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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mutmaßliches Attentat auf Prigoschin Die Wut ist groß
Jewgeni Prigoschin ist offenbar bei einem Flugzeugabsturz gestorben. Hat Wladimir Putin den Wagner-Chef aus dem Weg geräumt? Fest steht: Sein Tod stärkt den Kreml, aber schwächt Russland.
Es ist ein Schock, zumindest für Anhänger des Söldnerführers in Russland: Am Mittwochabend stürzte ein Privatjet in der Nähe von Moskau senkrecht vom Himmel und krachte auf den Boden. Schnell kursierten Videos im Netz, die brennende Trümmer auf einer Wiese zeigen. Alle zehn Personen an Bord der Maschine seien ums Leben gekommen, teilte später der russische Zivilschutz mit. Unfall oder Mord?
Schnell berichteten russische Medien übereinstimmend: Es war das Flugzeug von Jewgeni Prigoschin. Der Wagner-Chef und einer seiner Kommandeure, Dmitri Utkin, seien tot. Das zumindest berichtet die russische Luftfahrtbehörde. Der Absturz ereignete sich genau zwei Monate nach dem Marsch der Wagner-Söldner auf Moskau, ihrer Revolte gegen die russische Militärführung und Präsident Wladimir Putin. Deshalb ranken sich viele Spekulationen um den Absturz und eine mögliche Verantwortung des Kreml.
Zumindest hatte Putin seinen ehemaligen Chefkoch öffentlich im Juni noch einen "Verräter" genannt. In der Vergangenheit betonte der Kremlchef oft, dass er Verrat nicht toleriere. Deswegen könnte Prigoschins mutmaßlicher Tod nun die Rache sein, die viele Experten nach dem Wagner-Putsch erwartet hatten. Der Absturz fällt in eine Zeit, in der Putin Säuberungsaktionen in der Armee durchführt: In den vergangenen Tagen stellte Putin General Sergei Surowikin – in Russland auch bekannt als "General Armageddon" - kalt. Dieser galt bislang als wichtiger Verbündeter des Kremlchefs.
Unabhängig davon, wer für den Flugzeugabsturz verantwortlich ist, steht eines fest: Viele Menschen in Russland werden den Tod Prigoschins als Machtdemonstration Putins verstehen. Der Kreml wird die Enthauptung der Wagner-Gruppe nutzen, um auch paramilitärische Gruppen enger an die russische Führung zu binden. Das ist durchaus gefährlich, denn durch den Tod Prigoschins droht Chaos – in der Ukraine, in einigen afrikanischen Ländern und in Russland selbst. Um das zu verhindern, muss Putin einen Schuldigen präsentieren – und der sollte bestenfalls nicht im Kreml sitzen.
Prigoschins letzter Auftritt
Zuletzt veröffentlichte Prigoschin ein Video aus Afrika. Der rund 40 Sekunden lange Clip, der ihn in Tarnkleidung und mit Gewehr in der Hand zeigt, sei in einem afrikanischen Land aufgenommen worden, teilte der Telegram-Kanal "Grey Zone" am Montagabend mit. Genauere Informationen wurden nicht genannt.
"Wir arbeiten. Die Temperatur beträgt mehr als 50 Grad", sagte Prigoschin in dem Video. Dann erklärte er, dass seine Wagner-Truppe Aufklärungsarbeiten durchführe – und fügte hinzu: "Sie macht Russland noch größer auf allen Kontinenten. Und Afrika noch freier." Die russischen Kämpfer, die für ihre Brutalität berüchtigt sind, sind in mehreren afrikanischen Staaten aktiv.
Das Video zeigt, warum Putin die Wagner-Söldner in der Vergangenheit brauchte. Sie gingen dorthin, wo reguläre russische Kräfte nicht hingehen konnten oder wollten. Prigoschin führte verdeckte Operationen in Niger, in Mali, in der Zentralafrikanischen Republik, in Libyen oder Syrien durch, um Interessen des Kreml durchzusetzen. Oft trugen die Söldner keine Abzeichen, waren anonym im Auslandseinsatz. Putin konnte öffentlich jede Verwicklung in ihre Operationen abstreiten, obwohl die internationale Gemeinschaft wusste, dass Wagner von der russischen Armee ausgerüstet wurde.
Russland gewann durch Wagner an Einfluss, Putin und Prigoschin wurden mächtiger. Der Gipfel seiner Macht für Prigoschin war die Eroberung von Bachmut in der Ukraine zu Jahresbeginn. Die russische Armee war an dieser Aufgabe gescheitert, Prigoschin posierte mit seinen Söldnern in den Ruinen der Stadt, die über viele Monate hart umkämpft war.
Entmachtung der Wagner-Gruppe
Doch dann zog Putin die Reißleine. Lange Zeit hatte er zugesehen, wie Prigoschin öffentlich Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow attackierte, doch der Kremlchef stellte sich im Frühjahr letztlich hinter seine Militärführung. Wagner-Söldner sollten Armeeverträge unterzeichnen – damit begann Prigoschins Entmachtung.
