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MH17: So bewegend schreiben Hinterbliebene ans russische Volk


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Brief im Wortlaut
So bewegend schreiben MH17-Hinterbliebene ans russische Volk

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Aktualisiert am 25.05.2018Lesedauer: 8 Min.
Einsatzkräfte tragen zwischen Trümmerteilen von Flug MH17 einen Leichnam davon. Kurz vor der Fußball-WM haben sich Angehörige mit einem offenen Brief an das russische Volk gerichtet.Vergrößern des Bildes
Einsatzkräfte tragen zwischen Trümmerteilen von Flug MH17 einen Leichnam davon. Kurz vor der Fußball-WM haben sich Angehörige mit einem offenen Brief an das russische Volk gerichtet. (Quelle: Anastasia Vlasowa/dpa-bilder)
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Bitterkeit, Vorwürfe – und Appelle zur Wahrheit und Mitmenschlichkeit: Hinterbliebene des MH17-Abschusses haben einen offenen Brief an das russische Volk geschrieben. t-online.de dokumentiert ihn.

Jack O`Brien war passionierter Fußballspieler und hätte die Fußball-WM in Russland wohl begeistert verfolgt. Doch Jack O`Brien starb im Alter von 25 Jahren durch den Abschuss des Flugs MH17 durch eine russische BUK-Rakete. Beim Gedanken an die WM in Russland kommt bei seinem Vater Jon O'Brien Bitternis hoch. Die drückt sich auch aus in einem offenen Brief, den er im Namen anderer Angehöriger zur WM an das russische Volk geschrieben hat.

Zuerst veröffentlicht wurde das Schreiben von der regierungskritischen russischen Zeitung "Nowaja Gaseta". Angehörige haben auf Anfrage von t-online.de einer Übersetzung ins Deutsche zugestimmt.

Der Brief im Wortlaut:

Im Juni wird die Welt zur Fußball-Weltmeisterschaft auf Russland blicken. Es wird ein lange ersehntes und fröhliches Ereignis sein. Für die meisten Russen wird es auch Anlass zu tiefempfundenen Stolz auf ihre Nation sein.

Manche von uns, die diese Worte schreiben, sind leidenschaftliche Fußball-Anhänger, andere sind es nicht. Niemand von uns wird aber in der Lage sein, an dieser WM so teilzuhaben, wie wir es zuvor getan haben. Wir haben eine Gemeinsamkeit, die dieser Veranstaltung und dem Land, in der sie ausgetragen wird, eine andere, eine dunkle Bedeutung geben.

Am 17. Juli 2014 wurde der Malaysian Airlines Flug MH17 über der Ukraine abgeschossen. 297 Menschen wurden getötet. Unter den Körpern, die verstreut zwischen Trümmern und Sonnenblumen lagen, waren unsere Kinder, unsere Partner, unsere Brüder und Schwestern, unsere Eltern.

Die Folgen für unsere Leben

Auch wenn es fast vier Jahre her ist, seit unsere Leben erschüttert wurden, haben wir Mühe, zu verstehen, was geschehen ist. Menschen, die wir geliebt haben, wurden in einem Krieg getötet, in dem sie keine Kämpfer waren. In einem Krieg, mit dem sie nichts zu tun hatten.

Wir wissen, dass sie nicht die einzigen Opfer dieses Konflikts sind. Mehr als 10.000 Menschen sind getötet worden, der Großteil von ihnen Zivilisten. Deren Familien trauern wie wir und verstehen nicht, warum ihnen Menschen entrissen wurden, die sie liebten. Die Endgültigkeit des Todes ist es, die so schmerzvoll ist. Mit einer Trennung könnten wir auch über Jahre leben, wenn wir wüssten, dass sie ein Ende hat.

Das gewohnte Leben endete an diesem Tag

Wir, die Familien derer, die bei Flug MH17 getötet wurden, atmen weiterhin. Aber das Leben, wie wir es führten, hat an diesem Tag geendet. Wir sind nicht dieselben Menschen, die wir bis dahin waren. Unsere Welt ist düsterer und es findet sich weniger Hoffnung darin. Wir ringen darum, den Glauben an das Gute im Menschen zu behalten. Es mag sein, dass manche von uns wieder Sinn im Leben und Glück finden. Wir werden aber immer gezeichnet sein vom brutalen und plötzlichen Tod unserer Lieben.

Mehr noch, dieser menschenverachtende Akt ist zum Charakteristikum der Menschen geworden, die wir lieben. Ihre Geschichte ist an einem plötzlichen Ende angelangt, wo sie doch weitergehen sollte. Wir können sie jetzt nicht mehr erleben, wir können uns nur an sie erinnern.

Teil dieser Erinnerung muss es sein, das Unrecht ihrer Tode anzusprechen und darauf zu drängen, dass diejenigen zur Rechenschaft gezogen werden, die für dieses Verbrechen verantwortlich sind. Die Menschen, die wir lieben, können nicht mehr für sich sprechen.

