Was bekannt ist Angriff auf Flüchtlingslager in Gaza: "Ein riesiges Loch in der Erde"
Israelische Luftangriffe auf ein Flüchtlingscamp im Gazastreifen haben internationale Empörung ausgelöst. Was ist über die Attacken bekannt?
Im Flüchtlingslager Dschabalia im Norden des Gazastreifens klafft seit Dienstag ein riesiges Loch. Die israelische Armee hatte das Camp aus der Luft angegriffen, am Mittwoch dann einen zweiten Angriff geflogen. In den sozialen Medien verbreiteten sich Bilder von in Tücher gehüllten Leichen und zerstörten Häusern.
"Als ich aus meinem Wohnhaus kam, das schwer beschädigt wurde, sah ich ein riesiges Loch in der Erde. Es hatte Häuser und Menschen verschluckt", erzählte Mohammed al-Aschkar, ein Bewohner Dschabalias, der Nachrichtenagentur dpa. "Es ist ein Massaker", sagte ein Zeuge des Angriffs laut Reuters.
Doch warum hat Israel überhaupt ein Flüchtlingscamp mit mutmaßlich Zehntausenden Zivilisten angegriffen? Und wie reagiert die internationale Gemeinschaft auf die Attacke? t-online gibt einen Überblick darüber, was bisher bekannt ist – und was nicht.
Was ist passiert?
Israels Armee hat zunächst am Dienstag und dann erneut am Mittwoch Luftangriffe auf Dschabalia geflogen. Am Dienstag sind dabei laut ersten Angaben Israels 50 Terroristen getötet worden. Auch beim zweiten Luftangriff sollen Dutzende Menschen ums Leben gekommen sein.
Augenzeuge Mohammed al-Aschkar aus Dschabalia berichtete, er habe eine schwere Explosion gehört. Dann habe eine schwarze Wolke die Umgebung verdunkelt. Al-Aschkar, der mit 56 Angehörigen in dem Gebäude wohnt, rief nach seiner Familie. Einige von ihnen seien verletzt, aber niemand getötet worden. Unter seinen Nachbarn gebe es jedoch Tote. Seine Familie habe den Norden des Gazastreifens trotz wiederholter Aufrufe der israelischen Armee nicht verlassen, "weil wir dachten, dass Zivilisten nicht angegriffen werden".
Ein Krankenwagenfahrer erzählt, er habe nach der Explosion Dutzende von Menschen am Boden liegen sehen. Er berichtet von zerfetzten Leichen. Der Mann, der nur seinen Vornamen Mohammed nennen will, wirft Israel ein "Massaker" an Einwohnern Dschabalias vor, "die keine Chance hatten, dem Tod zu entkommen". Er habe geweint, als er tote und verletzte Kinder gesehen habe, "weil ich an meine Kinder dachte und Angst hatte, dass sie die nächsten Opfer sein könnten".
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Dschabalia ist nach UN-Angaben das größte Flüchtlingslager im Gazastreifen. Dort leben Menschen, die in Kriegen mit Israel seit 1948 fliehen mussten. Es ist demnach ein sehr dicht besiedeltes Gebiet aus Wohnhäusern, aber nicht wie andere Flüchtlingslager durch einen Zaun oder Ähnliches von der Umgebung abgetrennt. Die Menschen vor Ort werden von dem UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA betreut.
Die UNRWA ist seit 1949 im Gazastreifen aktiv. Sie kümmert sich um humanitäre Hilfe und bietet Schutz für palästinensische Geflüchtete. Doch die Organisation ist dabei nicht unumstritten. Es gibt regelmäßig Kritik daran, dass sie kein neutraler, humanitärer Akteur sei, sondern mit Konfliktgruppen sympathisiere oder sich für deren Zwecke instrumentalisieren lasse. Israel hat UNRWA daher vorgeworfen, sie trage zur Verewigung des Konflikts bei.
Was sagt Israel?
