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Türkei-Wahl 2023: "Präsident Erdoğan hat jetzt gute Karten"


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Wahlen in der Türkei
"Die Kassen sind leer"

InterviewVon Patrick Diekmann

15.05.2023Lesedauer: 5 Min.
Recep Tayyip Erdoğan: Der Amtsinhaber lag bei der Präsidentschaftswahl vorn.Vergrößern des Bildes
Recep Tayyip Erdoğan: Der Amtsinhaber lag bei der Präsidentschaftswahl vorn. (Quelle: IMAGO/AK Party Office\ apaimages/imago-images-bilder)
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Wo war die erwartete Wechselstimmung in der Türkei? Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan geht Ende Mai mit einem Vorsprung in die Stichwahl. Bei der Opposition schwindet die Hoffnung.

Die Umfragen lagen falsch. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat im ersten Wahlgang bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei am 14. Mai die absolute Mehrheit zwar verfehlt – aber er liegt deutlich vor seinem ärgsten Konkurrenten, dem CHP-Politiker Kemal Kılıçdaroğlu. Und es erscheint unwahrscheinlich, dass der Amtsinhaber diesen Vorsprung bis zur Stichwahl am 28. Mai verliert. Mehr zu den Erkenntnissen der Türkei-Wahl lesen Sie hier.

Wie konnte es so weit kommen? Steckt die Türkei nicht seit Jahren in einer schweren Wirtschafts- und Währungskrise, an der auch Erdoğans Regierung eine Teilschuld trägt? Der Türkei-Experte Kristian Brakel erklärt, warum es in der Türkei erneut keine große Wechselstimmung gab und viele Türkinnen und Türken ihr Kreuz erneut bei dem Langzeitpräsidenten machten.

t-online: Herr Brakel, die Präsidentschaftswahl in der Türkei steuert auf eine Stichwahl zu. Im Vorfeld sahen Umfragen Kemal Kılıçdaroğlu vorne. Warum kam nun wieder alles anders?

Kristian Brakel: Das hat viele Gründe. Leider sind Umfragen in der Türkei nicht besonders zuverlässig und bei dieser Wahl lagen sie völlig daneben. Dass es so krass sein würde, damit hätte niemand gerechnet. Es gibt anscheinend viele Menschen, die in Umfragesituationen nicht ihre wahre Meinung sagen.

Kristian Brakel ist Leiter des Istanbuler Büros der Heinrich-Böll-Stiftung.
Kristian Brakel ist Leiter des Istanbuler Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. (Quelle: Mika Redeligx/dpa)

Kristian Brakel leitet das Büro der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Zuvor arbeitete er als politischer Analyst für verschiedene Nichtregierungsorganisationen, die Vereinten Nationen und die EU im Nahen Osten und Nordafrika.

Warum war die Wechselstimmung im Land trotz der anhaltenden Wirtschaftskrise so gering?

Das Ziel des Verfassungsreferendums 2017 war es, die politische Dominanz von Erdoğan und des konservativ-religiösen Blockes zu zementieren. Das ist gelungen, wie auch diese Wahl gezeigt hat. Die Opposition konnte zwar ein breites Wahlbündnis schmieden, aber auch das hat nicht gereicht.

Warum nicht?

Es gibt einen großen Anteil an Hardcore-Anhängern der AKP, die Erdoğan für die Wirtschaftskrise nicht wirklich die Verantwortung geben. Außerdem fehlt bei vielen Menschen wahrscheinlich der Glauben, dass es die Opposition besser machen kann. Wenn Wählerinnen und Wähler nicht wirklich denken, dass die wirtschaftlichen Probleme alle hausgemacht sind, wählen sie auch nicht Opposition.

Wie ausschlaggebend war denn die Wirtschaft für die Wahlentscheidung?

Schwer zu sagen. Bei der hohen politischen Polarisierung in der Türkei war diese Wahl auch eine ideologische Wahl. Für viele konservative Muslime zum Beispiel ist die Opposition nicht wählbar und sie bleiben eher bei dem Kandidaten, den man kennt. Hinzu kommt, dass Erdoğan als Amtsinhaber von diesem System enorm profitiert, weil das System von Patronage getragen wird und nur er diese glaubhaft verteilen kann.

Zum Beispiel?

Die staatlichen Sozialhilfen und Zuschüsse sind zum Beispiel in den vergangenen Jahren explodiert. Die AKP erzählt den Leuten: Nun könnte die Opposition diese Zuwendungen streichen, wenn sie an die Macht kommt. Das sind Faktoren, die eine Rolle spielen.

Und das reicht im Angesicht des extremen Währungsverfalls aus, um weiterhin Erdoğan zu wählen?