Wir wissen, dass es eine lange Vorgeschichte gibt zwischen Russland und der Ukraine und dass es verschiedene Erklärungen dafür gibt, was 2014 zum Ausbruch des Konflikts geführt hat. Da ist kein Land ohne Schuld, einschließlich unserer eigenen. Alle Nationen haben das Recht, sich bestmöglich zu entwickeln, wenn sie nicht die Rechte anderer beeinträchtigen und verletzen. Alle Seiten müssen bereit sein, sich ihrer Verantwortung in dem Konflikt zu stellen.

Was aber auch immer die Geschichte und die genauen Umstände sein mögen, es kann niemals den Abschuss eines Passagierflugzeugs und das Töten all der Menschen an Bord bedeuten. Wie reagieren wir auf so etwas?

Fragen von Hass und Verantwortlichkeit

Wie all diejenigen, die den gewaltsamen Tod geliebter Menschen erleiden mussten, sind wir versucht, mit Hass zu reagieren. Wir müssen aber die gewöhnlichen Menschen in Russland trennen von den persönlich Verantwortlichen – der Kommandokette, die zum Abschuss von MH17 geführt hat. Die meisten von uns kennen keine Russen näher. Hass und Misstrauen kommen von Ignoranz, und wenn wir mehr von der Geschichte einer Person wissen, kann das ändern, wie wir die Dinge sehen.

Wir wissen, dass das russische Volk das Recht hat, aufzublühen, so wie unsere geliebten Menschen dieses Recht hatten. Trotzdem haben wir damit zu kämpfen. Wenn wir es schaffen sollten, das zu ändern, so wird das dauern. Wir wissen aber, dass es uns auffressen würde, sich dem Hass und der Bitterkeit zu ergeben und dass die Gefühle, unkontrolliert unter den Nationen, das menschliche Leben auf diesem Planeten zerstören würden.

Es ist leichter, wenn wir uns vor Augen führen, dass wir alle menschliche Wesen sind und was wir gemeinsam haben.

Manche von uns haben in die Gesichter russischer Familien gesehen, nachdem im Oktober 2015 an Bord des Metrojet-Flugs 9268 eine Bombe explodierte, er über Ägypten abstürzte und alle 224 Menschen an Bord in den Tod riss. Diese Familien waren überwältigt von Trauer, sie kämpften damit zu verstehen, was passiert war. Wir verstehen den Unglauben, den Horror, wenn dir deine Lieben gewaltsam und ohne Vorwarnung genommen werden. Wenn wir diese Familien einmal treffen würden, könnten wir vielleicht einen Austausch aufnehmen, weil wir bereits eine zentrale Wahrheit aus dem Leben des anderen kennen.

Nein, wir machen nicht das russische Volk verantwortlich für das, was geschehen ist. Wir sind nicht gegen euch.

Wir halten letztlich den russischen Staat und seine Spitze verantwortlich für den Tod unserer Familienmitglieder. Darauf deuten alle stichhaltigen Beweise hin. Hinter uns liegt eine lange Zeit des Wartens, aber irgendwann in der Zukunft wird das Joint Investigation Team seinen endgültigen Bericht vorlegen und es werden Namen genannt werden. Dann wird es am zuständigen Gericht in den Niederlanden liegen, die Beweise ordentlich abzuwägen und die Schlüsse zu ziehen, welche Personen verantwortlich sind.

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Die Bedeutung der Wahrheit

Wir haben Vertrauen in die Gründlichkeit und Unparteilichkeit der Arbeit des Joint Investigation Teams. Für die Berichterstattung über MH17 auf staatlichen russischen Medienkanälen gilt das nicht.

In den ersten Monaten haben einige von uns die vielfachen, oft widersprüchlichen Geschichten aus Russland zur Frage aufgewühlt, was mit MH17 passiert ist: "MH17 wurde von einem ukrainischen Jet abgeschossen." "Es wurde von einer Rakete heruntergeholt, die für das Flugzeug des russischen Präsidenten bestimmt war." "Es war bereits voller Leichen und wurde absichtlich zum Absturz gebracht." "Es wurde von einer BUK-Rakete abgeschossen, aber nicht von einer russischen. "

Die schockierenden, verstörenden und widersprüchlichen Darstellungen wurden dann in Beiträgen in sozialen Medien noch 1000-fach aufgeblasen. All diese Berichte waren schmerzhaft. Bei einigen von uns säten sie Zweifel. Erst später haben wir verstanden, dass genau das beabsichtigt war.

Dieses Vorgehen ist Teil einer koordinierten staatlichen Kampagne von Desinformation, die ablenken und verwirren soll, um eine alternative Realität zu schaffen, in der alle Wahrheit relativ ist und keiner Information mehr vertraut werden kann. Die russischen staatlichen Medien und private Medienkanäle, die mit dem Staat zusammenarbeiten, sind Komplizen dieser abscheulichen und betrügerischen Kampagne.

