Garri Kasparow im Exklusiv-Interview "Putin wird jede Gelegenheit nutzen, um Deutschland zu destabilisieren"
Garri Kasparow ist einer der wichtigsten russischen Oppositionellen, der nicht im Gefängnis sitzt oder ermordet wurde.
Kasparow, geboren 1963, ist armenisch-jüdischer Abstammung und gilt als einer der stärksten Schachspieler der Geschichte. Von 1985 bis 1993 war er Weltmeister. 1997 besiegte ihn der IBM-Computer "Deep Blue". Der erste Sieg eines Rechners über einen Schach-Champion.
t-online.de: Herr Kasparow, Sie haben auf der re:publica eine engagierte Rede gehalten, über russische Propaganda im Netz und Pressfreiheit. Sie beschreiben die Situation in Russland aus der Entfernung.
Garri Kasparow: Ja, Ich sehe das jetzt eher aus der Distanz, weil ich jetzt in Amerika lebe. Aber ich habe lange in der Sowjetunion gelebt. Ich bin an Überwachung gewöhnt. Meine Gespräche wurden abgehört, mein Telefon wurde angezapft. Das war Realität in meinem Leben. Keine Theorie.
Sie wissen, was das bedeutet.
In Putins Russland gab es 2005 oder 2006 ein Gesetz, das Mobilfunkbetreiber dazu zwang, Daten zu speichern und sie dem russischen Geheimdienst FSB zu geben. Und wir, die Nutzer, mussten dafür bezahlen (lacht).
Eine sehr merkwürdige Idee…
Verrückt. Als Vorsitzender der „Human Rights Foundation“ spreche ich über Ähnlichkeiten zwischen Ländern. Und schreibe als Sicherheitsbotschafter im Avast-Blog über Überwachung und Datenschutz. Aber Firmen, die Daten sammeln, sind nicht die Stasi. Viele denken, dass sei sehr schlimm. Aber dafür kommt man nicht ins Gefängnis. Du wirst nicht vom Geheimdienst verhört. In den USA ist es übrigens verboten, solche Daten vor Gericht gegen dich zu verwenden. Das ist geschützt durch die Verfassung und die „Bill of Rights“. 87 Prozent der Menschheit leben in einer Welt, wo Überwachung und Massendatenspeicherung lebensgefährlich für sie ist. Unsere Probleme hier sind nicht die wichtigsten auf der Welt.
Es ist eine besondere Situation, in der die Journalisten in der Türkei oder Ungarn sind. Sie haben hier darüber berichtet, dass sie ins Gefängnis kommen, wenn sie kritisch über die Regierung schreiben. In Budapest ist sie schlecht, in der Türkei furchtbar. In Polen ist es schlimmer, als in Deutschland. Ungarn ist viel schlimmer als Polen. Und die Türkei ist noch weit darunter. Dort können Menschen verschwinden. Die Türkei ist eine Diktatur.
Und in Russland?
In Russland können sie dich umbringen, mitten am Tag. Vor sechs Monaten war die Situation in Russland schlimmer als in der Türkei. Nach dem so genannten Referendum spielen sie in derselben Liga.
Eine Art Wettbewerb?
In der Türkei gibt es noch eine Opposition. In Putins Russland gibt es keine. 49 zu 51 Prozent Abstimmungen. Das wäre unmöglich, das Ergebnis wäre auf jeden Fall über 70 Prozent. Mit all diesen Fakes und den Stimmen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern nur 51 Prozent? In der Türkei gibt es eine bedeutende Opposition, auch im Parlament, auch wenn ihre Rechte beschnitten werden. Es gibt eine schwindende, demokratische Hoffnung auf einen Wandel. In Russland haben wir eine Ein-Mann-Diktatur. Wahlen können sie vergessen, sie sind ohne Bedeutung in Russland. Ich weiß nicht, was passieren wird. Ein friedlicher oder gewaltsamer Wandel? Putins Entfernung aus dem Amt wäre ein Schritt nach vorn. Ein-Mann-Diktaturen sind die gefährlichste Regierungsform überhaupt. Weil er jeden Krieg anfangen kann, wenn er glaubt dass dies seine Überlebenschancen erhöht.
Wie groß ist der Einfluss Russlands auf Europa und auf die Bundestagswahl in Deutschland?
