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Russland und Weihnachten: Zuviel Besinnlichkeit mag Putin gar nicht


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Russland und Weihnachten
An Weihnachten passte dem Kreml etwas überhaupt nicht

MeinungEine Kolumne von Wladimir Kaminer

24.12.2023Lesedauer: 5 Min.
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Ex-Präsident Dmitri Medwedew und Wladimir Putin im festlich geschmückten Kreml (Archivbild): Besinnlichkeit der Bürger ist den Mächtigen in Russland unheimlich, sagt Wladimir Kaminer. (Quelle: Dmitry Astakhov/TASS/imago-images-bilder)

In Deutschland soll das Weihnachtsfest weiß sein, die russische Alternative vor allem sinnfrei. Denn allzu große Besinnlichkeit missfällt dem Kreml. Wladimir Kaminer weiß, warum.

Trotz des Krieges ist das Interesse an Russland und seinen Bewohner nicht erloschen – zumindest in meiner Umgebung. Feiern die Russen überhaupt Weihnachten? Das fragten mich die Nachbarn. Die Russen können doch bestimmt gut feiern, sie haben genug Schnee, während wir von einer Weißen Weihnacht nur träumen können, ging es weiter. Denn bei uns in Berlin regnet es im Dezember mehr, als es schneit.

Dafür ist Weihnachten hier in Deutschland ein Fest, das das ganze Land lahmlegt: Niemand kann ihm entkommen, alle machen mit. Die Russen dagegen feiern gut und gerne, aber im engen Kreis der Familie und Freunde. Ihre Feste sind in der Regel privater Natur, das gilt für Geburtstage, Hochzeiten und Begräbnisse. Die Nachbarn werden nicht eingeladen.

(Quelle: Frank May)

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein neues Buch "Frühstück am Rande der Apokalypse" ist im August 2023 erschienen.

Von den großen Volksfesten, die vom ganzen Land gemeinsam getragen werden, gibt es meines Erachtens in Russland nur zwei: den "Tag des Sieges" für ältere Semester und Silvester für alle. Mit dem "Tag des Sieges" ist der Sieg über den Faschismus vor beinahe achtzig Jahren gemeint. Kaum jemand von den Veteranen des Zweiten Weltkrieges ist noch am Leben, doch für die Menschen in Russland ist dieser Krieg immer noch der einzige, für den man sich nicht schämen muss.

Ihre Großväter und Urgroßväter haben damals zwischen 1941 und 1945 nicht einfach ziellos ihre Nachbarn überfallen wie in späteren Kriegen. Sie haben ausnahmsweise für eine gute Sache gegen das Böse gekämpft und sind millionenfach im Krieg gefallen. Der "Tag des Sieges" ist ein trauriger Feiertag, der nicht laut gefeiert werden sollte, zu viele Tote hat dieser Sieg gekostet.

Völlig sinnbefreit

Das russische Silvester ist dagegen für Atheisten das Hauptfest des Landes – als verbesserte Weihnachtsvariante. Die Kommunisten haben schon immer neidisch auf das Weihnachtsfest im Westen geschielt, sie hätten so etwas auch gerne gehabt. Aber eins zu eins konnten sie das Fest wegen ideologischer Differenzen nicht übernehmen. In gewohnter Manier überlegten die Kommunisten deshalb, was man aus der westlichen Tradition rausnehmen könnte, ohne dem Fest zu schaden. Natürlich den Sinn!

Denn sinnvolle Feste sind gefährlich fürs Gemüt: Sie können die Menschen auf merkwürdige Gedanken bringen, die mit der Ideologie des Staates nicht übereinstimmen. Also nahmen die Kommunisten das Beste aus der Weihnachtstradition: den schicken Tannenbaum mit Schmuck, den Weihnachtsmann, der in Väterchen Frost umgewandelt wurde, einen Sack voller Geschenke und den großen Stern auf der Tannenspitze. Dazu Stößchen mit Sekt und Staatsführer im Fernseher zum Glocken-Bimbam, fette Salate mit Mayo und Kochwurst.

Den Sinn des Festes, also den christlichen Schnickschnack wie Maria im Stall, den kleinen Jesus, Adventskränze und Plätzchenbacken haben sie rausgenommen und selbstvergessen zur Fernsehmusik bis in die Morgenstunden getanzt. Silvester einte das Land, seine Botschaft war unmissverständlich: Noch ein Jahr haben wir durchgehalten und noch immer sind wir da, Prosit! Alle Bürger sitzen brav vor dem Fernseher und draußen liegt der Schnee, meterdick.

