Rekrutierte Häftlinge Wagner-Kämpfer berichten: "So viel Adrenalin"
Zehntausende Häftlinge aus russischen Gefängnissen rekrutierte die Wagner-Gruppe für die Kämpfe in der Ukraine. Einige sprachen nun über ihre Erfahrungen.
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Sie sollten die hohen Verluste in der Ukraine ausgleichen: Die russische Söldner-Gruppe Wagner hat in den vergangenen Monaten schätzungsweise 50.000 Gefängnisinsassen rekrutiert. Der Deal: Sie kämpfen sechs Monate in der Ukraine, dafür wird ihnen ihre Reststrafe erlassen – sollten sie überleben.
Die US-Nachrichtenagentur Reuters hat fünf Russen interviewt, die direkt aus der russischen Haft in die Ukraine gingen. Ihre Aussagen sind mit Vorsicht zu genießen, die Männer drückten in den Interviews ihre große Loyalität gegenüber Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin aus. Auch über eigene Taten und konkrete Vorfälle reden die Rekruten nicht – dabei gibt es zahlreiche Hinweise und Berichte über Gräueltaten und Kriegsverbrechen der Wagner-Söldner in der Ukraine. Doch geben ihre Aussagen einen Einblick in die Rekrutierungsstrategie und die Vorgehensweise der Wagner-Gruppe im Ukraine-Krieg.
Die Rekrutierung
Vier der fünf Männer sagten den Reuters-Reportern, sie seien direkt von Wagner-Chef Prigoschin rekrutiert worden. Dieser war von Gefängnis zu Gefängnis gereist, um Insassen anzuwerben. Er habe ihnen eine zweite Chance gegeben, sagten die Männer in den Interviews.
Einer von ihnen ist Rustam Borowkow, der wegen Totschlags und Diebstahls eine 13-jährige Haftstrafe antrat. Er beschreibt den Prozess so: Prigoschin kam im vergangenen Juli in das Gefängnis nahe der estnischen Grenze. Er habe dort eine Rede gehalten, der mehrere Hundert Insassen beiwohnten. Die hätten daraufhin drei Tage Zeit gehabt, sich zu entscheiden. Rund 40 hätten sich gemeldet. Mithilfe eines Lügendetektortests sollen noch Drogensüchtige ausgesiebt worden sein, der Rest befand sich nach Ablauf der Frist auf dem Weg in die Ukraine. "Ich wusste sofort, dass ich gehen würde, noch bevor er zu uns kam", sagte der 31-jährige Borowkow. Seine Motivation sei seine Familie gewesen: "Ich habe ein kleines Kind. Ich wollte zu meiner Familie zurückkehren."
Ein anderer erzählt, er habe sich aus einem Gefühl patriotischer Verpflichtung gemeldet. Der verurteilte Dieb hatte mehr als die Hälfte seiner Strafe bereits abgesessen, meldete sich dennoch. Er habe zwei Wochen Bedenkzeit bekommen und sei in der Zeit in einem anderen Trakt des Gefängnisses untergekommen, in dem die Wärter ihn nach eigener Aussage mit neuem Respekt behandelten.
Die Männer schildern einen respektvollen Umgang, es gibt allerdings auch gegenteilige Berichte. In sozialen Medien tauchte etwa ein Video einer solchen Gefängnisansprache Prigoschins auf, wie Reuters berichtet. Darin gibt er den Insassen nur fünf Minuten Entscheidungszeit: Wer seine Zusage danach zurückziehe, werde als Deserteur erschossen.
In einem anderen Video verspricht er neben der Begnadigung einen Monatslohn von 100.000 Rubel (1.220 Euro) im Monat – der Durchschnittslohn in Russland liegt bei 65.000 Rubel.
Die Ausbildung
Darauf folgte eine Ausbildung, die nach Aussage der Männer kurz, aber intensiv gewesen sei – von zwei bis drei Wochen ist die Rede. Die Ausbilder seien teilweise Veteranen aus russischen Spezialeinheiten gewesen. "Alles war auf höchstem Niveau organisiert", sagte Borowkow dazu.
Die interviewten Männer sagten Reuters, die meisten Rekruten hätten militärische Vorerfahrung besessen, etwa weil sie Wehrdienst geleistet oder als Berufssoldaten gedient hätten. Zwei sagten aus, dass Häftlinge mit den meisten Militärerfahrungen zu Kommandanten ernannt wurden.
