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Gaza und Israel: Umgang mit Fotos aus Kriegsgebieten – Das sagt ein Experte


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Experte über Aufnahmen aus Gaza
"Bilder brennen sich ins kollektive Gedächtnis ein"

InterviewVon Tom Schmidtgen

29.10.2023Lesedauer: 6 Min.
Israel Palestinians Week of War Photo GalleryVergrößern des Bildes
Feuer und Rauch über Gaza-Stadt nach einem israelischen Luftschlag: "Was nicht in Bildern präsent ist, wirkt weniger wichtig", sagt Fotografie-Professor Steffen Siegel. (Quelle: Fatima Shbair)

Zeigen Medien genug oder zu wenig Bilder aus Kriegsgebieten? Fotografie-Professor Steffen Siegel sagt: Es ist problematisch, dass Zurückhaltung im Umgang damit nicht reflektiert wird.

Jeden Tag prasseln Bilder von Toten, Bombeneinschlägen und Leid aus Israel, dem Gazastreifen und der Ukraine auf uns nieder. Was machen diese Kriegsbilder mit uns? Der Folkwang-Professor für Fotografie, Steffen Siegel, glaubt, dass Menschen sich mit solchen Bildern eher weniger auseinandersetzen wollen. Im Interview mit t-online erklärt Siegel ein Dilemma: Wenn Medien Bilder nicht zeigen, fehlt ein Stück der Realität. Wenn Medien Bilder des Terrors zeigen, befeuert das die Logik des Terrors aber zusätzlich.

t-online: Herr Siegel, aus dem Nahen Osten erreichen uns teils schreckliche Bilder. Welches ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Steffen Siegel: Tatsächlich ist es kein einzelnes Bild, sondern ein Video. Aufgenommen wurde es am Rande des Festivals, das die Hamas-Terroristen angegriffen haben. Da sieht man im Hintergrund gerade die Fallschirmspringer der Hamas landen, während im Vordergrund junge Menschen tanzen.

Warum gerade das?

In diesem Video sieht man keine kriegerischen Handlungen im eigentlichen Sinne, sondern die Augenblicke unmittelbar davor. Das Grauen, das sich bei mir eingebrannt hat, besteht darin, dass ich im Rückblick ja genau weiß, dass gleich schreckliche Dinge geschehen werden.

  • In diesem Video sehen Sie die Szene, die Steffen Siegel besonders im Gedächtnis geblieben ist:
Video | Hamas-Terroristen richten Massaker auf Musikfestival an
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Quelle: reuters

Wie wirken diese und andere Kriegsbilder auf uns Menschen?

Das ist eine Frage, der vor genau 20 Jahren die Autorin Susan Sontag nachgegangen ist: in ihrem unverändert aktuellen Buch "Das Leiden anderer betrachten". Sie ging damals von den Bildern aus dem Jugoslawienkrieg aus und fragte sich: Werden wir Außenstehenden durch diese Bilder politisch aktiver oder stumpfen wir ab?

Und was ist Ihre Antwort?

Susan Sontag ist sehr skeptisch, dass Kriegsbilder uns in Aktion setzen. Sie sieht in solchen Bildern eher ein Problem, weil Menschen wohl tendenziell auf Abwehr gehen, sich den Bildern und damit auch dem, worauf in ihnen verwiesen wird, lieber weniger aussetzen wollen. Das halte ich für plausibel.

(Quelle: Adrian Sauer)

Steffen Siegel ist seit 2015 Professor für Theorie und Geschichte der Fotografie an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Er war außerdem Gastwissenschaftler an der Universität zu Köln und der National Gallery in Washington, D.C.

Was ist Ihr Eindruck: Zeigen wir Medien zu viel des Grauens oder gerade genug?