Diesen Schnee vermissen wir in Deutschland überhaupt nicht. Meine Frau hasst den Schnee, sie nennt ihn "Faschismus der Natur". Auf der kalten Insel Sachalin, zwischen Japan und der Sowjetunion geboren, wehrte sie sich bereits vom ersten Tag ihres Lebens gegen den Schnee. Ihre Mutter erzählte, dass das Kind sofort zu heulen begonnen habe, wenn nur eine Schneeflocke im Kinderwagen landete. Deswegen musste Mama ihr Kind mit Plastikfolie bedecken, damit es ruhig blieb.

Fast weggeweht

Dem ganzen winterlichen Kinderspaß in Form von Skilaufen, Schneeballschlachten, dem Bauen von Schneemännern und Schneeburgen konnte meine Frau nichts abgewinnen. Die Zentralheizung auf der Insel fiel regelmäßig aus. Mit der offiziellen Begründung: "wegen des plötzlichen Wintereinbruchs". Das kenne ich auch aus Deutschland. Obwohl eigentlich jeder Mensch weiß, dass der Winter kommt und ihn ziemlich exakt voraussagen kann, gelingt es der kalten Jahreszeit, uns jedes Mal aufs Neue zu überraschen.

Eine kalte Wohnung in Berlin ist unangenehm. Doch eine kalte Wohnung auf Sachalin konnte lebensbedrohliche Folgen zeitigen. Erst als meine Frau zur Schule ging, lernte sie die Schneestürme ein wenig zu schätzen. Ab Windstärke 6 waren nämlich alle Grundschüler von der ersten bis vierten Klasse vom Unterricht befreit. Aus Sicht der Schulleitung bestand bei den Grundschülern nämlich die Gefahr, dass sie von einem solchen Schneesturm nach Japan hinüber gepustet werden könnten.

Die Fünftklässler hatten Pech, sie mussten trotzdem zur Schule. Aber ab und zu gab es Schneestürme von solcher Stärke, dass niemand ging. Die Kinder blieben zu Hause, ihre Eltern mussten jedoch zur Arbeit, egal wie das Wetter war. Die Erwachsenen bewegten sich mit dem Rücken nach vorne auf der Insel, damit ihre Nasen nicht abfroren. Diese ganzen Schneeabenteuer betrachtete meine Frau als Horror. Umso größer war ihre Freude, wenn sich der Winter Ende Mai verabschiedete und der Schnee zu schmutzigem Wasser schmolz.

Mit sechzehn Jahren hat Olga die Insel verlassen, sie fuhr zum Studium nach Sankt Petersburg – eine Stadt mit wenig Schnee, aber windigem und feuchtem Klima. Das wechselhafte Wetter Sankt Petersburgs sorgt dafür, dass in dieser Stadt mit die größten Eiszapfen der Welt an den Fassaden wachsen. Trotz der Bemühungen der Ordnungsämter, die Eiszapfen zu beseitigen, sterben jedes Jahr Fußgänger eines grausamen Todes: von einem Eiszapfen durchbohrt.

Wie die Bären

Es schneit in Sankt Petersburg selten, aber immer zu unpassenden Zeiten. Einmal schneite es sogar an Olgas Geburtstag, Ende Juni. In jenem Jahr beschloss sie, nach Deutschland zu ziehen, nicht nur des Klimas wegen. Gleich nach ihrem verschneiten Geburtstag kam Olga in Berlin an. Ihre erste Wohnung hatte eine Ofenheizung. Olga wusste nicht, was das bedeutet, sie hatte bis dahin über Ofenheizungen nur in historischen Romanen gelesen. Sie zog im August in ihre Wohnung ein und betrachtete diesen Ofen zunächst als eine nette, kaminförmige Dekoration.

Erst im Winter wurde sie eines Besseren gelehrt. Der Ofen erwies sich als ein wahrer Kohlenschlucker, man konnte ihn mit den Kohlebriketts nicht satt kriegen, die Wohnung blieb kalt. Und obwohl all diese Erfahrungen schon länger zurückliegen, ist Olga nach wie vor wintertraumatisiert. Kaum sieht sie eine weiße Decke auf den Straßen, tut sie es den Sachaliner Bären nach und versucht, in einen Winterschlaf zu fallen, um dann im März mit neuer Kraft zum Leben zu erwachen.

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