Nach Darstellung der israelischen Armee galt der Luftangriff einem Drahtzieher des Massakers an israelischen Zivilisten am 7. Oktober. 50 Terroristen seien bei dem Einsatz in Dschabalia getötet worden. Man könne noch nicht sagen, wie viele Zivilisten getötet wurden.
Die im Gazastreifen herrschende Terrororganisation Hamas verschanze sich im Gazastreifen absichtlich hinter ziviler Infrastruktur, sagte Militärsprecher Daniel Hagari vor Journalisten. "Sie wollen dieses Bild der Zerstörung", warf er der Hamas vor.
Hagari sprach von einem Dilemma für die Armee. Einerseits wisse sie, dass sich in der Gegend noch immer Zivilisten aufhielten, obwohl das Gebiet aufgrund der Präsenz der Hamas als "rote Zone" ausgewiesen sei. Zugleich sei die Aktivität der Hamas in dem Flüchtlingslager für die israelische Armee eine Bedrohung, auf die sie reagieren müsse.
Hamas-Terroristen sollen Israels Truppen aus Dschabalia beschossen haben
Der israelische Militärsprecher beschrieb am Mittwoch die Hintergründe des Luftangriffs in Dschabalia während eines Bodeneinsatzes im Gazastreifen. "Aus einem mehrstöckigen Gebäude im Bereich Dschabalia haben Terroristen unsere Truppen beschossen", sagte Hagari. So wie viele andere Gebäude hätten Terroristen der im Gazastreifen herrschenden Hamas auch dieses nahe einer Schule, eines medizinischen Zentrums und Regierungsbehörden als Zufluchtsort genutzt.
Die Terroristen seien durch einen Luftangriff ausgeschaltet worden. Dabei handle es sich um den Hamas-Kommandanten Ibrahim Biari, ein mutmaßlicher Drahtzieher des Massakers an Zivilisten in Israel vom 7. Oktober. Biari sei zuständig gewesen "für den Bereich, aus dem viele der Terroristen zum Massaker am 7. Oktober aufbrachen", sagte Hagari. Er habe sich am Dienstag gemeinsam mit Dutzenden anderen Terroristen in einem Kommandozentrum in Dschabalia aufgehalten. Dies umfasse auch unterirdische Tunnel unter Gebäuden mit Zivilbevölkerung.
Bei dem Angriff am Mittwoch soll zudem ein weiterer Hamas-Kommandeur ausgeschaltet worden sein. Der Chef der Panzerabwehrraketeneinheit, Muhammad Asar, wurde laut israelischen Angaben getötet.
Was sagen die Palästinenser?
Die Terrororganisation Hamas behauptete am Mittwoch, dass bei den beiden Luftangriffen Israels mindestens 195 Palästinenser getötet worden seien. Rund 120 Menschen würden noch unter den Trümmern vermisst, mindestens 777 weitere seien verletzt, teilte die Pressestelle der von der Hamas geführten Verwaltung im Gazastreifen mit. Zudem sollen sieben der in das Palästinensergebiet verschleppten Geiseln gestorben sein, darunter drei ausländische Staatsbürger. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Die im Gazastreifen herrschende radikalislamische Terrororganisation Hamas hatte am 7. Oktober bei einem Großangriff auf Israel nach israelischen Angaben mindestens 1.400 Menschen getötet und mindestens 240 Menschen in den Gazastreifen verschleppt. Als Reaktion auf den Hamas-Angriff hat Israel den Gazastreifen unter Dauerbeschuss genommen und das Palästinensergebiet komplett abgeriegelt.
Wie reagiert die internationale Gemeinschaft auf die Angriffe?