Regierungen müssen Verantwortung übernehmen

Wir wissen, dass alle Länder, auch unsere eigenen, die Wahrheit verbiegen und manchmal Lügen verbreiten. Aber wollen die Russen wirklich in einem Land leben, in dem die Wahrheit nicht mehr existiert? Vielleicht denken bereits einige von Ihnen, die das lesen, dass es uns nicht gibt und dass dieser Artikel erfunden ist? Nun, wir sind real, und unsere Hoffnung ist, dass sich letztendlich die Wahrheit durchsetzen wird.

Wir appellieren erneut an die russische Regierung, in vollem Umfang an der internationalen Ermittlung zu MH17 mitzuwirken. Unsere Familien bringt uns das nicht zurück, aber die Wahrheit ist wichtig, die Wahrheit existiert und wir wollen, dass die identifiziert und verantwortlich gemacht werden, die verantwortlich sind für den Abschuss von MH17. Wenn unsere Kinder klein sind, bringen wir ihnen bei, zu ihren Fehlern zu stehen und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Das verlangen wir auch von unseren Regierungen. Wir fordern Russland auf, das Gleiche zu tun.

In den vergangenen Monaten haben die weltweiten Spannungen zugenommen. In einer Atmosphäre der Feindseligkeit und des Misstrauens brauchen wir internationale rechtsstaatliche Systeme, in denen jeder darauf vertraut, dass Gerechtigkeit und Fairness zumindest möglich sind. Wir müssen auch unser Verständnis dafür wieder stärken, dass wir eine Menschheit sind. Letztendlich leben wir auf diesem kleinen, blauen Planeten alle zusammen.

Im Jahr 2014 lagen unsere Kinder und Familien leblos inmitten der Felder und Sonnenblumen der Ostukraine. 2015 lagen russische Kinder und Familien leblos zwischen den Steinen und im Sand der ägyptischen Wüste. Im Tod sind wir nicht so verschieden. Sprache, Kultur, Rasse, Religion haben keine Bedeutung mehr. Was bleibt, sind der Verlust und die Liebe. Menschlicher Verlust und Liebe.

WM kann das Gute und das Schlechte zu Tage fördern

Das alles haben wir im Kopf und im Herzen, wenn wir über diese Weltmeisterschaft in Russland nachdenken. Fußball wird auch das "world game" genannt, das Weltspiel: Es wird von mehr Ländern gespielt als jedes andere Spiel. Im besten Fall kann der Fußball das widerspiegeln, was an uns allen großartig ist – unsere unterschiedlichen Spielstile, unsere Kultur, unser Gesänge und Outfits, unsere offensichtliche Leidenschaft oder unsere eiserne Disziplin, unser Können, den Mut und die Kreativität, die schiere Freude am Spiel, den Wunsch, unser Bestes zu geben und bis zum Äußersten herausgefordert zu werden und den Respekt, den wir denen zollen, mit denen wir uns messen.

Im schlimmsten Fall kann Fußball auch die Hässlichkeit reflektieren, zu der wir fähig sind. Der Fußball kann in einen engstirnigen und aggressiven Nationalismus abgleiten, Trennungen und Vorurteile verstärken, alte Wunden aufreißen und neue verursachen.

Die Fußballweltmeisterschaft kann ein Fest unserer gemeinsamen Menschlichkeit sein. Sie kann ein vielleicht auch flüchtiges Beispiel geben, in Frieden miteinander zu leben. Wenn es das ist, dann fällt es uns vielleicht leichter, den Kopf zu heben, um zuzuschauen.

Möge diese Weltmeisterschaft in einem solchen guten Geist über die Bühne gehen. Wir hoffen, dass sie zu einem Erfolg wird und etwas, auf das auch die einfachen Russen stolz sein können. Aber wir können nicht abstreiten, dass aus unserer Sicht ein dunkler Schatten über diesem Ereignis liegt.

Wir sind uns schmerzhaft der dunklen Ironie bewusst, dass dieselben russischen Staatsführer, die von sich sagen, die Welt mit offenen Armen zu empfangen, auch diejenigen sind, die die Hauptschuld an den Erschütterungen unserer Welt tragen. Und dass es dieselben sind, die beharrlich versucht haben, die Wahrheit zu vertuschen und sich seit jenem schrecklichen Tag im Juli 2014 aus der Verantwortung ziehen.

Die Unterzeichner

Jon und Meryn O´Brien (Angehörige von Jack O’Brien, 25 †), Australien
Jeremy und Louise Pocock (Ben Pocock, 20 †), Großbritannien
Rob Fredriksz und Silene Fredriksz-Hoogzand (Bryce Fredriksz, 23 †, Daisy Oehlers, 20 †), Niederlande
Joanna Anderson (Stephen Anderson, 44 †), Großbritannien
Claudio Villaca-Vanetta (Glenn R. Thomas, 49 †), Großbritannien
Hans de Borst (Elsemiek de Borst, 17 †), Niederlande
Paul Guard (Roger Guard, 67 †, Jill Guard, 62 †), Australien

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