In Deutschland gibt es eine Mischung aus medienrechtlichen Vorgaben und selbst auferlegten Regeln, unter anderem den Pressekodex. Damit ist sehr klar, was Medien zeigen können und dürfen. Derzeit ist jedoch meine Beobachtung, dass wir aus dem Krieg zwischen Israel und der Hamas überraschend wenig explizite Bilder gezeigt bekommen.

Warum ist das so?

Das mag gute Gründe haben. Diejenigen, die sehr viel mehr von diesen Bildern gesehen haben – zum Beispiel die Außenministerin und ihre Delegation während ihrer jüngsten Reise nach Israel – sprachen ja anschließend von schockierenden Erfahrungen. Allerdings halte ich es für problematisch, dass die Medien ihre Zurückhaltung im Umgang mit solchen Bildern zu wenig öffentlich reflektieren.

Wir Journalisten selektieren sehr genau, was wir zeigen und was nicht. Beispielsweise veröffentlichen wir keine Bilder von Leichen oder menschliche Blutlachen. Finden Sie das richtig?

Ja, weil Sie auf diese Weise der Logik des Terrors entgegenarbeiten. Wir sollen diese Bilder von Gewalt ja sehen. Diese Taten sind auch deshalb so grausam, damit solche Bilder entstehen. Dem dürfen wir nicht durch Voyeurismus nachgeben. Zudem ist es sicher auch richtig zu filtern, weil es eine Form der psychischen Hygiene geben muss. Allerdings gibt es auch ein Problem.

Nämlich?

Es fehlen uns bestimmte Informationen darüber, was in der Welt geschieht. Stellen wir ein Gedankenexperiment an: Wie groß wäre unser Entsetzen gewesen, wenn es die Livebilder des 11. Septembers nicht gegeben hätte? Gewiss immer noch groß. Aber ein Teil des großen Schocks bestand auch darin, in den Fernsehbildern immer wieder diese beiden Flugzeuge in das World Trade Center fliegen zu sehen. Wir sind es inzwischen gewohnt, kriegerische und terroristische Ereignisse als Bildereignisse zu erfahren.

Was hat das für Folgen?

Es hat großen Einfluss darauf, wie wir Ereignisse einschätzen und bewerten, welche Bedeutung wir ihnen zumessen und welche Schlüsse wir daraus ziehen. Etwas, was nicht in Bildern präsent ist, wirkt weniger wichtig. Darauf wird politisch seltener oder zögerlicher reagiert.

Wie gehen Sie selbst damit um, schauen Sie sich diese expliziten Bilder an?

Ja, ich gehe gezielt auf X, früher Twitter, schaue mir das aber nur sehr umsichtig an. Ich kann sagen: Das ist etwas, das man nicht zu lange tun sollte. Es ist aus den zuvor genannten politischen Gründen aber durchaus ratsam.

Der Nahost-Experte Eckart Woertz sagte zuletzt, im Falle einer Bodenoffensive würden "brutale Bilder" entstehen. Israel würde "einen großen Imageschaden" erleiden. Glauben Sie das auch?

Im Unterschied zu Eckart Woertz bin ich kein Nahost-Experte, aber die These klingt plausibel. Bilder können andere Bilder in ihrer Wirkung vielleicht nicht auslöschen, aber immerhin überschreiben. Die älteren Bilder werden durch die neuen gewissermaßen verstellt. Das wird ganz gewiss im israelischen Kriegskabinett reflektiert. Ohne dass wir dort mit am Tisch sitzen müssen, können wir sicher sein, dass man sich fragt, welche Bilder entstehen werden – oder wie sie auch verhindert werden können.

Erleben wir auch einen Propagandakrieg der Bilder?