Nach einem Versagen in den Niederlanden, einem Desaster in Frankreich und einer großen Enttäuschung in den USA erkennen viele Russen, das Putin einen Riesenfehler gemacht hat. Es war ein taktischer Sieg für ihn, dass Trump gewonnen hat. Ich glaube, dass Putin das nicht erwartet hat. Die Idee war, Hillary Clinton schlecht aussehen zu lassen und einen beschädigten Präsidenten zu bekommen. Als Trump gewann, dachten sie, sie könnten mit ihm Geschäfte machen. Doch dann wurde Michael Flynn (ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater, USA) entlassen, eine Art taktisches Manöver in diesen Beziehungen. Jetzt haben Sie es mit einer Regierung zu tun, die alles andere als freundlich ist und viel aggressiver ist.
Putin war es gewohnt, zu gewinnen, die ganze Zeit. Jetzt macht er ständig Fehler. Das für ihn gewünschte Resultat in Deutschland zu bekommen ist lebenswichtig. Ich glaube, er wird seine Anstrengungen verdreifachen, um Merkel aus dem Amt zu bekommen. Er will keinen bestimmten Kandidaten unterstützen. Alles, was er will, ist, dass Merkel draußen ist. Ob die SPD oder andere gewinnen, interessiert ihn nicht. Er unterstützt die Linke, die AFD, jeden, der Merkel Wählerstimmen kostet. Am ehesten noch die AFD, denn das ist der natürlichste Weg, Stimmen zu verlieren. Dazu kommen mehr Angriffe in den Medien. Und, Gott bewahre, Terrorismus. Das ist eine klassische KGB-Methode. Auch im IS gibt es noch viele alte Verbindungen zu Russland. Putin wird jede Gelegenheit nutzen, um Deutschland zu destabilisieren. Er weiß, dass Angela Merkel der Kern der europäischen Einheit gegen Russland ist.
Wie groß ist der Einfluss von Fake News und Hacker-Angriffen in Deutschland? Experten sagen, 70 bis 75 Prozent der Angriffe kommen aus Russland.
Glauben Sie, es sind nur 75 Prozent? (lacht) Ich wäre nicht so optimistisch. Putins Agenten greifen auch aus anderen Ländern an. Ich bin kein Experte für deutsche Politik. Ich kenne die Geschichte von dem Mädchen, das angeblich vergewaltigt wurde und andere Geschichten, die benutzt wurden.
Aber diese Fake News waren schlecht gemacht und leicht zu überprüfen…
Die Frage ist doch, wie beeinflusst es das Publikum, auf das er abzielt? Offensichtlich kümmert es sie nicht, wie schlecht eine Geschichte gemacht ist, ob sie glaubwürdig ist oder nicht. Für uns ist das klar. Wir prüfen das online und sehen, es ist ein Fake. Aber für die Leute, die erreicht werden sollen....
Die wollen die Geschichte glauben?
Genau. Eine sehr emotionale Angelegenheit. Wie viele russisch-sprechende Wähler gibt es in Deutschland?
Keine Ahnung.
Ich denke, wir reden über eine signifikant große Zahl. Hunderttausende, wenn nicht mehr. Diese Leute kann man manipulieren, durch russisches Fernsehen. Natürlich werden dafür russisch-deutsche Medien benutzt, die zweisprachig und kostenlos sind. Sie haben Geld und bestimmte Ziele, so erwarte ich, dass sie immer aktiver werden.
Sind Sender wie „RT Deutsch“ denn gefährlich? Oder eher harmlos?
Ich kenne „Russia Today“ auf Englisch. Russia Today ist der am besten finanzierte Sender der Welt. Wenn man nach Putins Absichten fragt, sollte man nach dem Budget fragen. Der Weg, den das Geld nimmt, ist der beste Indikator für Interessen, besonders in Krisen-Zeiten. Ein ganz klare Demonstration der Absichten. Putins finanzielle Situation ist nicht so strahlend, wie vor zehn Jahren. Es gibt Einschnitte im Sozialbereich, Gesundheit, Bildung. Stattdessen mehr Geld für Militär, Sicherheit und Propaganda. Mehr und mehr Geld für diese drei Bereiche. Er sieht „Konfrontation“ als das Haupt-Element seiner Inlands-Propaganda.
Hat die Opposition in Russland noch eine Chance?