Von ukrainischer und westlicher Seite heißt es, Wagner schicke die Männer schlecht vorbereitet – als Kanonenfutter – in den Kampf. Eine Ausbildung von zwei bis drei Wochen sei schlicht zu kurz, um die Rekruten richtig auszubilden – selbst wenn sie über militärische Vorerfahrung verfügen. Nach US-Erkenntnissen waren bis Mitte Februar etwa 9.000 Wagner-Rekruten getötet worden. Die russische Nichtregierungsorganisation "Russland hinter Gittern" sprach im Januar davon, dass lediglich noch 10.000 der rekrutierten Häftlinge in der Truppe seien, der Rest sei "getötet, verletzt, verschollen", habe sich ergeben oder sei desertiert. Hier lesen Sie mehr dazu.
Prigoschin antwortete auf eine entsprechende Anfrage von Reuters, die Fragen dazu seien "verrückt." Bereits zuvor hatte er abgestritten, dass es unter den Wagner-Söldnern eine höhere Todesrate gebe als in anderen russischen Einheiten.
Wagner-Kämpfer besonders in Bachmut aktiv
Wagner ist derzeit besonders aktiv rund um die Kleinstadt Bachmut im Ostern der Ukraine. Dort tobt derzeit eine der blutigsten Schlachten, mit hohen Verlusten auf beiden Seiten. Die ukrainische und westliche Seite wirft Prigoschin vor, an dieser Stelle der Front die Sträflinge förmlich zu verheizen, etwa als "Menschliche Welle".
Darunter versteht man eine Infanterietaktik: Eine große Zahl von Soldaten führt dabei einen Angriff durch, ohne dass sie geschützt sind. Der Erfolg soll durch die große Menge an Soldaten erreicht werden, es wird in Kauf genommen, dass viele dabei ums Leben kommen. Auch deswegen vergleichen Beobachter die Schlacht rund um Bachmut mit dem Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg.
Drei der fünf interviewten Rekruten gaben an, in Bachmut gekämpft zu haben. Über Wagners Aufgabe vor Ort spricht Prigoschin offen: Seine Männer sollten die ukrainischen Kräfte ausbluten lassen, Bachmut bezeichnet er als "Fleischwolf". Die Schilderungen der Interviewten gehen an dieser Stelle auseinander. Einige beschreiben den Kampf als Adrenalinschub. So etwa der 22-jährige Andrej Jastrebow, der wegen Autodiebstahls im Gefängnis saß. "So viel Adrenalin. Ich wünschte, alle echten Männer würden sich Wagner anschließen. Das kannst du schreiben. Die Ukrainer sind gerannt und Wagner hat sie fertig gemacht."
Der verurteilte Entführer Dimitri Jermakow beschreibt auch andere, weniger verherrlichende Szenen. Einige Kämpfer konnten mit der Situation vor Ort nicht umgehen. "Was sehen sie dort? In Stücke gerissene Leichen. Und was machen sie dann? Einige von ihnen erbrechen, einige weinen, und einige wollen nicht aus dem Graben klettern. Die Angst nimmt überhand."
Jermakow selbst habe nach vier Tagen eine schwere Verletzung am Arm und seiner Leiste erlitten. Den letzten Tag an der Front beschreibt er als "absolute Hölle": Er habe 24 Stunden auf dem Boden gelegen, weil sie durchgehend beschossen worden seien. Auch ein anderer Rekrut sagte Reuters: "In einem Krieg liegt man fast immer flach auf dem Boden. Das ist die einzige Möglichkeit, zu überleben". Als er sich nach zwei Monaten verletzte, sagten die anderen ihm: "Happy Birthday", weil er so dem Tod entgangen sei.
Reuters zufolge sind vier der fünf Gesprächspartner schwer verletzt worden. Borowkow etwa wurde der Arm amputiert, er trägt nun eine Prothese. Ihre Begnadigung sollen sie dennoch bekommen, obwohl sie nicht die vollen sechs Monate kämpften. Jermakow sagte Reuters, er könne sich nach seiner Genesung vorstellen, wieder für Wagner in den Einsatz zu gehen, etwa nach Syrien, Libyen oder in die Zentralafrikanische Republik.
- reuters.com: Wagner’s convicts tell of horrors of Ukraine war and loyalty to their leader