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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Frankreich-Kenner Ulrich Wickert "Wie kommt er nur auf diese verrückte Idee?"
Die Parlamentswahl in Frankreich konnte überraschend ein linkes Bündnis für sich entscheiden. Ex-Tagesthemen-Moderator und Frankreich-Kenner Ulrich Wickert hält das Ergebnis für ein starkes Signal.
Eigentlich hatte Gabriel Attal schon seinen Rücktritt angekündigt. Doch daraus wird erst einmal nichts: Der französische Präsident Emmanuel Macron bat den Regierungschef einen Tag nach der Parlamentswahl, weiter im Amt zu bleiben, bis klar ist, wie eine neue Regierung gebildet werden kann. Mehr dazu lesen Sie hier.
Bis es so weit ist, könnte noch einige Zeit vergehen: Das rechtsextreme Lager des Rassemblement National (RN) war als klarer Favorit in den zweiten Wahlgang am Sonntag gegangen, landete am Ende aber hinter dem Linksbündnis NFP und dem Mitte-Lager von Macron nur auf Rang drei. Doch was bedeutet das Ergebnis jetzt für das Land und den französischen Präsidenten? t-online hat beim Ex-Tagesthemen-Moderator und Frankreich-Korrespondenten Ulrich Wickert nachgefragt.
t-online: Herr Wickert, machen Sie sich um Frankreich Sorgen?
Ulrich Wickert: Meine Sorgen wären größer, wenn der Rassemblement National die absolute Mehrheit gewonnen hätte. Es stellt sich jetzt die Frage, welche Parteien miteinander regieren sollen. Das halte ich für schwierig, aber lösbar. Denn es gibt in allen Gruppierungen Leute, die eher für eine Koalition sind. Allerdings kennen die Franzosen so etwas nicht: Politischer Kompromiss ist dort etwas ganz Grässliches. Das wird man jetzt lernen müssen.
Für eine Mehrheit müsste sich eine solche Koalition wohl von den Grünen und Sozialisten über das Macron-Bündnis bis zu den konservativen Republikanern erstrecken.
Diese Parteien kämen jedenfalls infrage. Sie müssen sich jetzt überlegen, was das Programm einer solchen Koalition sein könnte. Das dürfte besonders schwierig werden. Das linke Lager will etwa das Renteneintrittsalter auf 60 Jahre zurückdrehen, was aus meiner Sicht aufgrund der Kosten nicht möglich sein wird. Eine solche Koalition könnte aber sagen: Wir regieren jetzt ein Jahr miteinander und versuchen, in dieser Zeit den Mindestlohn zu erhöhen.
Zur Person
Ulrich Wickert (81) gilt als einer der besten Kenner Frankreichs in Deutschland: Der Journalist und Moderator lebte bereits in seiner Jugend mehrere Jahre in Paris und berichtete seit dem Ende der Sechzigerjahre von dort. 1984 wurde er Studioleiter der ARD in Paris. Zwischen 1991 und 2006 moderierte er für den Sender die "Tagesthemen". Daneben hat Wickert mehrere Bücher über das Land verfasst.
Sie sehen also nicht das Risiko, dass die aktuellen Wahlen zu einem Patt führen und Frankreich unregierbar wird?
Man kann nichts vorhersagen. Allerdings glaube ich, dass die Situation des Landes heute besser als vor einer Woche ist.
Die Verfassung sieht vor, dass Macron nach dieser Wahl ein Jahr lang keine Neuwahlen mehr ansetzen darf. Gehen Sie davon aus, dass er angesichts der komplizierten Lage dann das Parlament erneut auflösen wird?
Das ist denkbar. Möglicherweise könnte er ein besseres Ergebnis für seine Partei erzielen. Macron wollte mit dieser Wahl zeigen: Es gibt in Frankreich keine Mehrheit, die rechtsradikal wählt. Und diese Wahl zeigt ebenfalls: Marine Le Pen hat keine Chance, französische Präsidentin zu werden.
Was macht Sie da so sicher?
Schauen Sie sich die Zahlen dieser Wahl an. Sie werden sehen, dass sich eine "Republikanische Front" gegen Le Pen und ihre Partei gebildet hat: Alle Parteien haben sich zusammengeschlossen und verhindert, dass die Rechtsextremen an die Macht kommen. Das ist etwas sehr Traditionelles in Frankreich. So etwas gibt es bereits seit den Fünfzigerjahren. Etwas Ähnliches gab es auch 2002 bei der Präsidentschaftswahl: Damals unterlag Le Pens Vater Jean-Marie in der Stichwahl gegen Jacques Chirac, der mehr als 80 Prozent der Stimmen erhielt.
Marine Le Pens Niederlagen gegen Macron fielen 2017 und 2022 aber nicht so deutlich aus.