Ja, unbedingt. Das ist auch ein Krieg der Bilder. Das Bemerkenswerte ist doch, dass es nicht mehr wirklich bemerkenswert ist. Das sehen wir auch im Krieg in der Ukraine und überhaupt in vielen Kriegen der vergangenen Jahrzehnte. Die Kriegsparteien fokussieren sich stark darauf, visuellen Inhalt zu erzeugen und zu verbreiten. Wir sollten uns daher immer auch fragen, was wir nicht sehen und warum wir es nicht sehen. Aktuell sehen wir beispielsweise sehr wenige Bilder aus dem Gazastreifen. Uns sollte doch aber sehr interessieren, was dort gerade geschieht.

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Das liegt auch daran, dass es in Gaza kaum noch Sprit gibt, wenig Elektrizität. Wir Medien bekommen nur noch wenige Bilder aus dem Gebiet. Schon technisch lassen sich doch dadurch weniger Fotos herstellen und versenden.

Das stimmt und erinnert mich an ein anderes aktuelles Beispiel. Ich habe heute früh auf Instagram einen Beitrag gesehen, da teilte jemand eine Luftbildaufnahme. Darauf sollen große Erdölvorräte zu sehen sein, die im Gazastreifen angelegt sind. Der Kommentar dazu war: Sie haben kein Geld, keine Elektrizität, aber offenbar große Erdöltanks für ihren militärischen Apparat. Können wir denn wissen, wann das Bild entstanden ist, ob es im Gazastreifen entstanden ist, ob es wirklich Öltanks zeigt, und wenn ja, ob diese gefüllt sind?

Sie sprechen Bildfälschungen an, die es im Krieg oft gibt.

Bildfälschungen sind vermutlich der seltenere Fall. Viel häufiger haben wir es einfach mit Bildern zu tun, deren Aussagekraft nur scheinbar hoch ist. Wenn ihnen aber der Kontext fehlt, sind sie ideal geeignet für die vorsätzliche Entfaltung irreführender Wirkung.

Ist das schon immer so?

Jedenfalls stand am Beginn der Kriegsfotografie die inszenierte Kriegsfotografie. Die ersten fotografischen Beteiligungen an Kriegen, seit den 1850er-Jahren, waren immer nachträglich geschossen. Damals konnte man technisch gar nicht auf dem Schlachtfeld fotografieren. Dafür war das Equipment zu langsam, zu aufwendig und zu groß.

Haben Sie ein Beispiel für ein nachträglich inszeniertes Kriegsfoto?

Nicht eines, sondern mehrere Hundert: aufgenommen vom britischen Fotografen Roger Fenton, der zur Mitte der 1850er-Jahre im Krimkrieg bei seinen Motiven weitreichend eingegriffen hat, um Kriegsschauplätze inszenieren zu können. Ohne weiterführenden Kommentar, also einen erklärenden Kontext, ließen sich diese Fotos noch immer als ein bemerkenswerter Einblick in jene Kriegshandlungen heranziehen, die seinerzeit auf der Krim geschehen sind. Nur waren das eben Dokumente, die sich dem inszenatorischen Geschick von Roger Fenton verdanken.

Können Bilder auch den Kriegsverlauf beeinflussen?

Ja, eins der berühmtesten Beispiele ist Pearl Harbour, der Angriff der Japaner auf die amerikanische Pazifikflotte auf Hawaii. Da wird immer wieder gesagt, dass der Kriegseintritt der USA maßgeblich mit den dort entstandenen Bildern zu tun habe. Ich würde aber sagen, Bilder spielen längst in jeder Phase der Kriegsführung, also vor Beginn, während und nach dem Krieg eine entscheidende Rolle.

Nennen Sie gern ein Foto-Beispiel für das Ende eines Kriegs.

Wenn wir an das Ende des Zweiten Weltkriegs denken, haben wir fotografisch produzierte, eigentlich inszenierte visuelle Symbole vor Augen, beispielsweise den sowjetischen Soldaten auf dem Reichstag. Bilder brennen sich ins kollektive Gedächtnis der Welt ein und entfalten von dort her ihre dauerhafte Wirkung.

Herr Siegel, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Videogespräch mit Steffen Siegel
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