Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Erdoğan und die Türkei Das ist die bittere Realität
Der Wahlsieg von Präsident Erdoğan ist ein Rückschlag für die Demokratie in der Türkei. Aber die wütenden Reaktionen aus Deutschland zeugen von Arroganz und Naivität. Stattdessen braucht es Verständnis.
Es ist ein Schlag ins Gesicht für jeden Demokraten und auch in Deutschland reagieren viele Beobachter wütend auf das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in der Türkei und äußern ihr Unverständnis. Die türkische Bevölkerung hat erneut Recep Tayyip Erdoğan zum Präsidenten gewählt. Obwohl er ein Despot ist, der sich selbst gigantische Paläste baut. Obwohl er eine große Mitschuld an der fatalen Wirtschaftskrise in der Türkei hat. Obwohl er schon 20 Jahre an der Macht ist und seine Kritiker gnadenlos verfolgt.
Erdoğans Wiederwahl ist ein weiterer Rückschlag für die Demokratie in der Türkei, und das sorgt nun bei vielen für heftige Bauchschmerzen – zu Recht.
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Die Enttäuschung vieler Gegner des Langzeitpräsidenten ist verständlich. Noch nie war eine Niederlage Erdoğans so nah wie bei dieser Wahl, noch nie ein Machtwechsel nach zwei Jahrzehnten so greifbar wie in den vergangenen Wochen. Trotzdem ist es falsch, die Türkinnen und Türken für ihre Wahl zu verurteilen. Das zeugt von Arroganz und Naivität.
Kein fairer Wahlkampf
Zunächst einmal ist es eine Frage des Respekts und des Anstands, das Wahlergebnis zu akzeptieren. Klar: Der Wahlkampf war nicht fair. Erdoğan hat die Medienwelt weitestgehend unter die Kontrolle der Regierung gebracht und die Opposition ist bei Weitem nicht so präsent in den Nachrichten wie er. Ein großer Nachteil.
Die Wahrheit ist: Erdoğan geht seit Jahrzehnten gegen Demokratie und Meinungsfreiheit vor, aber der deutschen Politik ist das oft relativ gleichgültig. Wenn in der Türkei gewählt wird, es um Flüchtlingsrouten geht oder wenn die türkische Regierung einen internationalen Konflikt eskalieren lässt, schaut der Westen auf die Türkei. Kritik am Präsidenten kann für den Westen teuer werden, weil er ein wichtiger strategischer Partner ist. Deswegen mischt sich die EU kaum in innenpolitische Angelegenheiten der Türkei ein, egal, was Erdoğan tut. Das ist die bittere Realität.
Und: Nicht alles bei dieser Türkei-Wahl war schlecht. Immerhin lag die Wahlbeteiligung bei über 80 Prozent, davon können viele westliche Demokratien nur träumen. Auch wenn es vielen Menschen in Deutschland nicht gefällt: Erdoğan hat einen großen Rückhalt in der türkischen Bevölkerung und unter den türkischstämmigen Menschen in der Bundesrepublik. Es ist einfach, das zu verurteilen. Schwierig dagegen ist es, die Gründe dafür zu verstehen.
Doch wenn man die Demokratie in der Türkei fördern und die Integration in Deutschland verbessern möchte, braucht es zunächst eben dieses Verständnis. Wut allein sorgt für keine Veränderung, weder in der Türkei, noch in der EU. Integration funktioniert nur bei gegenseitigem Verständnis.
Erdoğan spielt mit Ängsten
Erdoğan hat einen Angst-Wahlkampf geführt. Seine Partei schürte die Furcht vor politischem Chaos nach einer möglichen Machtübernahme durch die Opposition und vor der Verfolgung von gläubigen Muslimen in der Öffentlichkeit. Diese Angstbotschaften können nur gesellschaftlich verfangen, weil diese Sorgen innerhalb der türkischen Bevölkerung tatsächlich existieren. Und das nicht ohne Grund.
Viele gläubige Muslime in der Türkei erlebten vor Erdoğan die politische Unterdrückung ihres Glaubens, sie erlebten Militärputsche, sie erlebten Chaos. Auch weil viele türkischstämmige Familien in Deutschland im Vergleich zu Familien in der Türkei gläubiger sind, hat die AKP in der Bundesrepublik noch mehr Rückhalt. Die Gründe für die Wahl Erdoğans liegen oft in der Familienbiografie, nicht in einer Verachtung der Demokratie.
Der türkische Präsident hat gelernt, die Narben bei vielen Türkinnen und Türken schamlos politisch für sich zu nutzen – mit dem Befeuern von Angst und Spaltung. Das ist eine billige Strategie, die aber auch nur funktioniert, weil es der Opposition nicht gelingt, die Sorgen vieler Menschen zu zerstreuen.
Die Opposition hat Fehler gemacht. Es taten sich Parteien zusammen, deren einzige Gemeinsamkeit es war, Erdoğan besiegen zu wollen. Wie sollte das nicht in einem Chaos enden, wenn diese Parteien aus dem gesamten politischen Spektrum erst einmal gemeinsam regieren sollen? Die Zweifel an dem Gegenmodell zu Erdoğan waren berechtigt.
Mehr politische Integration der Türkei
Der Opposition ist es im Wahlkampf nicht gelungen, ein gemeinsames politisches Konzept aufzustellen. Ihr einziger Trumpf war Erdoğans Unfähigkeit, die Wirtschaftskrise zu bekämpfen. Das war zu wenig, um eine Wahl zu gewinnen.
Stattdessen versuchte der CHP-Kandidat Kemal Kılıçdaroğlu im Wahlkampfendspurt rechtsnationale Gruppen anzusprechen, indem er gegen Geflüchtete hetzte. Ein Verzweiflungsakt, um diese Wahl am Ende doch noch zu gewinnen. Es ging ihm um Macht, nicht um Werte. Das war auch eine Warnung für Deutschland und die EU, dass es nach Erdoğan nicht unbedingt in allen Punkten automatisch besser wird.
Letztlich ist Erdoğans Wiederwahl auch eine Lektion für den demokratischen Westen. Kein Wandel kommt ohne Mühe, auch in der Türkei nicht. Viele türkische Demokratinnen und Demokraten hoffen auf Unterstützung, aber dafür müssen die EU und auch Deutschland mehr demokratische Anreize setzen.
Es braucht in Europa ein größeres Interesse an der politischen Integration der Türkei, einen intensiveren kulturellen Austausch. Es geht auch darum, einen gemeinsamen Grundstein für eine Zeit nach Erdoğan zu schaffen. Wut und ein erhobener Zeigefinger nach einer Wahl reichen nicht aus.
- Eigene Recherche