Sie konnte Macron vor zwei Jahren nicht schlagen, obwohl er relativ unbeliebt war. Ich glaube, das gestrige Ergebnis zeigt: Der RN hat nicht genug Reserven bei den Wählern.
Ist diese Wahl also ein Zeichen, dass sich die französische Bevölkerung doch nicht so stark nach rechts orientiert hat, wie zuvor vermutet wurde?
Die Angst vor den Rechtsradikalen war groß. Sie hat diejenigen mobilisiert, die gegen Le Pen sind. Das war ein starkes Signal.
Ist es wirklich ein starkes Signal, wenn Le Pens Partei jetzt mehr Sitze im Parlament hatte als zuvor?
Die Partei war davon ausgegangen, als stärkste Fraktion mit absoluter Mehrheit zu regieren. Jetzt ist sie nur die drittstärkste Fraktion. Die Rechtsextremen haben jetzt mehr Sitze im Parlament, aber politisch sind sie nicht weitergekommen.
- Lesen Sie auch: Frankreich: Rechtsrutsch verhindert, doch was nun?
Die Verhältnisse im Parlament bleiben allerdings kompliziert. War es eine kluge Entscheidung von Macron, das Parlament aufzulösen?
Nein. Ich kenne niemanden in Frankreich, der diese Entscheidung für klug hielt. Jeder hat sich gefragt: Wie kommt er nur auf diese verrückte Idee? Macrons Vater hatte zuletzt in einem Interview gesagt, dass sein Sohn schon zwei Monate davor darüber nachgedacht habe, das Parlament aufzulösen, um den Rassemblement National zu schwächen.
Zeigt sich an seiner sehr einsamen Entscheidung für dieses Votum nicht auch, dass Macron tatsächlich die Bodenhaftung fehlt?
Den Bezug zum Volk hat Macron nie gehabt. Er ist ein Produkt der französischen Eliteausbildung. Deshalb denkt Macron auch wie jemand aus der Elite.
Wie meinen Sie das?
Macron hat nie als Bürgermeister oder einfacher Abgeordneter kandidiert. Die erste Wahl, der er sich überhaupt gestellt hat, war die Präsidentschaftswahl 2017. Er weiß deshalb nicht, was den Wähler betrübt oder was die Leute von ihm wollen. Trotzdem muss man festhalten: Sein Plan hat funktioniert. Der RN ist geschwächt. Seine eigene Position konnte er dadurch nicht stärken, aber das hat Macron in Kauf genommen.
Nicht nur der Zuspruch für den RN steigt, sondern auch für die Linkspopulisten von Jean-Luc Mélenchon. Verschwindet in Frankreich langsam die Mitte?
Die Frage ist, ob die Franzosen jemals eine Mitte hatten. Macron hat den Wählern versprochen: Ich will die Extremen in Frankreich entmachten. In der Geschichte der Fünften Republik Frankreichs ging es immer entweder nach rechts, etwa mit den Gaullisten, oder nach links mit den Sozialisten. Es gab immer diese zwei großen Lager. Macron wurde dagegen aus der Mitte herausgewählt. Viele Franzosen fragen sich jetzt allerdings: Was bedeutet überhaupt politische Mitte?
Macron darf 2027 als Präsident nicht mehr antreten. Kann es sein, dass dann die traditionellen großen Parteien, also die Sozialisten und die Republikaner, wieder zu alter Stärke finden könnten?
Das hängt davon ab, welche Kandidaten gefunden werden. In Frankreich wird das linke oder rechte Lager immer von Personen bestimmt, die entweder geliebt oder gehasst werden.
Welche Personen sind das aktuell?
Auf der rechten Seite gibt es offenbar niemanden, der die Franzosen restlos überzeugt. Macron steht in der Mitte und links gibt es den antisemitischen Populisten Mélenchon. Der ist ein begnadeter Redner, weswegen ihm einige Leute folgen. Aber man darf nicht vergessen: Auch er ist bei vielen Franzosen verhasst. Selbst innerhalb seiner Partei sagen viele: Der darf nicht in eine Regierung. Allerdings wird der Premierminister einzig und allein vom Präsidenten ernannt – und Macron wird niemals Mélenchon zum Premier machen.
Sehen Sie einen Nachfolger für Macron, der als Präsidentschaftskandidat die Mitte wieder überzeugen könnte?
Ich sehe im Augenblick in keinem der Lager wirklich überzeugende Politiker. Man hatte vermutet, dass Premierminister Gabriel Attal auf Macron folgen könnte. Er galt als Zögling des Präsidenten und kommt in vielen Umfragen gut an. Allerdings hat ihn Macron durch die Auflösung des Parlaments fallen gelassen. Der ehemalige Premierminister Édouard Philippe ist ebenfalls beim Volk sehr beliebt. Aber ob der auch gewählt wird? Französische Präsidenten brauchen politisches Gewicht. Momentan sehe ich niemanden, der das mitbringt.
- Interview mit Ulrich Wickert