Die Bundesregierung hat ein verhältnismäßiges Vorgehen der israelischen Armee im Krieg gegen die radikalislamische Hamas angemahnt. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes sagte am Mittwoch in Berlin, es sei "essenziell", dass beim Kampf gegen die Hamas "mit der notwendigen Verhältnismäßigkeit" vorgegangen werde. Zugleich sei "wieder einmal eingetreten", dass die Hamas sich mit ihren Militär- und Führungsstrukturen "hinter der Zivilbevölkerung versteckt, diese als menschliche Schutzschilde nutzt und im Zweifelsfall opfert", sagte der Sprecher weiter.
Die USA äußerten sich zurückhaltend. Pentagon-Sprecher Patrick Ryder sagte dem Sender CNN, dass das israelische Militär im Gegensatz zu den Hamas-Terroristen nicht absichtlich Zivilisten angreife. "Über einzelne israelische Angriffe" könne er jedoch nicht sprechen. Das US-Verteidigungsministerium zeigte sich "besorgt über zivile Opfer". Man habe "sowohl öffentlich als auch nicht öffentlich deutlich gemacht, dass uns der Schutz unschuldigen Lebens und die Achtung des Kriegsrechts am Herzen liegen", sagte Ryder.
Laut Einschätzung der Vereinten Nationen könnten die Luftangriffe Israels Kriegsverbrechen darstellen. "Angesichts der hohen Zahl von Opfern und des Ausmaßes der Zerstörung nach den israelischen Luftangriffen auf das Dschabalia-Flüchtlingslager haben wir ernsthafte Bedenken, dass es sich um unverhältnismäßige Angriffe handelt", schrieb das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte am Mittwoch im Kurzbotschaftendienst X (vormals Twitter). Es könnte sich um "Kriegsverbrechen" handeln.
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Jordanien hat den Abzug seines Botschafters aus Israel bekannt gegeben. Dies sei eine Reaktion auf "den israelischen Krieg gegen den Gazastreifen", heißt es in einer Erklärung von Außenminister Ajman Safadi in den Staatsmedien. In dem Krieg würden Unschuldige getötet und es gebe eine "noch nie dagewesene humanitäre Katastrophe". Safadi verweist zudem auf die Abriegelung des Gazastreifens für Lebensmittel, Wasser und Medikamente.
Die linke Regierung Spaniens hat den Angriff auf Dschabalia verurteilt. Man sei "entsetzt über die zivilen Opfer der Bombardierung in Dschabalia", schrieb Außenminister Juan Manuel Albares am Mittwoch auf X. Das humanitäre Völkerrecht müsse immer geachtet werden. Mehr zum Völkerrecht mit Blick auf den Angriff der israelischen Armee auf Gaza lesen Sie hier.
Irlands Außenminister Micheál Martin hat sich erschüttert gezeigt. "Ich bin zutiefst schockiert über die hohe Zahl an Opfern nach der Bombardierung auf das Dschabalia-Flüchtlingscamp in Gaza", sagte Martin einer Mitteilung am Mittwoch zufolge. Irland habe deutlich gemacht, dass Israels Recht auf Selbstverteidigung im Rahmen des internationalen humanitären Völkerrechts bleiben müsse.
Bolivien bricht seine diplomatischen Beziehungen zu Israel ab. Das teilt das Außenministerium in La Paz mit und erhebt zugleich schwere Vorwürfe gegen Israel. Das Land begehe mit seinen Angriffen auf den Gazastreifen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, erklärt das Ministerium.
Auch mehrere führende lateinamerikanische Staaten verurteilen die israelischen Angriffe auf Dschabalia. Argentinien, das die größte jüdische Gemeinde Lateinamerikas zählt, Peru und Mexiko kritisierten am Mittwoch die israelischen Angriffe. Kolumbien und Chile riefen ihre Botschafter aus dem Land zurück.
- Nachrichtenagenturen dpa, Reuters und AFP
- sueddeutsche.de: "Was wir über die Angriffe auf das Flüchtlingslager Dschabalia wissen - und was nicht"
- tagesschau.de: ""Sie wollen dieses Bild der Zerstörung""
- n-tv.de: "Dutzende Tote bei Angriffen auf Hamas in Dschabalia"