Die Wagner-Söldner zogen sich aus der Ukraine zurück, einige unterzeichneten Armeeverträge. Demnach könnten die militärischen Folgen von Prigoschins mutmaßlichem Tod für Russland in verschiedenen Konflikten nicht besonders schwer wiegen. Prigoschin ist für Putin ersetzbar geworden, und er braucht aktuell keine Marionette, die schmutzige Aufgaben im Ausland erledigt. Denn durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine liegt das Ansehen Russlands in der Welt ohnehin in Trümmern, der Kreml braucht keine Maskerade mehr.
Die Frage ist lediglich, wie es nun mit Wagner weitergeht. "Sollte sich bestätigen, dass Prigoschin nicht nur auf der Passagierliste, sondern wirklich im Flugzeug war, kann man davon ausgehen, dass bereits geklärt wurde, wer die Wagner-Geschäfte in Afrika übernimmt", schrieb der Sicherheitsexperte Nico Lange auf Twitter.
Prigoschins mutmaßlicher Tod bedeutet nicht automatisch das Ende von Wagner. Bereits wenige Stunden nach dem Absturz gab es Berichte in russischen Medien darüber, dass die verbliebene Führung der Söldnertruppe nun über das weitere Vorgehen berät. Putin wird nach seiner Erfahrung mit Prigoschin die Privatarmeen an der kurzen Leine halten. Die Wagner-Gruppe, wenn sie nicht aufgelöst wird, könnte mit kremltreueren Kommandeuren besetzt werden. Es klingt zunächst danach, als könne Putin seine Kontrolle über alle militärischen und paramilitärischen Kräfte im Land festigen.
Tod stellt Putin vor Probleme
Aber ob das gelingt, ist fraglich. Putins Propaganda hat zwar in den vergangenen zwei Monaten versucht, Prigoschin als Verräter zu denunzieren – teilweise mit Erfolg. Aber der Wagner-Chef war noch immer beliebt, vor allem bei seinen Söldnern und den einfachen Soldaten. Und hier wird es heikel für den russischen Präsidenten.
Auf dem Telegram-Kanal "Grey Zone", der der Wagner-Gruppe nahesteht, finden sich unter der Bekanntmachung des Todes von Prigoschin zahlreiche wütende Kommentare. "Der Mord ist gnadenlos und abscheulich. Nur feiger Abschaum konnte das tun", schrieb ein Nutzer. "Russlands Patrioten haben heute nicht Prigoschin verloren, sondern Putin."
Auch in anderen russischen Telegram-Gruppen schäumen Prigoschin-Anhänger vor Wut. Der russische Kriegsblogger Roman Saponkow warnte die Moskauer Machtelite, die Ermordung Prigoschins werde "katastrophale Folgen" haben. Und fügte hinzu: "Wer auch immer den Befehl dazu gegeben hat, hat von der Stimmung in der Armee und der Moral der Truppe keine Ahnung." (Lesen Sie hier mehr zu der Wut der Wagner-Anhänger.)
Es ist unwahrscheinlich, dass Menschen in Russland für Prigoschin auf die Straße gehen. Trotzdem hat der Kreml ein Problem: Die Wagner-Söldner in Afrika, in Belarus oder auch die russischen Soldaten müssen sich nun hinter die russische Militärführung und damit auch hinter eine mögliche Tötung von Prigoschin stellen. Das ist keineswegs sicher und vieles hängt davon ab, wie der Kreml den Absturz der Maschine erklärt.
Sollte sie wirklich – wie in russischen Militärforen angenommen – durch eine S-400-Flugabwehrrakete abgeschossen worden sein, dann könnte der Kreml nur schwer die Schuld bei der Ukraine oder der Nato suchen. Die Ukraine besitzt diese Systeme nicht und es ist sehr fraglich, ob der ukrainische Geheimdienst nördlich von Moskau zu derartigen Operationen fähig ist.
Letztlich müsste Moskau den Absturz des Flugzeuges umfassend aufarbeiten, damit das Narrativ eines Unfalls oder eines feindlichen Angriffs überhaupt verkauft werden kann. In jedem Fall hat der Tod von Prigoschin das Potenzial, das Durchhaltevermögen und die Moral der russischen Truppen weiter zu schwächen – nicht nur in der Ukraine, sondern auch auf dem afrikanischen Kontinent. Unter seinen Soldaten galt Prigoschin als "vaterländischer Held". Sollte sein Tod nun ein Racheakt von Putin gewesen sein, hat der russische Präsident damit Risse im innenpolitischen Gefüge in Russland riskiert, die am Ende gefährlich für das russische Regime werden könnten.
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- fontanka.ru: Крушение самолета с Пригожиным и Вагнером. Что известно к этому часу (rus.)
- theguardian.com: Prigozhin’s death would leave lasting mark on Russian army and elite (engl.)
- edition.cnn.com: Wagner boss listed among passengers in plane crash as Russia's war continues (engl.)