das muss nicht laufend für alle Nutzer geschehen. Die Rechner können, sobald die Bewertung für einen Bürger gefragt ist, auch schnell bei den Blued-Rechnern nachfragen. So entsteht ein Spinnennetz aus Verbindungen und Schnittstellen. Erst Automatisierung und die Nutzung künstlicher Intelligenz macht es möglich, die vielen Daten in Echtzeit nutzbar zu machen.
Der massive Einsatz von IT in der Überwachung der Bürger soll dabei nach den Wünschen der chinesischen Vordenker ein altes Problem umgehen: Bestechlichkeit und Schlampigkeit der Sicherheitsbehörden. Bisher konnten gute Beziehungen einem reichen Mann auch nach schweren Straftaten zuverlässig aus der Patsche helfen, während einfache Bürger regelmäßig an der Bürokratie verzweifeln. Das Sozialpunktesystem soll nun buchstäblich unbestechlich sein.
Für Leute wie Yoshi droht dagegen ein Alptraum. Die kommunistische Partei drückt dem ganzen Land ihre Moralvorstellungen auf. Schon jetzt sind Filme mit schwulen Themen – auch Werke, die den Oscar gewonnen haben – zensiert, weil sie angeblich zu anstößig für das chinesische Publikum sind. Der chinesische Staat hat keinen Sinn für Freiheitsrechte, Gleichberechtigung und die Vermeidung von Diskriminierung. Es gibt auch keinen politischen Freiraum für Interessengruppen, ihre Anliegen einzubringen und durchzusetzen.
Wer sich um seine Eltern kümmert, bekommt Pluspunkte
Noch ist offen, wie das System konkret aussehen soll. Und Yoshi gehört mit seinen Überlegungen zu einer Minderheit von Chinesen, die sich bereits Gedanken über mögliche Folgen dieses riesigen sozialen Experiments machen. Andere Bewohner des Landes sind indessen schon mit ihm konfrontiert: in mehreren regionalen Pilotprojekten laufen bereits Sozialpunktesysteme. Im Landkreis Rongcheng in der Provinz Shandong beispielsweise hat die Stadtverwaltung selbst den digitalen Rahmen für ein "wohlgeordnetes Gemeinwesen" geschaffen.
So müssen die Bürger in Rongcheng auf dem Ortsamt eine "Sozialbewertungsabfrage" beantragen, um bei der Bank einen Hypothekenkredit zu beantragen. Wer die Note A+ vorweisen kann, erhält günstigere Konditionen als ein B- oder C-Bürger. Bei einem D kann sich die Bank überlegen, ob sie überhaupt einen Kredit vergibt. Wer bei einem Vergehen erwischt wird – beispielsweise als Gastwirt abgelaufene Lebensmittel verarbeitet – bekommt Abzug. Wer sich dagegen nachweislich um seine alten Eltern kümmert, erhält Pluspunkte.
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Das alles hat aus chinesischer Sicht durchaus Sinn, weshalb selbst Yoshi zumindest anfangs nicht gegen die Pläne war. Die Führung der Volksrepublik China leidet seit ihrer Gründung unter einem Problem: Es gibt zwar unzählige Gesetze, Verordnungen und Regularien, aber kaum einer hält sich dran. Oder jedenfalls nur, wenn er konkret dazu gezwungen wird, und dann auch nur, solange der Staat wirklich hinschaut. "Durchsetzung ist schwer", lautet die Formel, mit denen die Vordenker von der Parteischule das Phänomen auf den Punkt bringen.
Ein gutes Beispiel ist die endlose Folge von Umwelt-, Arbeitsschutz- und Lebensmittelskandalen. China hat längst Sicherheitsstandards auf europäischem Niveau festgelegt. Doch die Gier siegt immer wieder. Firmenchefs leiten ihre Abwässer ungeklärt in den Fluss. Oder sie lassen ihre Arbeiter ohne Schutzbrille schweißen. Wenn Inspektoren kommen, dann wurmen sie sich mit Bestechung heraus.
Das Sozialpunktesystem weckt Hoffnung auf mehr Fairness
Tatsächlich beneiden Chinas Regierende solche Länder wie Japan oder Deutschland, in denen sich eine Mehrheit mehr oder minder klaglos den Regeln fügt. Wo die Haushalte begeistert ihren Müll trennen. Wo Autofahrer beim Abbiegen auf Fußgänger achten. Wo sie nur wenig Zigarettenkippen fallen lassen. Wo die Leute brav in Schlangen anstehen, auch wenn das Geduld braucht. "Die Führung erforscht die Entwicklung von neuen, technikgetriebenen Werkzeugen für verbesserte Sozialkontrolle", sagt Chinaforscher Rogier Creemers von der Universität Leiden in den Niederlanden. "Das Sozialpunktesystem ist hier das Vorzeigeprojekt für die Informatisierung von Verwaltung und Politik."
Umgekehrt vertrauen Chinas Bürger dem Staat nicht. Die Partei weiß das, und sucht nach Lösungen. Mit dem Sozialpunktesystem weckt sie die Hoffnung auf mehr Fairness – und das ist der Aspekt, der auch Yoshi anspricht. "Wenn jemand ein ehrlicher Bürger ist, wie ich, dann hat er künftig vielleicht Vorteile", sagt er. "Das zumindest dachte ich anfangs."
Ironischerweise ist es jedoch der Einparteienstaat selbst, der die größte Ungerechtigkeit schafft. Die Macht der Partei ist durch nichts beschränkt. Der Einzelnen muss in China dagegen ständig fürchten, dass er zu Unrecht angeklagt wird. In den Massenkampagnen der Sechzigerjahre war das besonders schlimm: Selbst gute Kommunisten fanden sich plötzlich am Pranger wieder und galten als "Rechtsabweichler". Wenn ein Lehrer beispielsweise eine Schülerin zurechtwies, konnte das schon ein Verstoß gegen den "revolutionären Geist" sein. Die Halbstarken durften den Lehrer dann schlagen und bespucken. Ingenieure bekamen Ärger, wenn sie auf naturwissenschaftliche Fakten hinwiesen, die dem sozialistischen Weltbild oder dem Befehl eines Parteioberen widersprachen. Diese Zeiten sind zwar endgültig vorbei, doch die Gesellschaft ist immer noch traumatisiert.
Das neue System soll auch das Fehlverhalten der Bonzen und Reichen erfassen
Heute herrscht eine andere Sorte von Ungerechtigkeit: Wer Geld und Kontakte hat, kann fest mit einer Vorzugsbehandlung rechnen. Das gibt es anderswo zwar auch, doch zusammen mit den Schrecken der Vergangenheit bleibt in China ein besonderes Gefühl der Unsicherheit. Eine Idee hinter dem allgemeinen Sozialpunktesystem ist nun, auch das Fehlverhalten der Bonzen und Reichen zu erfassen und unbescholtenen Bürgern einen Vorteil zu verschaffen.
Yoshi hat sich bereits überlegt, wie er auf die Bedrohung für einen Lebensstil reagieren wird. "Ich gehe wieder mehr in Bars und so, und mache wieder mehr offline." Auch Bargeld könnte dann künftig für ihn wieder eine größere Rolle spielen. "Denn sonst weiß der Staat ja, in was für Läden ich Bier bestelle." Und wenn er in verrufene Spelunken wie den "Kai Club" im Stadtteil Sanlitun geht, droht womöglich Punkteabzug.