Es gibt keine mehr, seit Boris Nemzow erschossen wurde. Davon zu sprechen würde bedeuten, man ignoriere die Realität. Alles, was in Russland existiert, gibt es, weil der Kreml es nicht verhindert. Alexei Nawalny (Oppositioneller und nationalistisch-demokratischer Politiker) wurde angegriffen und hat sich zurückgezogen. Ich weiß nicht, ob und wann er zurückkommt. Das politische Leben in Russland ist unter totaler Kontrolle des Kremls. Die einzige Gefahr für Putin ist, schwach auszusehen. Der Schlüssel zu seiner Entlassung liegt außerhalb von Russland. In dem Moment, wo er schwach aussieht…die Wahlen in Deutschland könnten so ein Moment sein, wenn Angela Merkel die Wahl gewinnt. Denn so läuft es bei der Mafia: Wenn der Boss schwach aussieht und Fehler macht, fragt sich der Rest der Familie: Vielleicht brauchen wir einen anderen Boss? Viele Leute in Russland fragen sich: Vielleicht sollten wir diesen verrückten Kerl loswerden? So lange ein Diktator stark aussieht, geht keiner gegen ihn an. Also muss Putin den USA und Europa trotzen. Er muss Stärke zeigen. Er ist ein cleverer Kerl, street smart. Zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges tauchen Truppen der NATO und der USA an der Grenze zu Russland auf. Vorher gab es da nicht einen Panzer. Wegen Putin haben wir NATO-Manöver in Estonia und Lettland. Dazu sein heimliches Spiel mit Hacking und Fake News. Das ist ein verlorenes Spiel. Die Machtverhältnisse in Russland können sich schnell ändern.
Können Sie kurz erklären, woran man Fake News erkennt?
Manche Dinge tut man einfach, ohne danach gefragt zu werden. Zähne putzen und andere Hygienemaßnahmen, um seine Gesundheit zu schützen. Das gleiche gilt für geistige Gesundheit: ein oder zwei Minuten bei Wikipedia nachschauen. Im Zweifel einfach nachschauen und nachprüfen. Wenn man das ein paar Mal macht, wird es zur Gewohnheit. Manipuliert zu werden ist gefährlich für die geistige Gesundheit. Also sollte man sich schützen. Man möchte seinen Rechner schützen, also kauft man eine gute Schutzsoftware, ich empfehle die von Avast. Wer sein Gehirn vor Fake News schützen will, kann das selbst tun. Es ist einfach. Gott sei Dank hat man heute so gute Möglichkeiten.
Früher haben die Medien die Fakten geprüft, einsortiert und veröffentlicht.
Heute kann sich im Netz jeder selbst informieren und veröffentlichen. Ohne Fakten-Check.
Man kann Fake News fast riechen. Jede Sensation sollte man überprüfen. Fake News sind nicht nur eine Geschichte, sondern ganz viele. Wir schulden Putin Respekt, diese Technik entwickelt zu haben. Sie soll Misstrauen säen. Also: bitte nehmt Euch ein paar Minuten Zeit. Und schützt Eure eigene Integrität.
Waren Sie oder Ihre Familie in Russland in Gefahr?
Warum lebe ich wohl jetzt in New York?
Ist es da für Sie sicherer?
Verglichen mit was? Mit Russland? Das wäre eine Reise ohne Wiederkehr. Wenn ich zurückgehen würde…
Keine gute Idee?
Deshalb lebe ich in New York. Mit Leuten, die meine Ideen teilen. Viele sind im Exil, im Gefängnis oder schlimmer, so wie Boris Nemzow.
Hätte Wladimir Putin gegen Sie im Schach eine Chance?
Diktatoren spielen kein Schach. Das ist ein transparentes Spiel. Sie spielen Poker, wo man bluffen kann. Schach bedeutet Regeln. Die hassen Regeln.
Putin ist Judo-Kämpfer mit schwarzem Gürtel...
Putin sieht stärker aus, als er ist. Ich werde sauer, wenn ich das höre. Er ist kein Stalin. Aber es fehlt der politische Willen im Westen. Hätten Adenauer, Truman und Churchill der Wille gefehlt, würde die Welt heute anders aussehen. Der Kalte Krieg ist ein Spiel um politische Macht. Putin weiß, wie weit er gehen kann. Wir finden noch keine passende Antwort. Russland ist heute die gefährlichste Nation, wegen seiner Absichten und seiner Ressourcen. Ich sage das schon seit vielen Jahren.
Spielen Sie noch Schach?
Nicht mehr professionell, aber ich werbe weltweit für Schach-Lern-Programme, zum Beispiel in Schulen. Und ich verfolge die großen Matches.
Kasparow ist Vorsitzender der „Human Rights Foundation“ und lebt in New York. Er schreibt als Avast-Sicherheitsbotschafter Blog-Beiträge über aktuelle Entwicklungen in der digitalen Welt und deren Einfluss auf Politik und Gesellschaft, wie Online-Propaganda, Fake-News, Hass-Kommentare und Cyberattacken.