Die Wahlentscheidung hat viel mit Identitätspolitik zu tun. Trotz der Wirtschaftskrise haben sich die Wahlergebnisse für die Parteien nicht stark verändert. Wenn Sie ein strikter und religiöser AKP-Wähler sind, dann ist es für Sie ein No-Go, die CHP zu wählen. Die Veränderungen kommen meistens durch Erstwähler oder Menschen, die vorher nicht zur Wahl gegangen sind. Deswegen ist da sehr wenig Bewegung drin. Die AKP hat zwar verloren, aber vor allem an die rechtsextreme MHP. Wechselwähler stimmen demnach oft für eine Partei aus dem gleichen politischen Block.

Die Jubelbilder und die Selbstinszenierung am Wahlabend sprachen dafür, dass sich Erdoğan schon als Sieger fühlt. Meinen Sie, dass die CHP noch an einen Sieg glaubt?

Nein.

Wird die Stichwahl nicht spannend?

Die Führung für Erdoğan lag im ersten Wahlgang bei knapp 4,5 Prozent und AKP und MHP haben eine sehr stabile Mehrheit im Parlament. Es ist schwer vorstellbar, dass sich da bei der Stichwahl eine signifikante Änderung ergibt.

Das klingt nach Vorentscheidung.

Erdoğan hat jetzt gute Karten und für die Opposition wird es extrem schwierig. Die Frage ist nun, für welchen Kandidaten sich die Anhänger des Nationalisten Sinan Oğan nun entscheiden werden. Es ist wahrscheinlicher, dass die sich dem Erdoğan-Lager zuneigen.

Lief der erste Wahlgang denn weitestgehend fair ab?

Es gibt immer wieder Berichte über Unregelmäßigkeiten, aber das Ergebnis lässt nicht wirklich den Schluss zu, dass es zu massiven Fälschungen gekommen wäre. So sollen zum Beispiel manche Ergebnisse erst spät eingetragen worden sein, aber das Endergebnis scheint am Ende doch so zu sein wie von den Staatsmedien verkündet.

Das Wahlergebnis weckt auch Zweifel am Spitzenkandidaten. War es richtig von der Opposition, Kılıçdaroğlu ins Rennen zu schicken?

Er ist mit Sicherheit der Kompromisskandidat. Den CHP-Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş zum Beispiel, hätte die pro-kurdische HDP nicht akzeptiert. Mit ihm hätte die HDP einen eigenen Kandidaten aufgestellt und dann wäre das Ergebnis für die Opposition noch desaströser geworden. Es ist aber nicht nur eine Personenfrage.

Sondern?

Diese Wahl in diesem System Erdoğan zeigt doch, dass es sehr schwierig ist, einen Wandel herbeizuführen. Selbst eine weitestgehend geschlossene Opposition hat es nicht geschafft. Das sind schwierige Verhältnisse.

Erdoğan ist schon seit mehr als 20 Jahren an der Macht. Gibt es in der Türkei überhaupt eine Vorstellung von einer Zukunft nach dem Langzeitpräsidenten?

Das ist sicherlich ein Problem. Erdoğan hat viele Jahre geprägt und für viele Menschen ist es wahrscheinlich schwierig, sich bei Wahlen nun für etwas völlig anderes auszusprechen. Deswegen kann ich mir gut vorstellen, dass viele Wählerinnen und Wähler gedacht haben: "Wir wählen besser den Teufel, den wir kennen."

Die AKP hat auch Wahlwerbung damit gemacht, dass mit der Opposition das Chaos einziehen würde. Zum Beispiel wurde behauptet, dass Musliminnen mit Kopftuch nicht mehr in Universitäten gelassen werden. Gibt es in der türkischen Gesellschaft diese Ängste?

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Ja, auf jeden Fall. Die Frage ist, wie groß die Gruppe von Menschen ist, die sich von diesen Ängsten in ihrer Wahlentscheidung beeinflusst lässt. Es gab Straßenumfragen, in denen vor allem auch Musliminnen sich sorgten, dass die Opposition beispielsweise Moscheen dicht machen würde.

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Während Erdoğan in die Stichwahl muss, hat seine AKP im Parlament zusammen mit der MHP wieder eine Mehrheit. Könnte Kılıçdaroğlu überhaupt regieren, wenn er doch gewinnen sollte?

Es würde schwieriger für ihn werden, aber durch die Machtfülle des türkischen Präsidenten wäre das auf jeden Fall möglich. Aber es wäre das Gegenteil der versprochenen Stärkung des Parlaments. Die AKP wird im Wahlkampf aber nun behaupten, dass es Chaos für die Türkei bedeuten würde, wenn beide Institutionen in den Händen unterschiedlicher politischer Kräfte sind. Auch das spricht dafür, dass Kılıçdaroğlu seinen Rückstand auf Erdoğan nicht aufholen kann.

Abschließend vielleicht noch einen Blick auf die internationale Bedeutung der Wahl: Wird sich die türkische Außenpolitik ändern, wenn Erdoğan gewinnt?

Es ist zu erwarten, dass Erdoğan seinen Kurs beibehält. Nur wirtschaftspolitisch kann es nicht mehr so weitergehen. Die staatlichen Kassen sind leer und das Geld muss irgendwo herkommen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Brakel.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Kristian Brakel
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